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-======Tholuck, August - Die Allgegenwart Gottes====== 
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-Die Prediger des göttlichen Worts, wenn sie zu ihrem Schmerze sehen, daß ein Mal wie das andere unter ihrer Predigt die Herzen todt bleiben, wie sie waren, kommen wohl oftmals auf den Gedanken, daß wohl ganz besondere und versteckt liegende Wahrheiten und Gedanken aus der heiligen Schrift herausgeholt werden müßten, um noch einigermaaßen das schlummernde Ohr, und durch das schlummernde Ohr hindurch das schlummernde Herz zu treffen. So verhält es sich nun aber nicht, meine Geliebten. Die einfachsten und schlichtesten Wahrheiten des göttlichen Wortes, die, welche am alleröftesten in demselben wiederkehren, so daß sie jedem Kinde bekannt sind: das gerade sind diejenigen, von denen am meisten der Ausspruch des Propheten gilt, daß das Wort des Herrn ein Hammer ist, der Felsen zerschmeißt. O laßt uns der göttlichen Wahrheit nicht mißtrauen; was sie selber am öftesten und reichlichsten uns zur Nahrung dargeboten hat, gerade das muß gewiß auch die gesundeste Speise für das Menschenherz seyn. So wollen wir denn an dem heutigen Tage eine Wahrheit zu unserer Betrachtung erwählen, an welcher Keiner unter euch allen, die hier gegenwärtig sind, einen Zweifel hegt, eine Wahrheit, die euch schon bekannt war, als ihr die ersten Buchstaben der heiligen Schrift zu Worten zu verbinden ansinget, die aber nichtsdestoweniger, wenn der allmächtige Gott mit seinem Geiste in euer Herz und in das meine dringt und die Worte mit den Gedanken befruchtet, in dieser Stunde auf's Neue wie eine Sonne über uns aufgehen wird, durchdringend die Nacht der Sünde und erquickend alle betrübten Herzen. Gott ist allgegenwärtig, das ist die Wahrheit, die wir in der heutigen Stunde betrachten werden. Und zwar schließen wir diese Betrachtung an die Worte der heiligen Schrift, die wir Jer. 23,23. lesen: "Bin ich nicht ein Gott, der nahe ist, und nicht ein Gott, der ferne ist? Meinest du, daß sich Jemand so heimlich verbergen könne, daß ich ihn nicht sehe, spricht der Herr? Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllet? spricht der Herr." 
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-Gott ist allgegenwärtig - das ruft uns unser Text in der erhabensten Sprache zu, und so lasset uns denn miteinander zuvörderst betrachten: Was lehrt uns die heilige Schrift über die göttliche Allgegenwart? und sodann: Welche Empfindungen erweckt diese Lehre bei dem unversöhnten und bei dem versöhnten Herzen? 
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-=====I.===== 
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-Was lehrt uns die heilige Schrift von der göttlichen Allgegenwart? Ein dunkles Bewußtseyn dieser Wahrheit ist durch alle Völker der Heidenwelt gegangen. Zwar meinten sie nach außen hin nicht überall gleich nahe von dem Wesen umschwebt zu seyn, vor dem ihre Kniee sich beugten: aus der Tiefe stiegen sie auf die Bergeshöhen, um der mütterlichen Kraft näher zu kommen, die das All hält und trägt, eilten aus ihrer Heimath nach fernen geheiligten Stätten, wo der Himmel sich tiefer herabneiget zu dem Beter - aber nichtsdestoweniger sagte ihnen ein dunkles Bewußtseyn, daß der, den sie suchten, bei ihnen sei, noch ehe sie nach ihm ausgegangen. In der Macht des Gewissens haben alle Völker der Erde den allgegenwärtigen Gott verehrt. Tief in die Brust ist sie hineingepflanzt, jene räthselhafte Macht - ein so leiser, blöder, zarter Geist, der so leicht zum Schweigen gebracht werden kann, und doch wieder eine Gewalt, die, wenn sie dräuend den Zeigefinger erhebt, den erschreckten Sterblichen zu Boden stürzt. In deinem eignen Busen, in dem, was du dein innerstes Ich nennst, hat sie ihren Thron aufgeschlagen, und doch redet sie von demselben dich mit Du an, und du mußt ihr dienen. Wie fand sie hinein den Weg in dein innerstes Wesen, jene himmlische Gewalt? Was Wunder, wenn in diesem Geheimnisse der Brust alle Völker der Erde das Geheimnis; des allgegenwärtigen Gottes geahnet und gefühlt haben! O daß denen von euch, deren Ohr für die Predigt der heiligen Schrift verschlossen ist, wenigstens jene hellen Stimmen predigten, welche in den Sängern der alten Heidenwelt prophetisch gezeugt haben von der Macht des Gewissens als des allgegenwärtigen Gottes, "von jenen uralten Gesetzen, - wie ein alter griechischer Dichter sie nennt - die aus der Höhe herabgekommen, in himmlischem Aether gezeugt, die keine sterbliche Natur der Menschen geboren und Vergessenheit nimmer bedecken wird, in denen ein großer Gott waltet, der nimmer altert!" Auch die heilige Schrift, meine Andächtigen, lehrt uns den Allgegenwärtigen zunächst aufsuchen in dem Heiligthume unserer eigenen Brust. Ist es nicht ein Bewußtseyn innerer Gottesnähe, welches den Psalmisten sagen läßt: "Wo soll ich hingehen vor deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten." Es ist der Geist, das Angesicht Gottes, welches ihn überall hin begleitet; er ist dessen sich bewußt worden, ob er auch gen Himmel führe, oder sich in die Hölle bettete: er zieht immer mit, jener Geist, der die Menschen straft um ihrer Sünde willen, jenes göttliche Angesicht, das sie mit flammendem Auge ansieht. - Als der Apostel in Athen auftritt, da kann er nicht hinweisen, wie er es so gern thut, auf jenes Gotteswort, welches Israel auf seinen pergamentenen Rollen hat, da weist er auf ein noch älteres Gotteswort hin in der Menschenbrust und verkündigt, daß Gott die Menschen geschaffen habe, "ob sie Gott suchen und finden möchten, und zwar ist er nicht ferne von einem Jeglichen unter ihnen." Den Gott zu finden, nach dem sie über die ganze Erde hingeeilt waren, nach dem sie sehnsuchtsvoll ihre Hände ausgestreckt hatten auf den Höhen der Berge, weist er sie in die Tiefen der eigenen Brust, wo er gegenwärtig ist ohne Schranken der Orte und der Zeit. Worauf anders weist das merkwürdige, geheimnißvolle Wort des Herrn hin, wenn er uns sagt: "Wer da höret vom Vater und lernet von ihm, der kommt zu mir." O daß der liebe Gott mir doch die Gnade schenkte, daß ich wenigstens dieses Eine Wort recht an euer Herz legen könnte - es ist ein so ahnungsreiches Wort: "Wer den Vater höret und lernet von ihm, der kommt zu mir." O Mensch, Mensch! wie bist du so hochgeehrt, daß der, welcher Himmel und Erde geschaffen, in dir selber von sich selber dich belehren will! Ich bitte euch, gehe Keiner heute aus diesem Gotteshause, in dem es nicht nachklinge ohne Unterlaß: "Wer vom Vater höret und lernet von ihm, der kommt zu mir." So gibt es denn auch nach diesem Worte des Herrn einen Altar göttlicher Offenbarung in einer jedweden Menschenbrust, eine heilige Bundeslade, in der das Gesetz Gottes liegt, mit unauslöschlichem Zuge geschrieben, und über welcher der Heilige Israels thront und zu den Menschen redet, und sie hinschickt zu dem Sohne seiner Liebe, wo die Mühseligen erquickt werden. 
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-In allen diesen Aussprüchen, meine Andächtigen, bezeugt uns die Schrift, daß er uns Allen nahe ist, daß er gegenwärtig ist in unserm Innersten. Aber er ist nicht bloß uns nahe, jener Unsichtbare, der meine Lippen regiert, während ich zu euch rede, sondern allüberall waltet und webet er, und den Kometen in seiner Bahn, wie das Würmchen, das im Staube kriechet, hat er in den weiten Schatten seines Mantels gehüllt. "Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllet?" spricht der Herr in unserm Texte. "Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da." 
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-Lasset uns zuvörderst diejenigen Worte der heiligen Schrift erwägen, welche mit diesen Aussprüchen im Widerspruche zu seyn scheinen. Hat nicht auch - werdet ihr sagen - Israel seinen Gott vorzugsweise gesucht, gleichwie auch andere Völker, in dem steinernen Gebäude, welches seiner Anbetung bestimmt war? Allerdings! aber habt ihr nicht vernommen, wie Salomo, gerade als er dieses Gotteshaus ihm aufrichtet, ausruft: "Siehe, der Himmel Himmel mögen dich nicht fassen, wie möchte es dieses Haus thun!" Daß der Heilige Israels derjenige heißt, welchen Himmel und Erde nicht fassen kann, und daß doch wieder vorzugsweise das Gotteshaus die Stätte heißt, wo er wohnet: das ist kein Widerspruch. "Nahet euch zu mir, so nahe ich mich zu euch." Je näher du ihm, desto näher er dir. Wiederum spricht der Herr: "An der Stätte, wo ihr mich suchen werdet, werde ich mich finden lassen." Ist nun nicht aber das Gotteshaus die Stätte, wo der Mensch am ehesten Gott nahet, wo er ihn suchet? Wer weiß, ob nicht selbst in dieser Versammlung sich solche befinden, die die ganze verflossene Woche in ihrem Kämmerlein auch nicht einmal ihn gesucht haben? Hier seid ihr hergekommen mit unzerstreutem Sinne, hier wird es ein Mal stille um euch, ja hier weckt die Andacht, die ihr in der Gemeinde sehet und Einer aus des Andern Zügen leset, eure schlafenden Gemüther. Sollte nun nicht auch Gott hier euch näher kommen? Ja, so lange du dein Kämmerlein nicht selbst zu einem Tempel gemacht, so ist der Tempel Gottes das Haus, wo er vorzugsweise sich finden läßt. 
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-Das Wort der Offenbarung nennt ferner unsern Gott einen Gott, der im Himmel ist. Aber auch hier gilt: "An der Stätte, wo ihr mich suchen werdet, will ich mich finden lassen." Warum anders beten wir: "Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden", als weil hier auf Erden die Sünde wohnt und der Jammer, in jenen andern Welten aber jene heiligen Geister wohnen, die in der ursprünglich ihnen angeschaffenen Unschuld verharret sind und der Anbetung ihres Herrn leben ohne Ende, also daß jene höhern Reiche recht eigentlich ein Tempel Gottes sind, darin er vorzugsweise wohnt? Zugleich aber auch soll durch diese Bezeichnung dem Menschen auf eine solche Weise, daß auch das Kind es fassen mag, dargestellt werden, daß der, welcher die Erde und Alles, was darinnen ist, hält und trägt durch sein allmächtiges Wort, selbst erhaben ist über ihre Schranken und ihre Flecken - heiter und unwandelbar, wie jene leuchtenden Sternenheere, unter deren Fußboden die Wolken hinziehen. So ist denn also das Wort der heiligen Schrift nicht mit sich selbst im Widerspruch, wenn es denselben, dessen Reich die Unermeßlichkeit ist, vorzugsweise seine Wohnung aufschlagen läßt da, wo seines Namens Gedächtniß waltet, da, wo die Geschöpfe voll von ihm sind. Ein Kindlein fragte einst unter dem hellen Sternenhimmel seine Mutter: "Liebe Mutter, sind denn das die offenen Stellen, wo die Herrlichkeit Gottes durchscheint?" Sehet, so ist der Glanz seiner Gegenwart allüberall, und bricht dennoch an etlichen Stellen mit besonderer Herrlichkeit hindurch. 
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-Wie aber alle göttliche Wahrheit nur dann auf vollkommene Weise auf das Gemüth würkt, wenn sie ungetrennt in ihrer ganzen Fülle sich demselben darstellt, so erhält auch diese Lehre der heiligen Schrift von der Allgegenwart der Gottheit ihre rechte Bedeutung erst dann, wenn wir uns immer zugleich nach der heiligen Schrift an die Beschaffenheit dessen erinnern, der auf diese Weise überall gegenwärtig ist Allem, was da lebet und webet. Wohl gibt es kaum irgend einen Menschen, und es hat kaum einen Heiden gegeben, der nicht in dem wunderbaren Walten im gesammten Reiche der Dinge eine geheimnißvolle, ewige Kraft ahnete. Wer kann sich hinstellen in die Natur am Blüthenmorgen des Frühlings oder in der Sternennacht, ohne das Rauschen eines Lebensstromes zu vernehmen, der vom Orion sich herabgießt bis in die innersten Eingeweide der Erde? Vernimmst du aber keine andere Stimme, als das dunkle Rauschen eines unbekannten Stromes, in dem du selber wieder nur eine einzelne kleine Welle bist - sage, wie wird dir zu Muthe? ergreift dich nicht ein Schauer? O ich habe es erfahren müssen, schon in früher Jugend erfahren müssen, jenes Gefühl, in dem All der Welt eine unendliche Macht zu ahnen, und keinen Namen für sie zu haben, nicht mit festen Gründen zu wissen, daß es die Macht der Heiligkeit und der Liebe ist! - Aber es zu wissen, ja nicht bloß es zu wissen, es mit vollem Herzen zu glauben, es auf das Wort Eines zu glauben, auf dessen Wort Verlaß ist, daß jener Lebensstrom der der Liebe und Heiligkeit ist, daß er aus dem Herzen dessen quillt, der feinen eingebornen Sohn dahingegeben, auf daß die Welt das Leben habe - o wie das auch den Glauben an einen allgegenwärtigen Gott zu etwas ganz Anderem macht! 
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-=====II.===== 
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-Lasset uns näher erwägen, welche Empfindung diese Wahrheit erweckt in dem unversöhnten Herzen und in dem versöhnten Herzen. 
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-Wenn wir von unversöhnten Menschenherzen reden, so müssen wir allezeit unterscheiden die schlafenden und die aufgewachten. Für das Herz, welches todt ist für die göttliche Wahrheit, ist auch die göttliche Wahrheit todt. Doch wir sprechen hier von einer Wahrheit, für die, wenigstens in unserer Christenheit, wohl nirgends ein ganz erstorbenes Gemüth gefunden wird. Es mag seyn, daß auch unter uns es Etliche gibt, die mit ihren Lippen wenigstens aussprechen, daß sie von dem Allgegenwärtigen nichts wissen, dieweil sie ihn mit ihren sinnlichen Augen nicht sehen, und mit ihren Händen nicht greifen mögen. Es ergeht ihnen wie jenen Thoren, die an die Luft um sie her nicht glauben, dieweil ihr Auge sie nicht sieht, und ihre Hand sie nicht greift, aber - laß den Sturmwind erwachen, und die unsichtbare Macht wird eine Gestalt vor ihrem Auge gewinnen! laß den Sturmwind erwachen, und das unsichtbare Wesen wird vor dem Gottesleugner Gestalt gewinnen, o eine so mächtige und wahrhaftige Ge" statt, daß Alles, was sonst in der sichtbaren Welt ihm als Würklichkeit dünkte, ihm zum Schatten werden, und allem Schatten gegenüber als die einzige Wahrheit vor seiner Seele stehen wird: es ist ein Gott! Nur vergessen, nicht leugnen kann der Mensch den Allgegenwärtigen. So haben sie ihn denn vergessen, die Hunderte und die Tausende, die über der Erde hinwandeln und zufrieden sind, in dem Scheine der irdischen Sonne zu spielen. Aber wie wenn der Unglückliche, den der morgende Sonnenaufgang zum Schaffet weckt, eine Weile sorglos schlummert und auf einmal aufschreckt, wenn die Todtenglocken schallen, so schreckt der Gottesvergessene auf, weil auf einmal die Stimme wieder in sein Ohr fällt: Mensch! ich, der Heilige Israels, bin! - Da ich nun also voraussetzen kann, daß unter euch Keiner vorhanden ist, der den Allgegenwärtigen leugnete, so frage ich euch, die ihr ohne Christus vor dem göttlichen Gericht erscheinen wollt, im Namen des allgegenwärtigen Wesens, das jetzt unter uns ist, das jetzt uns zusieht, das in dein Herz hineinsieht, das aus deinem Herzen herausredet - Erstens: Ist dein Wandel beschaffen wie der eines Menschen, mit welchem auf jedem seiner Schritte ein aufgeschlagenes Gottesauge geht? Zweitens: Ist dein Denken und Fühlen und Dichten und Trachten wie das eines Menschen beschaffen, bei welchem ein heiliges Gottesauge in jedem Augenblick in die Dunkelheit hineinsieht, die du vor Menschen zudeckst? Drittens: Ist dein Dichten und Trachten, dein Wollen und dein Handeln das eines Menschen, der da weiß, daß jenes unsichtbare Wesen unaufhörlich mit unsichtbarem Griffel deine Rechnung schreibt? Wenn Niemand hier gegenwärtig wäre, als wir, die wir uns hier versammelt haben, vielleicht wagtest du das Ja, aber wir sind nicht allein hier gegenwärtig, wir die hier Versammelten: Er ist gegenwärtig! und vor Seiner Gegenwart, wahrlich, da kann sich über die zitternde Lippe nichts Anderes drängen, als ein verzweiflungsvolles Nein! O lieber Mensch, du hast das Wort "Heuchler" oftmals gebraucht von denen, deren Wandel ihr Bekenntniß Lügen straft, und nicht mit Unrecht - aber wie nun du, der du bekannt hast, daß du an den Allgegenwärtigen glaubst? Siehe, dein ganzes tägliches Treiben straft dein Bekenntniß Lügen. Heuchler! muß dir hier der Verkündiger des göttlichen Wortes entgegenrufen; Heuchler! ruft's aus deiner eigenen Brust hervor; Heuchler! wird er dir einst zurufen, der Allgegenwärtige, wenn er gekommen, zu Gericht zu sitzen mit seinen heiligen Engeln. Und gesetzt, daß du es vermöchtest, deine Werke allzumal zu versammeln und darzulegen vor dem unsichtbaren Auge; aber wie steht es mit der Welt deiner Neigungen, Gelüste und Gedanken? Freunde, wir hoffen auf eine Zeit, wo in dem Reiche unsers lieben Herrn seine Kinder nicht mehr des schwerfälligen Wortes bedürfen werden, um zu erfahren, was in der geheimen Kammer des Herzens vorgeht, wir hoffen auf eine Zeit, wo wir Einer dem Andern werden frank und frei in dem Herzen lesen; doch ach, wie viel muß noch die reinigende Gnade an uns thun, ehe der Gedanke für uns ein beseligender seyn kann! Ich frage auch: Wer ist unter euch, der auch nur vor dem geliebtesten Menschen die innerste Hülle seiner Seele abthun möchte, und in seiner ganzen Nacktheit und Blöße offenbar werden? - Aber siehe, was du deinem vertrautesten Freunde nicht magst offenbar werden lassen, das mußt du offenbar werden lassen vor dem, der einst dein Richter ist. Gerade in diese innerste Blöße deines Herzens schaut er mit unverhülltem Auge. O wenn sie sich um dich her versammeln werden: alle deine bösen Gedanken, alle deine unreinen Gelüste von Jugend an, und werden ihre Stimme wider dich erheben - Mensch, welch' eine große Schaar! Mensch, wo willst du hingehen vor seinem Geist, wo willst du hinfliehen vor seinem Angesicht? 
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-Wo anders willst du hinfliehen, als zu dem Fürsprecher, den wir haben in Christo Jesu? Hast du hier die Zuversicht gewonnen, dereinst bestehen zu können im Gericht, und ein Erbe zu werden der Seligkeit: o wie ganz anders sind dann auch die Empfindungen, mit denen der Gedanke an die göttliche Allgegenwart das Menschenherz erfüllt! Was dieser Gedanke im versöhnten Menschenherzen zuerst weckt, das ist allerdings auch, gleichwie in dem unbekehrten Herzen, die Furcht. Allüberall um uns herein aufgeschlagenes heiliges Auge zu wissen: hier unten auf der Erde, droben, wenn du hinaufsteigst unter die stillen Sterne, allüberall - wie soll es nicht auch das gläubige Herz, das ja doch noch so viele Schlupfwinkel der Lust in sich weiß, mit Fürchten erfüllen? Aber, Gott sei Dank, die Furcht ist nicht mehr knechtisch, sondern kindlich. Es ist eine ehrfurchtsvolle Scheu, das majestätische Wesen zu betrüben, welches so überschwenglich reich an Erbarmen sich herabgelassen hat zu dem, der Staub und Asche ist, und ihn an Kindes Statt angenommen. Niemand unter euch wolle das apostolische Wort mißverstehen, daß "die vollkommene Liebe die Furcht austreibe," als wäre auch die heilige Scheu und Ehrfurcht vor Gott damit ausgetrieben. Nein, so wenig ist diese mit der vollkommenen Liebe zu einem höhern Wesen in Widerspruch, daß sie vielmehr nothwendig durch dasselbe vorausgesetzt wird. Liebe zu einem Höheren muß mit in sich schließen die Scheu vor seiner Majestät. Und so ruft uns denn auch das Wort des neuen Bundes zu: "Sintemal ihr den zum Vater anrufet, der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeglichen Werk, so führet euren Wandel, so lange ihr hier wallet, mit Furcht!" (1 Petr. 1,17.) Und wiederum; "Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern!" 
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-Diese Furcht des versöhnten Herzens vor dem allgegenwärtigen Gotte ist aber auch zugleich verbunden mit einer seligen Zuversicht. Das eigene Herz, wie wir sahen, war jene lichte Stelle, wo sich dem Menschen am deutlichsten, in der Stimme des Gewissens, der Allgegenwärtige als der Richter offenbarte; das eigene Herz ist wiederum bei dem Gläubigen jene lichte Stelle, wo der Allgegenwärtige sich offenbart als der versöhnte Vater. 
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-Es ist das Zeugniß des Geistes Gottes an den Menschengeist, in welchem der Gläubige am unmittelbarsten die Nähe seines Gottes inne wird. O ihr, die ihr wisset, was die Gemeinschaft mit Gott, dem Vater Jesu Christi ist, nicht wahr, Er kann unaussprechlich dem Menschenherzen nahe kommen mit seiner Vaterliebe? - kann mit so vernehmlicher Stimme zu dir sprechen: "Fürchte dich nicht, seitdem du angenommen bist in dem Geliebten, bist auch du mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe?" Und wenn der nun mit uns geht allerwege, der solch' tröstliche Worte zu unserer Seele spricht, da sollte nicht allerwege eine selige Zuversicht uns begleiten? 
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-Mit dieser Zuversicht, welche das Innewerden des Allgegenwärtigen einflößt, ist nun auch verbunden der Muth. Der Glaube des versöhnten Herzens an den Allgegenwärtigen gibt Muth - Muth im Leben, Muth im Sterben. Je mehr das Herz von Gott entfremdet ist, desto weiter denkt es sich ihn hinweg. "Gewölk ist seine Decke, daß er nichts sieht, und am Kreise des Himmels wandelt er" - das ist die Sprache des Gottlosen. (Hiob 22, 14.) So haben die kalten Herzen ihn allezeit weit hinausgesetzt jenseits der Wolken, und so fehlte denn auch in der Stunde der Noth der fröhliche Muth des Vertrauens auf diesen weiten, fernen Gott. Das versöhnte Herz hat einen unaussprechlich nahen Gott, und wie sollte es nicht, da der Vater sammt dem Sohne Wohnung darin gemacht hat? Den nahen Gott nimmt es mit in die Hitze des Streites. Als dort Elisa's Knabe die Macht der Rosse und der Wagen sieht um die Stadt und weinet, thut der Prophet sein Auge auf und der Herr öffnet dem Knaben die Augen, und siehe, da war der Berg voll feuriger Rosse und Wagen um ihn her. (2 Kön. 6, 17.) Siehe, solche aufgethane Augen erhält das versöhnte Herz in allen seinen Kämpfen, und schaut die unsichtbaren feurigen Mächte, die zu seinem Schutze umhergelagert sind, mit den Augen des Glaubens, und jauchzt laut mit dem Propheten: "Derer die für uns sind, sind mehr als derer, die wider uns sind!" - Und dieser Muth bleibt, bleibt bis zum letzten Kampf und Strauß. Es ist ein finstres Thal, das Thal der Todesschatten, ein kaltes, finstres Thal; aber der, der allüberall ist und Himmel und Erde erfüllet, erfüllet auch das finstre Thal mit seiner Gegenwart. In der Stunde, wo Alles unter dir zusammenbricht, wirst du seine Vaterarme unter dir ausgebreitet fühlen, und sie werden dich tragen, und wie man das Wochentagskleid austauscht mit dem Festtagskleide, so wirst du die Zeit vertauschen mit der Ewigkeit. - 
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