Ball, Ernst Friedrich - Tekel, das ist: Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden

Ball, Ernst Friedrich - Tekel, das ist: Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden

Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Wir feiern heute, geliebte Zuhörer, das sogenannte Totenfest, den Tag des Andenkens an die im verflossenen Jahre aus unserer Mitte Verstorbenen, ein erneuertes Andenken ihres Todes und gleichsam eine neue Leichenpredigt über sie. Ja, es ist der ernste Gedenktag unsers eigenen Todes, die Leichenpredigt über uns selbst, die er bringt. Jener große und mächtige König und Kaiser, Karl V., derselbe, der sich in jüngern Jahren mit List und Gewalt Luther und der Reformation widersetzte, legte im Alter alle seine Kronen nieder, stieg nach und nach von allen seinen Königs- und Kaiserthronen herab, legte sich noch bei Lebzeiten in einen Sarg, ließ dann an diesem offenen Sarg, als wäre er schon gestorben, die Leichenpredigt über sich halten. Für ihn wenigstens hatte diese seltsame Handlung den Nutzen, dass ihm von da, an die Lehre von der freien Gnade und von der Rechtfertigung des armen Sünders allein durch den Glauben überaus wert wurde, dieselbe Lehre, die er früher in Luther verfolgt hatte, so dass er seitdem gern solche Männer um sich hatte, solche Bücher las, die von ihr redeten. Und freilich, man sollte auch meinen, diese Lehre müsste, wenn irgendwo, vor und in dem Sarg die Herzen aller Menschen gewinnen! So rührend es nun auch immerhin sein mag, zu hören, dass der mächtigste und größte aller irdischen Potentaten sich noch bei Lebzeiten alles seines Glanzes begibt und sich zwischen jene vier Bretter legt, die doch endlich auch der herrlichsten Könige letztes Haus bilden, so habe ich doch keineswegs vor, sein Beispiel euch, lieben Zuhörer, zur buchstäblichen Nachfolge vorzuhalten. Nur das bleibt allerdings wahr, dass wir meistens viel zu spät unsere Leichenpredigt halten lassen, dann nämlich, wenn wir wirklich schon eine Leiche sind und alles, was von unserm Trost im Leben und im Sterben gesagt wird, für uns selbst nichts mehr nützt, uns zu warnen oder zu belehren. Wir müssen, entsetzt euch nicht! schon bei Leibesleben unsere Leichenpredigt hören. Ehe der Tod wirklich uns in den Sarg wirft, müssen wir uns selbst schon im Geist hineingelegt haben und von daher, vom Sarg heraus uns und unser Leben, unsere Buße und unsern Glauben, Gott und unsere Hoffnung, die Welt und ihre Reize, die Sünde und die Gnade, die Hölle und den Himmel kurz alles um uns, vor uns, über uns, in uns angesehen haben; und ich versichere euch, vom Sarg aus dies alles angesehen, sieht es alles viel, viel anders aus, als es uns sonst erschien.

Nun, Geliebte, was dünkt euch? Sollte es euch wohl genehm sein, das heute zu tun? Heute wird unsere Leichenpredigt gehalten. Du, ich, jeder denke, er wäre der Gestorbene, und all die Anwesenden wären hinter seinem Sarg zum Kirchhof gezogen und kämen jetzt eben von dort her, um die Leichenpredigt zu hören. Aber welcher Leichentext wird es sein? Etwa der Offenb. 14,13: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben?“ Aber passt er für dich? Das weiß Gott! Oder jene schauerliche Stelle von dem reichen Manne, Lucas 16? Mag sie noch immer an manchem Wahrheit werden, für alle passt sie doch wieder nicht. Welchen Text nehmen wir denn? Den wohl am passendsten welchen wir lesen: Daniel 5,27:

“Tekel, das ist: Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden.“

Wenigstens wird uns die Betrachtung dieser Stelle etwas bieten, das bei jeder Leiche zu beherzigen ist, und Stoff genug zu der ernsten Betrachtung geben, der wir heute, an dem Gedenktage unsers Todes bedürfen.

Doch vorab lasst mich euch den Zusammenhang offenlegen, worin diese auffallenden Worte vorkommen. Belsazar, der Nachfolger des chaldäischen Königs Nebukadnezar, hatte in frevelndem Übermut bei einem nächtlichen Gelage seines Hofes die heiligen Gefäße, die aus dem Tempel zu Jerusalem geraubt waren, zu Trinkgeschirren missbraucht. In sorgloser Lustigkeit, in tobender Ausgelassenheit hatte er mit den Gesellen seiner Lust schon einen Teil der Nacht durchschwelgt. Siehe, da bricht plötzlich eine Hand durch das Gemäuer; Finger, gleich einer Menschenhand, gespenstisch anzusehen, schreiben gerade neben dem großen hellen Leuchter die geheimnisvollen Worte: Mene Mene Tekel Upharsin. Und der König ward gewahr der Hand, die da schrieb. Da entfärbte sich der König, und seine Gedanken erschreckten ihn, dass ihm die Lenden schütterten und die Beine zitterten. Und überlaut ruft der bebende Wüstling nach Weisen, Chaldäern und Wahrsagern, dass sie eilend kommen in das Trinkgemach und die schauerliche Schrift dort an der getünchten Wand lesen und deuten. Purpurne Kleider, goldene Ketten, ja die dritte Stelle im Königreich alles bietet der bleiche Sünder dem, der die Schrift deuten und dem Gewissen Ruhe geben kann, aber umsonst, keiner der Weisen vermag es. Da ward der König noch bekümmerter und verlor gänzlich seine Gestalt, und seinen Gewaltigen ward bange, die Trunkenen werden nüchtern, die Unruhe wird immer größer, und wie ein heimliches Gerücht dringt es bis in das Gemach der alten Königin. Sie geht hinauf und erinnert an einen alten, vergessenen Mann, an Daniel, den Propheten Gottes. Auch der wird mitten in der Nacht geholt, auch dem bietet der feige Sünder seine Ketten und Kleider, aber es spricht der ehrwürdige Greis: Behalte deine Gaben selbst, und gib dein Geschenk einem andern, ich will dennoch dem Könige die Schrift lesen und anzeigen, was sie bedeutet. Das ist aber die Schrift allda verzeichnet: Mene Mene Tekel Upharsin. Und sie bedeutet dies: Mene, d. i., Gott hat dein Königreich gezählt und vollendet; Tekel, d. i., man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden! Peres, d. i., dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben. Da befahl Belsazar, dass man Daniel mit Purpur kleiden sollte und goldene Ketten an seinen Hals geben, und ließ von ihm verkünden, dass er der dritte Herr sei im Königreich. Aber des Nachts, in derselben Nacht noch ward der Chaldäer König Belsazar getötet, und die Perser und Meder nahmen das Reich ein. Jenes Wort war Belsazars Leichentext. Ist es auch der unsrige? Das ist eine ernste Frage, und unsere Predigt soll zu ihrer Beantwortung Hilfe tun.

Du bist auf einer Waage gewogen! Ein ernstes Wort! Sollte es auch an unserm Sarg gelten? Allerdings, Geliebte! Und wenn heute unsers Königs Leiche oder die des ärmsten Bettlers in seinem Reich dort auf der Bahre vor uns stände, wir müssten ebenmäßig über beide sprechen: Man hat sie auf einer Waage gewogen! Der Frömmste oder der Ruchloseste unserer Gemeinde, wäre heute eines derselben Leichenbegängnis, der Mund der Wahrheit spräche aus demselben: Jetzt, jetzt ist er auf einer Waage gewogen. Diese Waage aber ist das Gericht Gottes, vor dem jedermann stehen muss. Da gilt kein Unterschied; es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben und danach das Gericht (Ebr. 9,27): denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeglicher empfahe nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse. (2. Kor. 5,10.) Irrt euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten! Was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird vom Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird vom Geist das ewige Leben ernten. (Gal. 6,7.8.) Wir werden alle vor dem Richterstuhl Christi dargestellt werden, welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken: nämlich Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben; aber denen, die da zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit: Ungnade und Zorn, Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun. (Römer 14,10. Kap. 2,6-9.)

Seht, ihr Geliebten, das sind Zeugnisse des wahrhaftigen Gottes und sie bezeugen: Es gibt allerdings solche Waage, auf der jeder Mensch gewogen wird. Gott ist es, der sie in seiner Hand hält, Gott wägt, Gott richtet. Gott, der Allwissende, der Heilige, der mit den Feuerflammen im Auge, die kein Schein trügt, keine Heuchelei besticht, kein Ansehen der Person irrt, vor dem keine Kreatur unsichtbar ist, es ist aber alles bloß und entdeckt vor seinen Augen, von dem reden wir. Dieses Wägen und Richten geschieht alsbald nach dem Tod. Es gibt freilich noch ein letztes, allgemeines Gericht am jüngsten Tag, vorab aber wird schon im Augenblick des Todes ein vorläufiges Gericht abgehalten, ein Urteil gesprochen und in Vollzug gesetzt. (Luc. 16,19. u. f. Kap. 23,43.)

Wenn wir dich, wer du auch bist, der dies hört, (wer weiß wie bald!) als Leiche hierherbringen, dann wenn dein Leib im Sarg liegt, liegt die Seele auf der Waage des göttlichen Gerichts, und das entscheidet, ob sie alsbald zu Christum ihrem Haupte aufwärts, oder ob sie abwärts fährt zu dem Orte des Heulens und Zähneklappens, ob sie wie Lazarus von den Engeln in Abrahams Schoß getragen wird, oder wie der reiche Mann an dem Orte der Qual sich wiederfindet. Sobald man hier über dich oder mich die Leichenpredigt hält, heißt es: Du bist gewogen! Von dir, von mir sagt dann der Prediger: Liebe Zuhörer, man hat den Verstorbenen gewogen, jetzt ist er auf einer Waage gewogen und und nun wie wird es dann weiter heißen? und zu leicht befunden? Wird es so heißen? Ach, lasst uns doch zusehen!

Wir sterben. Die Seele erwacht in der Ewigkeit. Da steht Gott vor ihm mit seiner unparteiischen Waage.

Das Gericht beginnt. Die Waagschale wird gefüllt. In die eine legt Gott seine Gebote - hier diese Gebote, dieses Wort Gottes. Du magst sie, o Mensch, geglaubt oder verspottet haben hier unten auf Erden. Diese Gebote kommen hinein, und es ist ein schweres Gewicht; die Waage sinkt. Ein neues Gewicht legt Gott noch hinzu, seine Gnadenbeweise, die Wohltaten, die er von Kind auf dir erwiesen, wie er dich geboren werden ließ, dich nährte, kleidete, bewahrte; die vielen, vielen Freuden, die er in diesem Leben dir bot, die mannigfachen Errettungen und Segnungen - alles, alles, was dein Schöpfer und Erhalter jeden Tag deines Lebens dir tat, das tägliche Heil, das ich, das du nicht alles zählen kannst, es kommt in die Waagschale, und siehe, wie sie sinkt! Noch ein neues Gewicht! Es sind die geistlichen Segnungen, die mit der heiligen Taufe schon in der Wiege begonnen, die frommen Eltern und Lehrer, die er dir gab, die vielen Predigten, die du hörtest, die Bibel, andere gute Bücher, die du im Hause hattest, jedes Abendmahl, das du genossen oder verschmähtest, jedes Wort der Buße, das dir ins Ohr schallte, die Krankheiten, die Leiden, womit Gott dich zu sich ziehen wollte, die Überzeugungen, die dir Tränen auspressten, die Rührungen, die dein Herz empfand, der gute Umgang, den er dir zuführte, die Gelegenheiten alle zum Guten, die. er dir durch Temperament, Vermögen, Stellung, Kräfte rc. darbot, die Arbeit des Heiligen Geistes an deinem Herzen alles dies, ja dies alles, alles kommt in die Waagschale. O! wie sinkt sie unter diesem Berg von Wohltaten Gottes so tief, so schwer hinab!

Und nun schaue! Da tritt endlich noch einer zu der gefüllten und so tief gesunkenen Schale, einer, anzusehen wie eines Menschen Sohn, die Wundenmale an den Händen. und Füßen, den Blutschweiß Gethsemanes, die Dornenkrone Golgathas an seiner Stirn, der kommt und legt sein Blut in die Waage, das da vergossen ist zum Lösegeld für viele und spricht: Das tat ich für dich, was tatest du für mich? O, liebe Zuhörer, da, da ist es, als ob die Waagschale unter der Zentnerlast dieses Blutes, als ob sie in den Abgrund hineinsinken wollte!

Das alles liegt schwer auf der einen Schale der Waage, und nun, o Mensch, tritt zur andern! Du sollst gewogen werden. Was hast du gegen dieses Gewicht von dem Deinen hineinzulegen? In diesem Augenblick, Geliebte, denkt, wir wären alle Tote, abgeschiedene Geister und ständen dort in der Ewigkeit vor Gott, vor der Waage seines Gerichts - wer will sich wiegen lassen? wer will der Erste sein? Keiner? Doch am meisten Mut scheinst du dort mir zu haben. Du bist dir ja deiner Rechtschaffenheit, deiner Ehrlichkeit und Biederkeit bewusst; du trittst, wenn gleich nicht gerade keck, doch ohne Scheu hinzu und wirfst in die Waage alle deine guten Werke, dein gutes, braves Herz, deine redliche, biedere Seele, deinen unbefleckten Wandel, das alles wirfst du hinein, aber was ist das? Es ist ja, als ob du Federn hineinwürfest. Die Schale bewegt sich nicht einmal.

Dein Kirchengehen, deine regelmäßigen Abendmahlsgänge, deine pünktlichen Morgen- und Abendsegen, dein Bibellesen, deine Almosen und derlei noch mehreres holst du herbei. Aber siehe, ehe du dies noch in die Waage legen kannst, zieht der Herr davon ab, was du nur um der Leute, um der lieben Ehre, um des Vorteils willen tatest, und was dein Temperament so mit sich brachte, und was dann noch übrig bleibt, Gewichtiges ist es wahrlich nicht mehr, Spreu, die der Wind zerstiebt. Du berufst dich auf deine Gesetzerfüllung: du hast nicht gemordet, nicht die Ehe gebrochen, nicht gestohlen und dergleichen Aber siehe, ehe du dies noch hineinwerfen kannst, rührt Gott mit seinem Finger an seine Gebote, und sie strahlen im geistlichen Sinne und deuten auf den Hass des Herzens, der ein heimlicher Totschlag ist, auf das lüsterne Auge, das Ehebruch heißt, und siehe! da verwandeln sich deine Gesetzerfüllungen in Übertretungen, seine Schale sinkt, die deine steigt. Endlich bringst du doch noch deine Leiden herbei, wie du hier auf Erden doch so viel ausgestanden und damit den Himmel doch wohl verdient habest; aber Gottes ernste Hand wirft sie hinaus und spricht: Alle deine Leiden waren wohlverdiente Strafen. Er erinnert dich an dein inneres Murren, an deine Ungeduld, an deinen Hochmut unter dem Leiden, und nun ist es auch damit nichts. Und nun nun hast du nichts mehr, du stehst auf der Waage - es tönt schauerlich durch Himmel und Hölle eine Stimme, die spricht: Man hat dich gewogen auf einer Waage und zu leicht erfunden. Dein Teil wird sein in dem feurigen Pfuhl, der mit Schwefel brennt, welches ist der andere Tod. Alle deine Werke, deine Rechtlichkeit, deine Gottesdienste und äußere Gottesfurcht dies alles gilt viel und wiegt schwer auf Menschenwaagen, aber auf der Waage Gottes nichts - du bist zu leicht erfunden.

Und nun, wie wird euch, Geliebte? Wenn es so dem Rechtschaffenen, dem braven Mann ergeht, was wird es dann erst mit dem Lasterhaften sein, mit dem groben Sünder? Ja, auch du, du musst gewogen werden und kommst ins Gericht. Hier auf Erden hast du in trunkenem Mut, in frechem Hohn mit allerlei Leichtsinn das Gericht für ein Unding erklärt und ihm Trotz geboten. Aber da steht es nun in furchtbarer Wirklichkeit vor dir. Heran denn! Was hast du vorzubringen? Deine Werke, dein Leben wird gewogen, da kommt an das Tageslicht, wie du gefrevelt hast gegen deinen Nächsten, das Blut der Waisen, die Tränen der Witwen, die du aussaugst, du Wucherer! Die Unschuld, die du betrogst, die Gräuel, die du begingest in finsterer Nacht, du Unkeuscher! Dein Lügen und Trügen, dein Hassen und Neiden, dein Afterreden und Verleumden, du Falscher! Deine Sabbatschändungen, dein Frevel gegen Vater und Mutter, deine Hoffart, dein weltlich irdischer Sieh, dein Saufen und Schwelgen und Spielen, deine Diebereien, dein Fluchen und Schwören, deine Gotteslästerungen - ach! alle, alle deine Worte und Werke des ganzen Lebens kommen vor Gericht. Sie wiegen weniger denn nichts, die Waage sinkt noch tiefer. Hast du denn nichts, armer Mensch, nichts, nichts, was du vorbringen könntest? Ach ja! da bringst du den falschen Trost deines Lebens: Gott sei ja barmherzig, Christus sei ja für die Menschen gestorben, jeder Mensch habe ja seine Schwachheiten und Fehler! Aber siehe, da tut sich Gottes Mund auf und predigt dir noch einmal, was du so oft hier auf Erden verlachtest, von seiner Heiligkeit und seinem Zorn, und ruft dir zu: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Buße und Glauben, und das hast du nicht gewollt! Da tönt es schrecklich, schauerlich durch Himmel und Hölle: Man hat dich gewogen und zu leicht gefunden! Werfet ihn in die Finsternis da draußen, da wird sein Heulen und Zähneklappen, in die Verdammnis.

Nun ja, solche Verdammnis ist ganz recht, - sprichst du, aber ich darf mich dem Richterstuhl getrost nahen und die Waage nicht fürchten; jene hatten nicht, was ich habe: Buße, Glauben; aber ich bin bekehrt. So, lieber Zuhörer? Wohl! dann wird erst deine Bekehrung gewogen. Zeig her! wo ist sie? da weist du Tränen auf und Gelübde, Rührungen und Empfindungen der Sünde, der Gnade; aber siehst du wohl? die Waage sinkt nicht, das Zünglein schwankt nicht einmal, denn in Christo Jesu gelten weder Tränen noch Rührungen etwas, sondern allein eine neue Kreatur. Wo ist die? Wo sind die Früchte deiner Tränen, die rechtschaffenen Früchte deiner Buße? Du hast sie nicht, du suchst sie und während du noch bestürzt dastehst, tönt schon die Stimme schauerlich durch Himmel und Hölle: Man hat ihn gewogen und zu leicht gefunden! Er fährt hinab in die Hölle, deren Weg mit Tränen und guten Vorsätzen belegt ist. Oder hättest du doch etwas? Du meinst doch, du wärest wirklich bekehrt, du hattest, so lange du auf Erden wandeltest, den Namen eines Christen: du hattest christliche Erkenntnis, christlichen Umgang, christliche Sprache und hattest die Schmach und die Ehre vor der Welt als Christ zu gelten ach! bei dem allen will die Waage noch immer nicht sinken. Gott fordert mehr; er wägt deine Sprache, sie war leerer Schall, deine Erkenntnis, sie war tot, dein Glauben, er war Mundglauben, - dein ganzes Christenwesen, es war Selbstbetrug! Ach! da tönt es schauerlich laut durch Himmel und Hölle: Du bist gewogen und zu leicht gefunden. Weicht von mir, ihr Übeltäter, ich habe euch nie erkannt.

Aber wie? bleibt denn keiner übrig, der auf dieser Waage bestände? Gibt es denn keinen, dessen Buße, Glauben, dessen Liebe, dessen Werke völlig erfunden würden vor Gott? Geliebte! auf der Waage Gottes wiegt alles Menschenwerk zu leicht. Prüft euch, ihr Bekehrten, die ihr die Zuversicht habt, heute vor Gottes Thron zu erscheinen, prüft euch, ob ihr es wagen möchtet, vor der Waage Gottes euch auf. die Inbrunst eurer Buße, die Größe eurer Liebe, die Stärke eures Glaubens, die Treue eures Wandels oder gar auf den Fleiß eurer Heiligung, auf den Reichtum eurer guten Werke zu berufen? Ich denke nicht und rate es keinem! Sollte es nicht von, eurer Liebe heißen: Sie war oft verloren und erfroren? vom Glauben: er war oft wie ein glimmender Docht; von der Treue und dem Fleiß der Heiligung: sie wankten und hinkten? Sollte nicht an dem Maß der Buße, an ihrer Innigkeit, ihrer Dauer, ihrem Umfang sich mancherlei auszusehen finden? und die Werke, von denen ihr etwas wisst, (Matth. 25.37) sind sie nicht allesamt befleckt und mangelhaft? O, Geliebte, wenn der Herr seine liebsten Kinder auf der Waage des Heiligtums wägt; wägt, was sie von sich selbst haben, oder was sie von sich selbst sind, wenn er entzeucht das Seine, dann heißt es auch von ihnen: Man hat sie gewogen und zu leicht gefunden.

Aber ist denn keiner, der auf dieser Waage besteht? Gibt es kein Gewicht, das Gottes Waage niederzieht? Kommt und seht! Da liegt ein armer Sünder im Sterben. Ob er früher und wie lange schon geglaubt, geliebt, gekämpft, verleugnet, gearbeitet hat für seinen Herrn, das kommt ihm nicht in Betracht, er vergisst das gern, denn an dem allen findet er nur Ursache zur Scham, er weiß nur eins: Ich bin ein großer Sünder, meine Sünden sind blutrot, ich bin meiner Sünde wegen vor Gott verdammt und verdammenswert.

Das glaubt, das weiß er; aber er gibt sich selbst auf, und sein Auge sieht auf Jesum mit jenem Blick, mit dem Israel die eherne Schlange ansah. Das brechende Auge ist auf Jesum, seinen Seligmacher, gerichtet und seine schon erstorbene Zunge haucht noch als letzten Seufzer: Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid! Er stirbt! Er tritt vor Gottes Thron. Die Waage wird ihm vorgehalten. Was sein letztes Glaubenswort auf Erden war, das ist das erste, mit dem er der Waage naht. Er tritt hinein und spricht: Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid! Siehe, da sinkt die Waage tief, tief. Seine Schale hat noch mehr Gewicht als nötig, und eine Stimme tönt jubelnd durch alle Himmel, schallt mit Donnerlaut bis in die unterste Hölle: Dieser ist gewogen und völlig erfunden. Denn es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Komm her, du Gesegneter meines Vaters, und ererbe das Reich, das dir bereitet ist von Anbeginn der Welt.

Er hatte nichts eigenes. Er sprach zu Gott: Ich kann nichts von mir in die Waage legen, aber ich habe einen Bürgen von dir empfangen, Jesus Christus: sein Blut, sein Wort, und was sein Werk in mir war, wie klein es auch ist, du siehst es doch das bringe ich dir. Gnade, Gnade! mehr weiß ich nicht, mehr habe ich nicht, mehr bringe ich nicht siehe! da sinkt die Waage, und er hat gewonnen. Gewogen soll er werden? Nein, spricht er, ich lebe, doch nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Ich bin ein Glied an seinem Leib, und wägt man mich, so muss auch Christus und sein Leiden und sein Verdienst und sein Gehorsam und seine Genugtuung dies alles mit in die Waage. Das geschieht, und als nun Christus dies bestätigt und spricht: Ich, ich kenne ihn, er ist mein und ich bin sein! als Christus nicht nur alle die Werke, die er in ihm, sondern alles, was er für ihn getan, in die Waagschale legt, siehe! da hat er das vollkommene Gewicht des Heiligtums, er hat die Gerechtigkeit Gottes, denn er ist in Christo, und hörte seine Stimme vom Himmel über ihm sagen: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach.

Nun, Geliebte, nicht wahr? es war eine peinliche Stunde die jetzt verfloss, für manchen wenigstens, der die Predigt verstanden hat. Es ist nichts Geringes, wenn wir noch während unserer Lebzeit schon im Sarg liegen sollen und von da aus unser Tun und Lassen, unser Denken und Wirken, unser Dichten und Trachten, unser Reden und Schweigen vor Gottes Gericht gestellt sehen. Es tut wehe, sehr wehe, wenn man hört, wie alles, worauf wir Gewicht legten, vor Gott kein Gewicht habe; wie unsere Gerechtigkeit und Ehrbarkeit, unsere Kirchlichkeit und Gottesdienstlichkeit, ja gar unsere Buße, unsere Liebe, unsere Glaubenserkenntnis dort nichts ausrichtet, wie dort nichts, nichts gilt, als Gottes Gnade und Christi Erbarmen.

Aber, lieber Zuhörer, diese peinliche Stunde könnte eine sehr gesegnete werden. Noch liegst du ja nicht wirklich im geschlossenen Sarg, sondern sitzt noch hier vor der offenen Gnadentür. Noch stehst du nicht im Gericht, sondern in der Gnadenzeit. Noch bist du nicht zum letzten Mal gewogen, noch ist nicht das furchtbare: Jetzt ist es zu spät! über deiner Leiche gerufen. O! darum kannst du heute noch tun, was du dann mit blutigen Tränen der Reue nicht mehr tun könntest. Denn so gewiss du jetzt noch lebst, wirst du dereinst sterben; so gewiss du jetzt noch vor der offenen Gnadentür stehst, so gewiss wird sie einst geschlossen sein; so gewiss du jetzt lebend deine Leichenpredigt gehört hast, so gewiss wird es einst über deinem Sarg heißen: Man hat ihn gewogen.

Nun, so bewegt denn die gehörten Worte in eurem Herzen. Es ist wahrlich euer Heil, wenn ihr noch länger als diese flüchtige Stunde über euren Leichentext nachdenkt, wenn ihr euch noch einmal daheim in ernster Selbstprüfung auf Gottes Waagschale legt. Es ist ein Werk für die Ewigkeit, wenn ihr in einer einsamen Stunde dieses Tages eure Werke, eure Worte, eure Buße, euren Glauben, eure Bekehrung, ja euer ganzes Leben auf Gottes Waage legt und nach seinem Wort prüft. Lasst es euch dann nicht reuen, wenn auch dort, wie hier in der Predigt, alles zusammensinkt, nichts bleibt und ihr keinen Boden mehr unter den Füßen, keine Stütze mehr in eurer Hand behaltet; nackt und bloß arm und elend ausrufen müsst: Ich bin verloren! und so niedersinkt in den Abgrund eures Elends. Nein, ihr sinkt dann nieder in den Abgrund der Barmherzigkeit Christi; ihr habt euch verloren, aber Christum gewonnen.

Und nun noch einen Rat, es ist Petri Wort: Setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade. (1. Petr. 1,13). Ihr habt gesehen, es ist das einzige, was wiegt in Gottes Waagschale. So seht denn zu, dass dies eine Notwendige euch werde! Verkauft alles was ihr habt, ringt und schafft, dass ihr diese köstliche Perle findet, achtet alles, und hättet ihr eine Gerechtigkeit wie Paulus der Pharisäer (Phil. 3,5-9.), achtet alles für Schaden, auf dass ihr Christum und seine Gnade gewinnt und euren Beruf und Erwählung festmacht. Lasst nicht ab, um sie zu weinen und zu beten, bis ihr wie Jacob Gott besiegt, und wenn auch gelähmt wie er, an seiner Gnade hängt. Ist sie es allein, die wiegt, so sei sie es auch allein und ganz, auf die wir unsre Hoffnung sehen, der wir uns trösten und freuen, der wir uns rühmen im Leben wie im Sterben. Gelehnt auf diesen festen Stab ganz und allein lasst uns durch dies Leben wandeln, und gelehnt auf ihn im Sterben durch das Todestal und vor das Gericht treten. Wer auf sie sich lehnt, der fällt nicht zusammen vor dem Donner seines Zornes und seiner Zukunft.

Geliebte, es ist ein ernster Sonntag, der letzte des Kirchenjahres. Viele, die mit uns die Adventspredigt des vorigen Jahres hörten, werden die nächste des kommenden Sonntags nicht wieder hören, und über viele, über die heute im Leben ihre Leichenpredigt gehalten wurde, wird sie im nächsten Jahre wirklich über dem verschlossenen Sarg gehalten werden. Ach, dass wir es doch merkten und lernten bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug würden! Dass wir es lernten fort und fort, uns und das Unsrige zu wägen. Auf dieser Waage des Heiligtums gewogen, würde manches, das uns so schwer dünkt, leicht erfunden, nicht nur unsere Gerechtigkeit, sondern auch unsere Freude und unsere Trübsal, der Welt Güter und Freuden, wie ihr Urteil und ihre Schmach. Doch dies rechte Wägen lehre uns der Herr und gebe uns allen das rechte Gewicht: „Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi.“

Und diese Gnade sei und bleibe mit uns allen heut und immerdar! Amen.

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