Jesaja, Kapitel 1
1:1 Dies ist die Geschichte Jesaja's, des Sohnes des Amoz, welches er sah von Juda und Jerusalem zur Zeit Usias, Jothams, des Ahas und Hiskia, der Könige Juda's.
1:2 Höret, ihr Himmel! und Erde, nimm zu Ohren! denn der HERR redet: Ich habe Kinder auferzogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen.
1:3 Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt's nicht, und mein Volk vernimmt's nicht.
Wie lernt ein Tier seinen Herrn kennen? Wenn er es misshandelt, flieht es vor ihm. Sorgt er dagegen für sein Tier, so folgt es ihm willig. Am Wohltun erkennt das Tier seinen Herrn. Auf dieselbe Weise kam Israel zur Erkenntnis Gottes; Er hat ihm wohlgetan. Was hast du, dass du nicht empfangen hast? Warum kennt Israel Gott dennoch nicht? Wir Menschen können Wohltaten empfangen und undankbar sein. Das kann das Tier nicht, weil es in der Regel der Natur bleibt. Der Mensch kann dagegen die Natur in sich zerstören und er zerstört sie, indem er die Gabe empfängt und den Dank verweigert. Wie kann nun das undankbare Volk aus seiner Unnatur und Undankbarkeit herausgezogen werden? Neue Wohltat wirbt mit verstärkter Kraft um den Dank und herrlichere Gabe pocht an die verschlossene Tür des Herzens und versucht sie zu öffnen. Weil Israel das nicht konnte, was der Ochse und der Esel können, gab Gott ihm seinen Sohn. Wir sind aber alle eines Geblüts und tragen dieselbe Art an uns. Israel ging nicht eigene Wege in dem Sinn, dass es in sich eine Not erzeugte, die niemand als ein Jude fertig bringt. Sie quält uns alle. Auch mir zeigt dieses Wort mein Bild. Wir nehmen die natürlichen Gaben hin als unser selbstverständliches Recht, danken nicht und kennen den Geber nicht. Die eigensüchtige Begehrung bäumt sich auf und verfährt mit dem natürlichen Gut, als wäre es ihrer Macht unterworfen, und verleugnet den, der sie uns gab. Darum bedarf ich noch einer größeren Gabe und sie ist uns geschenkt. Gottes Sohn kommt zu mir, bringt mir sein Vergeben, bringt mir seine Gemeinschaft, bringt mir seinen Geist. Nun aber, Herz, sei dankbar. Wenn du auch jetzt nicht kannst, was der Ochse und der Esel können, dann bist du tot.
Gottes größte Gabe, Jesus, das bist Du. Gottes hellstes Wort, Jesus, das bist Du. Schaffende Wundermacht der Gnade, Jesus, das bist Du. Deinen Namen nenne ich, damit meine Seele erwache zu Gottes Preis. Amen.(Adolf Schlatter)
1:4 O weh des sündigen Volks, des Volks von großer Missetat, des boshaften Samens, der verderbten Kinder, die den HERRN verlassen, den Heiligen in Israel lästern, zurückweichen!
1:5 Was soll man weiter euch schlagen, so ihr des Abweichens nur desto mehr macht? Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt.
1:6 Von der Fußsohle bis aufs Haupt ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wunden und Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet noch verbunden noch mit Öl gelindert sind.
1:7 Euer Land ist wüst, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen, und es ist wüst wie das, so durch Fremde verheert ist.
1:8 Was noch übrig ist von der Tochter Zion, ist wie ein Häuslein im Weinberge, wie die Nachthütte in den Kürbisgärten, wie eine verheerte Stadt.
1:9 Wenn uns der HERR Zebaoth nicht ein weniges ließe übrigbleiben, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.
1:10 Höret des HERRN Wort, ihr Fürsten von Sodom! Nimm zu Ohren unsers Gottes Gesetz, du Volk von Gomorra!
1:11 Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke.
1:12 Wenn ihr hereinkommt, zu erscheinen vor mir, wer fordert solches von euren Händen, daß ihr auf meinen Vorhof tretet?
1:13 Bringt nicht mehr Speisopfer so vergeblich! das Räuchwerk ist mir ein Greuel! Neumonde und Sabbate, da ihr zusammenkommt, Frevel und Festfeier mag ich nicht!
1:14 Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahrfesten; ich bin ihrer überdrüssig, ich bin's müde zu leiden.
1:15 Und wenn ihr schon eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und ob ihr schon viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.
Mancher Mensch hat einen gar zu großen Gefallen an seinen eigenen Wortgebeten und gefällt sich selber, weil er so hübsch beten kann, und meint, er sei so fromm, er könne so andächtig beten. Das ist ihm auch keine Heuchelei, sondern ein solcher Mensch meint es manchmal recht gut bei seinem Beten. Aber weil zu viel Eigenliebe und zu viel Menschliches darin ist, darum lässt es Gott geschehen, dass einer solchen Seele das Vermögen benommen wird, dass sie es so nicht mehr hervorbringen kann, wie sie es vorher wohl konnte, da sie selbst betete, da sie selbst Betmeisterin war und noch selbst das Ruder führte beim Gebet. Das aber tut Gott darum, damit die Seele dem heiligen Geiste besser Platz geben möge. So weit war auch Paulus gekommen, wenn er sagt: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt.“ Paulus war studiert, er hätte ja wohl Gebete machen können; ja, er hätte wohl Mundgebete tun können, aber das freute ihn nicht. Nein, sagt er, wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's geziemt. Aber der Geist kommt uns zuvor mit unaussprechlichen Seufzern. Wenn demnach der Mensch nach Erfahrung seines Unvermögens beim Gebet nur demütig vor Gott bekennen würde, er könne nicht beten und erwarte so des heiligen Geistes Wirkung in seinem Inwendigen - o so würden manchmal unvermutet unaussprechliche Seufzer in ihm aufsteigen, die vor Gott unendlich würdiger und seiner Seele heilsamer wären als alles selbstgemachte und aus eigener Anstrengung hervorgebrachte mündliche Beten. Und daher kommt es auch, dass wir nicht verharren können im Gebet und dass uns manchmal die Zeit darin zu lang fällt, weil wir dem heiligen Geist nicht genug Raum geben. Lasst uns nur bei all unserem Unvermögen im Gebet als arme, dürftige Bettler vor der Gnadentür unseres Gottes beständig liegen bleiben und nur warten, nur dann und wann in wahrer Herzensdemut und Wehmut ein sehnliches Blickchen nach unserem himmlischen Vater und Erbarmer tun, so wird er selbst, der heilige Geist, auf die erhörlichste Weise in uns beten. (Gerhard Tersteegen)
1:16 Waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, laßt ab vom Bösen;
1:17 lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht, führet der Witwe Sache.
1:18 So kommt denn und laßt uns miteinander rechten, spricht der HERR. Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.
1:19 Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen.
1:20 Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden; denn der Mund des HERRN sagt es.2)
1:21 Wie geht das zu, daß die fromme Stadt zur Hure geworden ist? Sie war voll Rechts, Gerechtigkeit wohnte darin, nun aber Mörder.
1:22 Dein Silber ist Schaum geworden und dein Getränk mit Wasser vermischt.
1:23 Deine Fürsten sind Abtrünnige und Diebsgesellen; sie nehmen alle gern Geschenke und trachten nach Gaben; dem Waisen schaffen sie nicht Recht, und der Witwe Sache kommt nicht vor sie.
1:24 Darum spricht der HERR HERR Zebaoth, der Mächtige in Israel: O weh! Ich werde mich trösten an meinen Feinden und mich rächen an meinen Widersachern;
1:25 und muß meine Hand gegen dich kehren und deinen Schaum aufs lauterste ausfegen und all dein Blei ausscheiden
1:26 und dir wieder Richter geben, wie zuvor waren, und Ratsherren wie im Anfang. Alsdann wirst du eine Stadt der Gerechtigkeit und eine fromme Stadt heißen.
1:27 Zion muß durch Recht erlöst werden und ihre Gefangenen durch Gerechtigkeit,
1:28 daß die Übertreter und Sünder miteinander zerbrochen werden, und die den HERRN verlassen, umkommen.
1:29 Denn sie müssen zu Schanden werden über den Eichen, daran ihr Lust habt, und schamrot werden über den Gärten, die ihr erwählt,
1:30 wenn ihr sein werdet wie eine Eiche mit dürren Blättern und wie ein Garten ohne Wasser,
1:31 wenn der Gewaltige wird sein wie Werg und sein Tun wie ein Funke und beides miteinander angezündet wird, daß niemand lösche.
Das ist eine scharfe Gesetzpredigt, in welcher Gott zum ersten über Sein Volk klaget, daß keine Strafe an ihnen helfen wolle; und weil sie in ihrem gottlosen Leben bleiben - und durch Buße sich nicht bekehren wollen, drohet Er, daß Er weder Opfer noch Gebet von ihnen annehmen, sondern je länger je härter mit der Strafe anhalten wolle. Was uns denn bewegen soll, daß wir in uns gehen und nachdenken, ob wir nicht auch solche seyen, an denen keine Strafe bisher gefruchtet, und die daher noch weiter um der anhaltenden Sünden willen göttliche Strafgerichte zu empfinden haben; was erschrecklich wäre.
Nächst diesem verspricht doch gleichwohl Gott Seinem Volk allhier, wo sie Buße thun, ihr Leben bessern und Gottes Wort folgen würden, so wolle Er mit der Strafe auch nachlassen. Diese Zusage der angebotenen Gnade nun - für den Fall der erfolgenden Buße - soll auch uns erwecken und reizen, daß wir über unsere Sünden bei Zeiten wahre Buße thun - und alles gottlose Wesen ablegen - und künftig frömmer leben, damit wir solcher Verheißung auch theilhaftig werden können. .- Am Ende lasset Gott auch das kleine Häuflein der Frommen trösten, daß Er zwar um der Bösen willen Strafe ergehen lassen werde, nichtsdestoweniger aber die Seinigen darunter erhalten - und sie durch Sein Wort weiter fromm und gerecht machen, auch sonst ihnen alles Gute thun wolle. Wenn also auch unter uns einige gottselige Herzen erfahren müssen, daß Gott mit allgemeinen Stadt- und Landplagen einbreche - und damit das unbußfertige Volk strafe, und sie selbst einige Trübsale dabei leiden, so sollen sie für ihre Person nicht verzagen, sondern geduldig seyn - und sich dem allmächtigen Gott zu Seinem Schutz durchs Gebet befehlen, auch Seiner Zusage sich getrösten und hoffen, daß sie derselbe aus dieser Noth auch erretten - oder durch einen seligen Tod in das Reich Seiner Herrlichkeit aufnehmen - und ihnen alles Leid, das sie hier in der Welt haben ausstehen müssen, mit unaussprechlicher Freude ersetzen werde.
Nun - Gott gebe, daß wir uns durch Seine Strafgerichte, die er uns hie und da empfinden lasset, und auch durch die Drohungen und Exempel derselben aus dem Sündenschlaf erwecken - und durch Seine süßen Verheißungen uns locken lassen, bei Zeiten Buße zu thun lind der Heiligkeit uns zu befleißigen; unter den einbrechenden Strafen der Gottlosen aber erhalte Er alle Frommen und Gottseligen im wahren Glauben - und lasse sie Seine Hilfe sehen - durch Jesum Christum. Amen. (Veit Dieterich)