Arndt, Friedrich - Die Kraft des Wortes Gottes - 1. Das Wort Gottes und der heilige Geist.

Arndt, Friedrich - Die Kraft des Wortes Gottes - 1. Das Wort Gottes und der heilige Geist.

Das Wort und der Geist werden in der heiligen Schrift immer zusammengestellt und sind durchaus unzertrennlich von einander. Schon bei uns Menschen ist der Geist der Gedanke, der Sinn, der Inhalt und die Seele des Wortes, wie andrerseits das Wort das Kleid, der Träger und der Dolmetscher des Gedankens ist. Noch mehr ist dies bei der Gottheit der Fall. Schon im Anfange der heiligen Schrift heißt es: „Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser;“ dagegen fängt das Evangelium Johannis an: „Im Anfange war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott; alle Dinge sind durch dasselbige gemacht und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ Psalm 33, v. 6. heißt es: „Der Himmel ist durchs Wort des Herrn gemacht und alle sein Heer durch den Geist seines Mundes.“ Unzählige Male heißt es bald: das Wort des Herrn kam zu dem und dem Propheten, bald: der Geist des Herrn kam über ihn. Jesus selbst aber sagt: „die Worte, die ich rede, sind Geist und Leben.“ Was auf diese Weise Gott selbst zusammengefügt hat, darf der Mensch nicht scheiden.

Das Wort bedarf, des Geistes; sonst kann es nicht einmal entstehen, und wo ein Wort Gottes in der Welt ist, da ist es vom heiligen Geiste inspirirt und eingegeben. Paulus sagt: Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütz zur Lehre, und Petrus: Es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht, sondern die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem heiligen Geist. Jesus selbst sagt zu den Aposteln: Ihr seid es nicht, die da reden, sondern Eures Vaters Geist ist es, der durch Euch redet. Wie hätten auch jene einfachen Hirten, Fischer und Zöllner die ewigen Himmelsgedanken und Rathschlüsse Gottes wissen und erkennen oder jene wunderbaren Weissagungen über ganze Völker und einzelne Personen Jahrhunderte vorher bis in's kleinste genau aussprechen können, wenn sie ihnen nicht von oben her wären eröffnet und mitgetheilt worden? Wenn irgendwo Gottes unmittelbarer Eingriff ersichtlich ist, so ist es hier. - Das Wort bedarf ferner des Geistes um verstanden und ausgelegt werden zu können. Nur das Geistesverwandte kann der Geist deuten und verstehen. So wenig wir das Wort eines Dichters oder Philosophen fassen können, wenn wir nicht selbst eine poetische Anlage und ein speculatives Talent haben, so wenig vermögen wir die heilige Schrift zu deuten und zu verstehen, wenn wir nicht selbst etwas vom Geiste der Bibel, vom heiligen Geiste besitzen oder empfangen. Sonst ist uns das Wort Gottes ebenso verschlossen wie dem Blinden die Farbe und dem Tauben das Gehör, und ebenso unnütz und überflüssig, als ob wir Arznei auf einen Stein schütteten oder einem Todten die lieblichsten Melodieen vorsängen. Der natürliche Mensch vernimmt einmal nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Thorheit und er kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet sein (1 Cor. 2, v. 4). Ist unser Evangelium verdeckt, sagt Paulus (3 Cor. 4, v. 3.), so ist es bei denen, die verloren werden, verdeckt, bei denen der Gott dieser Welt der Ungläubigen Sinne verblendet hat, daß sie nicht sehen das helle Licht des Evangelii von der Klarheit Christi. Nicht Wissenschaft, Gelehrsamkeit, Bildung, wie schätzbar sie an sich auch sein mögen, führt zum innern Verständniß des Wortes Gottes, sondern allein das durch den heiligen Geist erleuchtete Herz. - Das Wort bedarf endlich des heiligen Geistes, um seine Wirksamkeit üben zu können. Es wirkt ja nicht wie Menschenwort blos auf dem Wege der Belehrung und Ueberzeugung, sondern als Wort Gottes zugleich und mehr noch auf dem Wege der Bekehrung und Erneuerung. Darum schreibt die heilige Schrift dem Worte Gottes überall dieselben Eigenschaften und Wirkungen zu, die sie dem heiligen Geiste zuschreibt. Heißt jener der Tröster, so heißt es von diesem: wenn Dein Wort nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elende. Heißt jener der Geist der Wahrheit, der in alle Wahrheit leitet, so heißt dieses unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unsern Wegen. Sagt Jesus von jenem: der Geist wirket, wo er will, so Paulus: das Wort Gottes ist nicht gebunden. Kommt dem heiligen Geiste unsere Berufung zum Reiche Gottes zu, so nicht minder dem Worte Gottes (2 Thess. 2, v. 14.): Er hat Euch berufen durch unser Evangelium zum herrlichen Eigenthum unseres Herrn Jesu Christi. Kommt dem heiligen Geiste die Erleuchtung zu, so heißt es vom Worte Gottes: Wir haben ein festes prophetisches Wort, und Ihr thut wohl, daß Ihr darauf achtet, als auf ein Licht, das da scheinet in einen dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in Euren Herzen. Wird jenem die Bekehrung der Menschen zugeschrieben, so gilt dies ebenso sehr vom Worte des Herrn, wie Gott Jer. 23, v. 29. spricht: Ist mein Wort nicht wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt? Auf gleiche Weise wird dem Worte Gottes, wie dem heiligen Geiste, die Wiedergeburt, die Rechtfertigung und die Heiligung der Menschen nachgerühmt; Petrus nennt die Christen solche, die wiedergeboren sind nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Saamen, nämlich aus dem lebendigen Worte Gottes, das da ewiglich bleibet (1 Petri 1, v. 23.); Paulus sagt: So das Amt, das die Verdammniß predigt, Klarheit hat, vielmehr hat das Amt, das die Gerechtigkeit predigt, überschwängliche Klarheit (2 Cor. 3, v. 9.), und Jesus betet: Heiliger Vater, heilige sie in Deiner Wahrheit, Dein Wort ist die Wahrheit (Joh. 17, v. 17). Wie der Sonne stets die Kraft zu leuchten beiwohnt, wie die Medizin Heilkraft besitzt, wenn sie gleich auch nicht immer wirkt, so ist der heilige Geist, wenn auch auf übernatürliche Weise, doch unzertrennlich mit dem Worte Gottes verbunden, und tritt nicht etwa erst zu demselben hinzu als ein fremdes, sondern wohnt und lebt in ihm als sein Geist und seine Seele, und kann daher das Wort Gottes ebenso gewaltig Wirten wie der Geist des Herrn.

Andrerseits bedarf der heilige Geist des Wortes, um sich uns zu offenbaren und uns zu erleuchten und zu durchdringen. Nicht als ob Er nicht auch ohne das Wort und außer demselben wirken könnte oder gewirkt hätte; die Mittel und Wege, deren Er sich bedient, um Menschenseelen zu retten und zu beseligen, sind gar mannigfache und unzählige; ja. Alles kann in der Hand des heiligen Geistes Mittel der Erweckung werden, sobald Er es gebraucht und segnet. Wie oft hat Er durch einen plötzlichen Todesfall Menschen aus der Sicherheit ihres Lebens aufgerüttelt! Denkt nur an Luther, als sein Freund Alerius vom Blitz erschlagen wurde, oder an den Kaufmann Petrus Waldus, den Stifter der Waldenser, als bei einem Gastmahl sein Freund plötzlich, vom Schlage gerührt, todt zu Boden sank, und nun die Gewissensfrage in ihm laut wurde: wie? wenn dich der Schlag getroffen und so unerwartet vom Mahle in die Ewigkeit gefördert hätte, was wäre dann aus deiner Seele geworden? Wie oft hat Er Leiden und Trübsale zu demselben Zweck gebraucht! Denkt nur an den Missionar van der Kemp, der, nachdem er 16 Jahr lang Militair und dann Arzt gewesen, eines Tages in einem Boot auf einem Strome fuhr, und nun ein Sturm entstand und das Boot umschlug, van der Kemp sich an das Boot anklammerte und mit demselben fast eine Meile weit fortgerissen wurde; da, fast dem Tode nahe, wurde er von Andern gerettet. Von da an, so sichtbar durch Gottes Gnade gerettet, wurde er ein anderer Mensch, gab die ärztliche Praxis auf und wirkte als Missionar so unbeschreiblich segensreich in Süd-Afrika. Wie manchmal hat ein einfacher Gesang verkommene Menschen aus dem Abgrunde des Verderbens gerettet! Ein Handwerksbursche lebte wild in den Tag hinein, unbekümmert um Seele und Seligkeit. Was in der Woche verdient wurde, das wurde am Sonntage bis spät in die Nacht mit Sünde wieder durchgebracht. Einst war er betrunken, und ein besserer Gesell brachte ihn Nachts zu Hause. Da rief der Nachtwächter die Stunde, und sang dabei aus einem alten Gesang diesen Vers:
Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf,
ermuntre dich, verlornes Schaaf,
und bessere schnell dein Leben;,
wach auf, es ist schon hohe Zeit,
es kommt heran die Ewigkeit,
dir deinen Lohn zu geben;
vielleicht ist dies die letzte Nacht,
wer weiß, wie lang' man leben mag.

Hörst Du, sagte der Nebengeselle, der Vers wurde für Dich gesungen, und, - von da an schlug der Andere in sich. Wie manchmal hat Gott selbst Träume benutzt, um seine ewigen Zwecke zu erreichen, wie Hiob 33, 16. sagt: Da öffnet Er den Leuten das Ohr und erschrecket sie! Ein christlich erzogener Mensch wurde durch schlechte Gesellschaften zu allen Lastern verführt, Tage und Nächte brachte er in Wirthshäusern mit Trinken und Spielen zu. Kirchengehen und Christenthum waren ihm lächerlich, kein Gedanke mehr an Gott kam in seine Seele. Obgleich Gott der Herr ihm schon zwei seiner Kinder, die er sehr lieb hatte, kurz nach einander genommen hatte und gleich darauf seine Frau so gefährlich krank wurde, daß er an ihrer Rettung verzweifelte, so erschütterte ihn doch das nur für den Augenblick. Kaum war die Gefahr vorüber, so war er auch ganz wieder der Alte. Da ließ Gott ihn selbst in eine sehr schwere Krankheit fallen, in welcher er nicht allein die furchtbarsten Schmerzen litt, sondern auch dem Tode nahe kam. Dies Leiden weckte endlich das lange betäubte Gewissen. Die Sünden seiner Jugend und alle Missethaten seines bisherigen Lebens traten in der schrecklichsten Gestalt vor seine geängstigte Seele. Er fiel endlich in einen tiefen, langen Schlaf, und in demselben war ihm, als ob ihn ein Engel zum Richter der Lebendigen und der Todten führte. Alle von ihm Gekränkten, Geärgerten, Verführten traten wider ihn auf, der Richter selbst stellte alle seine Verbrechen, ja die geheimsten Anschläge seines Herzens und alle von ihm verachteten Beweise der göttlichen Gnade, vor ihm und der ganzen Welt in ein furchtbares Licht; schon hatte Er seinen Mund geöffnet zu dem Schreckensurtheil: Gehe hin, du Verfluchter, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Da nahm ihn plötzlich eine lichte Wolke von dem schauerlichen Orte hinweg und er erwachte. Sogleich verlangte er dringend nach dem Prediger, weinend und schluchzend bat er ihn und seine Frau, sie möchten doch nur mit ihm und für ihn Gott bitten, daß Er ihn vor dem bewahre, was er im Traume gesehen. Diese thaten es redlich und hatten die Freude zu sehen, daß der Kranke nicht allein jetzt, sondern auch nach seiner Wiedergenesung die unzweideutigsten Beweise von seiner Bekehrung gab. - Es kann also der heilige Geist durch Alles und Jedes wirken. Aber wenn auch die Mittel sehr mannigfach sind, welche Er zur Rettung der Menschen gebraucht, das Hauptmittel ist und bleibt doch immer das Wort Gottes, wie Paulus sagt: So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes. (Röm. 10, 17.) Alle anderen Mittel führen nur zu dem Worte hin und machen das Herz für dasselbe offen und empfänglich; das Wort Gottes selbst aber ist der rechte Wegweiser in die Heilsordnung und Gnadenwirkung des heiligen Geistes hinein, und oft ist ein einziger Spruch, ein einziger Vers schon hinreichend, die Seele für ewig zu entscheiden und auf den Weg des Lebens zu leiten.

Nun kommt Alles darauf an, welche Stellung wir zu dem heiligen Geiste und dem Worte Gottes in der Schrift einnehmen. Es sind nämlich vier Fälle möglich: entweder wir leben ganz ohne Wort und Geist, oder wir ziehen das Wort dem Geiste vor, oder den Geist dem Worte, oder wir halten es mit beiden gleichmäßig. Es giebt zunächst Menschen, die sich weder aus dem Worte Gottes noch aus dem heiligen Geiste Etwas machen, weltlich gesinnte, verstockte Gemüther, die nie die Bibel lesen, nie die Kirche besuchen und jeder Mahnung an etwas Göttliches aus dem Wege gehen. Für sie ist Beides da, Wort und Geist Gottes, aber sie sind nicht da für ihre Botschaft. Unglückliche Menschen! Im Leiden ohne Trost, in den Versuchungen des Lebens ohne Halt, in ihren Urtheilen ohne Klarheit, in ihrem Tode ohne Hoffnung; fleischlich gesinnte Menschen, von denen der Apostel sagt: Fleischlich gesinnt sein ist der Tod, ist eine Feindschaft wider Gott, und die also gesinnt sind, mögen Gott nicht gefallen. Unsere Seelen kommen nicht in ihren Rath!

Es giebt Andere, welche das Wort Gottes wohl wollen, aber es nicht geistig auslegen: das sind Diejenigen, welche einer todten kirchlichen Orthodoxie oder Rechtgläubigkeit anhängen, den Buchstaben der heiligen Schrift pressen, jede Abweichung von ihrem Lehrbegriff als arge Ketzerei richten und verdammen, und selbst das Mahl der Liebe nicht mit Andersgläubigen zusammen feiern mögen. Wo diese todte Rechtgläubigkeit herrscht, verknöchert das geistige Leben und geht die christliche Liebe unter. Dabei offenbart sich überall die schreiendste Inconsequenz, denn, soll einmal die buchstäbliche Deutung des göttlichen Wortes immer und überall entscheiden, so dürfen wir, genau genommen, keine Kinder mehr taufen, keinen Frauen das Abendmahl reichen, keine Beichte halten, keine Festtage feiern, keine Orgeln, Bilder, Glocken an den Kirchen dulden: dies Alles ist in der Schrift buchstäblich nicht verordnet, sondern erst durch den weiter entwickelten Geist der Kirche eingeführt worden; so müßten wir ferner uns untereinander die Füße waschen, die Kranken mit Oel salben, die Fasten beobachten, den zehnten Theil unserer Einnahmen den Armen geben, uns nach der apostolischen Vorschrift von der Unsauberkeit der Abgötter, von Hurerei, von Ersticktem und Blut enthalten und dürften viele Gegenstände nicht genießen, welche die Schrift für unrein erklärt, so müßten heut zu Tage noch die Liebesmahle und die Gütergemeinschaft der apostolischen Zeit allgemeine Einrichtung der Christenheit sein, und wir hätten kein Recht, in der heiligen Schrift durch den Geist zu unterscheiden, was alle Zeit und was nur für eine bestimmte Zeit gelten sollte. Wahrlich, hier gilt recht eigentlich das apostolische Wort: der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig.

Es giebt drittens Solche, welche immer Geist, Geist schreien und dabei den klaren Verstand des göttlichen Wortes aus den Augen setzen und alle Lehren, welche ihnen nicht zusagen, daher sofort läugnen und verwerfen. Dahin gehören einerseits alle Rationalisten und Vernunftgläubigen, alle freien Gemeinden und Deutschkatholiken, alle Spiritualisten und Pantheisten, welche geradezu sagen: nicht darum sei etwas wahr, weil es in der Bibel stehe, sondern darum stehe es in der Bibel, weil es wahr sei, und nun mit ihrer Vernunft willkürlich abmachen und entscheiden, was wahr sein solle und was nicht. Diese Alle läugnen die Gottheit Christi, die Erlösung durch sein Blut, die Persönlichkeit des heiligen Geistes, das Dasein der Engel und Teufel, die persönliche Unsterblichkeit und die Auferstehung des Fleisches, wie sonnenklar und wiederholt auch diese Lehren in der Bibel gelehrt sind. Welche Anmaßung! Zugegeben, sie hätten den heiligen Geist in sich selber, um über göttliche Dinge entscheiden zu können, so können sie doch nimmermehr behaupten, daß sie nur heiligen Geist haben und nicht auch Fleisch, wo aber Letzteres ist, da ist die Möglichkeit des Irrthums; können ebenso wenig behaupten, sie hätten den ganzen heiligen Geist, wo aber das nicht der Fall ist, da hat alles Wissen seine Grenzen und bleibt alle Zeit unvollkommen und Stückwerk; können am allerwenigsten behaupten, sie hätten den heiligen Geist durch sich selbst oder durch Unterricht und Erziehung, - wenn sie etwas von ihm besitzen, so haben sie das nur durch das Wort Gottes, durch Glauben und Gebet empfangen. Wo bleibt dann aber die Berechtigung, auf den Geist sich zu stützen und darnach das Wort Gottes zu modeln und zu deuteln? Andrerseits gehören hierher die Schwarmgeister zu Luthers und die Inspirirten in der späteren Zeit, welche Erscheinungen aus der unsichtbaren Welt und unmittelbare göttliche Eingebungen empfangen zu haben vorgaben, und diese geheimnißvollen Aufschlüsse zur Ergänzung der durch die Propheten und Apostel gegebenen Offenbarungen Gottes in der heiligen Schrift mißbrauchten, die wunderlichsten Lehrsätze aufstellten und dafür unbedingten Glauben forderten. Gegen diese und jede andere Schwärmereien giebt es aber kein sichereres Schutzmittel, als das einfache, klare und nüchterne Wort des lebendigen Gottes in der Bibel, die ja selbst mit den inhaltsschweren Worten schließt: „So Jemand dazu setzet, so wird Gott auch ihm zusetzen die Plagen, die in diesem Buche geschrieben stehen; und so Jemand davon thut, so wird Gott abthun seinen Theil vom Buche des Lebens und von der heiligen Stadt und von dem, was in diesem Buche geschrieben steht.“

Es giebt endlich viertens Solche, die das Wort nicht ohne den Geist und den Geist nicht ohne das Wort haben und gebrauchen: bei ihnen kommen Beide zu ihrem vollen Rechte, und welch' eine Welt schließt sich auf vor ihren Augen! Der heilige Geist ist ihnen gleichsam verkörpert und das Wort vergeistigt, die Worte Jesu sind ihnen im vollsten Sinne des Wortes Geist und Leben geworden. Wer auf diesem Standpunkte steht, dem geht es bei der Lesung der heiligen Schrift wie dem Naturfreunde unter dem prachtvollen Sternenhimmel. Wenn die Abenddämmerung eintritt, sieht er zuerst in der Regel einen hellen Stern, bald aber treten mehrere aus der Tiefe des Himmels hervor, zuletzt ist der ganze Himmel mit Millionen von Sternen übersäet. Auf gleiche Weise ist es meistentheils erst ein Spruch, der uns bis in's Innerste faßt und fesselt, es währt aber nicht lange, so ist er nur die Brücke zu tausenden seiner Brüder, die alle gleiche Schönheit, Kraft und Herrlichkeit offenbaren. Ein Stern übertrifft den andern an Klarheit: auf gleiche Weise unterscheiden sich die Gottessprüche in der heiligen Schrift an Verständlichkeit und Bedeutung, Jacobus schließt uns, wie Oetinger sagt, mehr die Tiefe, Johannes mehr die Höhe, Petrus mehr die Breite, Paulus mehr die Länge der Erkenntniß Christi auf; im Propheten Jesaias tritt uns mehr ein königlicher Geist, im Jeremias ein priesterlicher Geist, im Ezechiel der Geist des Knechts und des Gesandten des Herrn entgegen; wir ahnen oder verstehen auch, je tiefer wir forschen, die Gründe, warum die alte Kirche die vier Evangelisten durch die vier lebenden Wesen, welche im Propheten Ezechiel und in der Offenbarung Johannis den Thron Gottes tragen, charakterisirt hat, den Matthäus durch das Bild des Menschen, den Marcus durch das Bild des Löwen, den Lucas durch das Bild des Stiers und den Johannes durch das Bild des gen Himmel anstrebenden Adlers. Die Sterne bleiben immer alt und immer neu, wie oft wir sie auch schon beschaut haben, wir können uns nicht satt genug daran sehen und bewundern immer von Neuem ihre Pracht und Herrlichkeit, ihre Größe und Entfernung; ganz ebenso geht es uns mit der heiligen Schrift, auch sie ist uns immer alt und immer neu; wenn sonst Alles sich in der Welt wiederholt, hier ist das ewig Neue, Frische und Unvergängliche; wie oft wir sie auch gelesen, wir lesen sie mit immer neuer Lust, und es wird uns immer wieder Neues darin aufgeschlossen. Ein wahrhaft unerschöpfliches Meer! Darum ist sie auch noch nie ausgedacht, ausgeredet, ausgepredigt worden. Die Sterne am Himmel leuchten für Alle, und doch auch für Jeden auf besondere Weise, der Sternkundige hat an ihnen mehr mit seinem bewaffneten Auge als der Laie, der sie mit seinen bloßen Augen anblickt. Gerade ebenso verhält es sich wieder mit der heiligen Schrift, in den für einzelne Personen zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen gesprochenen Worten sind Wahrheiten für alle Menschen, alle Zeiten und alle Umstände enthalten, und wiederum ist in dem allgemeinen Wort und Satz das allerspeziellste Bedürfnis; berücksichtigt, so daß jeder einzelne andächtige Leser bekennen muß: das ist ja wie für mich gesprochen und gegeben. Die Sterne endlich, die wir sehen mit bloßem Auge, sind uns eine Bürgschaft für diejenigen, welche nur das bewaffnete Auge wahrnimmt. So lange wir auf der Erde wallen und Sünder bleiben, werden in der heiligen Schrift auch dunkle Stellen übrig bleiben, aber die erschlossene Wahrheit ist uns eine Bürgschaft für die unerschlossene und die Dämmerung der Erde eine Weissagung auf die Zeit, wo aus Abend und Morgen heller Tag werden wird.

Wenn wir auf diese Weise die Bibel als ein Buch betrachten müssen, in welchem nicht Menschenwort, sondern Gottes Wort lebt, mit welcher Ehrfurcht werden wir sie jedesmal in die Hand nehmen! Es muß uns ja dann zu Muthe sein, als wenn der heilige Geist, wie einst über den Wassern der Tiefe, so jetzt über jedem dieser Gottesworte schwebte und als träten wir in einen Tempel, in ein Heiligthum ein, in welchem andere Lüfte wehen, andere Stimmen rauschen, andere Bilder und Gestalten sich bewegen als diejenigen, denen wir in der sichtbaren Welt begegnen. Wir stehen unmittelbar vor den Augen des allgegenwärtigen Gottes, wir hören Ihn selbst zu uns reden, denn der Ort, wo wir stehen, ist ein heiliges Land, in welchem Er seine Hütte aufgeschlagen hat; wir ziehen unsere Schuhe aus und sprechen: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anders denn Gottes Haus, hier ist die Pforte des Himmels!“ Welche Stelle wir aufschlagen mögen im alten und neuen Testament, überall vernehmen wir den Lobgesang der Seraphim: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth und alle Lande sind seiner Ehre voll.“ - Mit welcher Ehrfurcht werden wir dann an heiliger Stätte Evangelium oder Epistel oder sonst eine Stelle aus der heiligen Schrift verlesen hören! Wir können nicht länger sitzen bleiben auf unseren Plätzen, sondern müssen nach uralter Sitte der Kirche ehrerbietig aufstehen und uns erheben: es redet ja nicht blos ein irdischer König zu uns, sondern der Herr aller Herren und der König aller Könige, der nicht blos in der Höhe des Himmels und im Heiligthum der Kirche auf Erden wohnt, sondern so gern auch bei denen wohnen möchte, die demüthigen und zerschlagenen Geistes sind. - Mit welcher Ehrfurcht werden wir die Bibel in unserem Kämmerlein lesen zu unserer stillen Andacht und Erbauung, und es nicht wagen sie aufzuschlagen, ohne vorher zu seufzen: Rede, Herr, Dein Knecht höret, offenbare Dich mir in Deinem Worte und laß mich sehen die Wunder in Deinem Gesetz. Wenn wir unsern Fuß bewahren sollen, so oft wir zum Hause Gottes gehen, wie viel mehr werden wir unsere Sinne und Gedanken zu bewahren haben, wenn es gilt Seine Rede zu vernehmen und uns von Ihm sagen und segnen zu lassen! - Mit welcher Ehrfurcht werden alle Diener des göttlichen Wortes an ihren hohen Beruf gehen, betend sich zur Predigt vorbereiten, betend am Sonntage Kirche und Kanzel besteigen, betend das Wort nehmen vor der Gemeinde, damit sie nicht eigene Weisheit predigen und dadurch die Einfalt des Kreuzes Christi zu nichte machen, sondern das Wort des Herrn durch den heiligen Geist, und damit sie vor Selbstgefälligkeit, Eitelkeit, Nachlässigkeit und geistlichem Stolz bewahret bleiben! Erfüllt uns aber erst diese Ehrfurcht vor dem vom heiligen Geiste herrührenden Worte Gottes, wie sie uns vor allem, was höher und erhabener ist als wir, erfüllen muß, dann wird es nicht fehlen, es wird durch den häufigeren Verkehr mit der Bibel sich aus der Ehrfurcht vor Gottes Wort bald die herzinnigste Liebe zu demselben entwickeln, jene Liebe, die das göttliche Wort gar nicht mehr entbehren kann und die sich nie unglücklicher fühlt als wenn es ihr fehlt oder nicht deutlich zu ihr redet. Die Achtung ist ja einmal die Mutter der Liebe. Gott gebietet den Kindern, sie sollen Vater und Mutter ehren, weil, wenn sie das thun, die kindliche, dankbare Liebe zu ihnen niemals ausbleiben kann. Achten wir Gottes Wort recht hoch, dann wird's uns gehen wie David, der sich keinen Palast bauen konnte, ohne das Haus des Herrn in seiner nächsten Nähe zu haben; das Wort Gottes wird uns süßer sein als Honig und Honigseim und köstlicher als Gold und viel feines Gold; wir werden es von unsern Augen und Händen nicht mehr lassen Tag und Nacht und was Jacob zum Herrn sprach, auch auf dies Wort anwenden: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn,“ und was der Mann nach dem Herzen Gottes vom Tempel sagte, diesem Worte nachrühmen: „Wie lieblich sind Deine Worte, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Verheißungen des Herrn, mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott; ein Tag in Deiner Nähe ist besser denn sonst tausend; Gott der Herr ist Sonne und Schild, Er giebt Gnade und Ehre, Er läßt kein Gutes mangeln dem Frommen; Herr Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf Dich verläßt!“ Der König Alexander trug die Kriegslieder des heidnischen Dichters Homer auf allen seinen Zügen mit sich; in der Nacht hatte er sie unter seinem Kopfkissen; sie sollten ihn zu seinen Kriegen gegen die Perser begeistern und stärken. Wie vielmehr werden wir, als lebendige Christen, die Worte unseres Vaters im Himmel nicht aus unseren Händen kommen lassen, damit sie in der Jugend unsere Lust und Freude, bei des Tages Last und Hitze unsere Stärke, und im Alter und im dunkeln Todesthal unsere Leuchte sein mögen. - Solche Liebe wird je länger je mehr sich zuletzt praktisch und thätig offenbaren im unbedingten Gehorsam. Was Gott uns in seinem Worte sagt, wir werden es glauben, und wäre es das Unbegreiflichste; was Er uns gebietet, wir werden es thun, und wäre es das Allerschwerste; was Er uns untersagt, wir werden es lassen, und kostete es uns die größte Ueberwindung; was Er uns verheißt, wir werden darauf hoffen, bauen und trauen, und ob wir warten müßten bis an unseren Tod; was Er uns droht, wir werden uns davor fürchten, denn Er ist der Wahrhaftige, der da hält, was Er zusagt, und der Allmächtige, der da ausführt und thut, was Er will. Je mehr solche Ehrfurcht, solche Liebe, solcher Gehorsam in uns wächst, desto mehr wird der Geist Gottes durch sein Wort auf und in uns wirken und alle unsere Gedanken und Urtheile, Gefühle und Bestrebungen, Wünsche und Hoffnungen, Worte und Thaten vergeistigen und verklären und uns so immer mehr auf die große Zeit vorbereiten, wo unser Geist wird ganz befreit sein von den Fesseln des Fleisches und wir in geistlichen Leibern prangen werden, die nichts mehr an sich tragen von dem schweren Stoff der Erde, sondern durch welche die Herrlichkeit Gottes hindurchscheint, wo der neue Himmel und die neue Erde sich darstellen werden vor unseren Augen, als ein Tempel Gottes, dessen Leuchte das Lamm ist, wo wir fähig sein werden, Gott zu schauen von Angesicht zu Angesicht und diesen beispiellos und unvergleichlich glänzenden Anblick zu ertragen, und wo mit uns alle Creaturen werden befreit sein von dem Dienste des vergänglichen Wesens zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

Herr, hilf uns Allen zu diesem herrlichen Tage, erfülle uns mit immer steigender Ehrfurcht, Liebe und Gehorsam gegen Dein heiliges Wort, laß Deinen heiligen Geist immer gewaltiger Zeugniß geben von diesem Deinem Worte in unseren Herzen und segne dazu auch diese Betrachtung und alle Vorträge dieses Jahres über Dein Wort für Zeit und Ewigkeit. Amen!

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