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unbekannt - Zur Kasseler Bewegung

unbekannt - Zur Kasseler Bewegung

Eingesandt von mehreren Brüdern

In den letzten Wochen bildet das Tagesgespräch unter den Gläubigen der verschiedensten Denominationen die sogenannte Casseler Bewegung. Manche Brüder, darunter solche, deren Namen auch in unsern Kreisen einen guten Klang haben, haben sich aufgemacht, um in Cassel dieses sogenannte Pfingstwunder an Ort und Stelle zu beobachten und zu prüfen. Von diesen Beobachtern haben mehr wie einer den Eindruck mit nach Hause gebracht, „das Werk Gottes gesehen zu haben“ Andere sind aus ihrer abwartenden Stellung nicht herausgekommen und wieder andere stehen der Bewegung ablehnend gegenüber. Da dieselbe nun nicht auf Cassel beschränkt geblieben ist, sondern sich weiter ausgedehnt hat und sich noch fortwährend weiter zu verbreiten scheint und außerdem sich die verschiedenen christlichen Blätter mit dieser Frage befaßt haben, so halten die Einsender dieses es für dringend wünschenswert, daß sich auch unser Gärtner zu dieser Frage äußert oder doch seine Spalten zu einem Meinungsaustausch darüber freigibt. Umso mehr erscheint uns dies notwendig, als wir bereits der Meinung begegneten, daß die in Frage stehende Bewegung aus unserem Kreise hervorgegangen sei. (Diese Vermutung beruht auf der irrigen Annahme, daß der geistige Leiter der in Frage stehenden Bewegung, Der Br. Heinrich Dallmeyer in Cassel, früher Prediger der freien evgl. Gemeinde in Langendreer gewesen sein.) Um eine Besprechung herbei zu führen, möchten wir deshalb den Gärtner-Lesern in Nachstehendem die Beobachtungen, welche wir in Cassel und in den Nachbarbezirken gemacht haben, unterbreiten.

Wunderbare Dinge waren uns schon zu Ohren gekommen. Als wir in Cassel angekommen waren, erfuhren wir, daß in den Versammlungen alle Gaben der apostolischen Zeit wie Zungenreden, Weissagen, Krankenheilen neu geschenkt seien. Die Versammlungen wurden im Blaukreuzhause abgehalten. Die Leitung lag in den Händen der jetzt sehr bekannt gewordenen Brüder August und Heinrich Dallmeyer. Nach Gesang eines Liedes weist für gewöhnlich einer der Genannten in einer kurzen, inhaltlich der Bewegung angepaßten Ansprache darauf hin, daß an den Versammlungen teilzunehmen nur Gläubige berechtigt seien. Aber auch von diesen sollten nur diejenigen teil nehmen, welche 1) auf die Erfüllung von Joel 3 warten, 2) bereit seien, die Sünden der Vergangenheit Gott und Menschen zu bekennen und zu ordnen und 3) welche nicht mit einem kritischen Geist erschienen seien. An diese Ansprache schließt sich die Gebetsversammlung an. Es wird manchmal stundenlang gebetet. In bunter Folge hört man bald hier einen Mann, bald dort eine Frau, bald eine kleinere, bald eine größere Zahl von Personen zur selben Zeit um völlige Reinigung oder die Taufe mit dem Heiligen Geist beten, seufzen, rufen, schreien, bald weint, bald jauchzt es durch die ganze Versammlung.

Der Höhepunkt der ganzen Versammlung wird erreicht, wenn die vermeintlich mit der Zungengabe ausgerüsteten beiden Casseler Brüder J. und B. in Verzückungen geraten und unter heftigen körperlichen Erschütterungen in unverständliche Laute ausbrechen, die von ihnen nachher angeblich ins Deutsche übersetzt werden. Beispiele dieser Aussagen sind: „Der Saal ist halb voll Diebe; hinaus mit den Dieben.“ - „Es sind junge Leute hier, die haben Jugendsünden begangen, sie sollen hinaus gehen.“ - „Wer nicht hinausgeht, dem werde ich seine Sünden an die Stirne schreiben.“ (Der Leiter der Versammlung fordert diejenigen, die es betreffe, energisch auf, den Saal zu verlassen und eventuell zu einem Seelsorger zu gehen, deren einige vorgeschlagen wurden; viele folgten der Aufforderung). „Kommt mit euren Sünden unters Kreuz.“ - „Ich will euch noch tiefer in den Staub beugen.“ - „Ich bin heilig, und ihr sollt heilig sein.“ - Das Beten, Seufzen und Schreien der Versammlung nimmt zu. Manche geraten in nervöses Zittern, schlagen mit Händen und Füßen, fallen zu Boden. Bald biete die Versammlung ein Bild der Aufregung, des Jammers, des Entsetzens. Nur wenige bleiben ruhig. In diesem Stadium wird die Menge derartig erregt, daß die Leiter sich wiederholt genötigt sahen, selbst zungenredende und lärmende Verzückte zum Schweigen aufzufordern, ja, es hat schon die Auflösung der Versammlung erfolgen müssen.

Auf uns haben die Versammlungen einen wenig sympathischen Eindruck gemacht. Derartige tumultuarische Gottesdienste scheinen uns wenig darnach angetan zu sein, auf die Gegenwart des Herrn schließen zu lassen, dessen Geschrei man nicht hörte auf der Gasse. Daß freudig bewegte Menschen viel singen, erscheint uns durchaus natürlich. Daß aber solche, die den Namen des Herrn anrufen, in ein derartig Treiben hinein geraten, können wir nicht begreifen. Eine solche Unordnung in den Versammlungen, ein solches Durcheinander ist unmöglich mit den Ermahnungen des Apostels im 14. Kapitel des 1. Korintherbriefes in Einklang zu bringen. Die Worte: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein Gott des Friedens,“ und „Die Geister der Propheten sind den Propheten untertan“ bedürfen unseres Erachtens ganz besonderer Beachtung in Cassel.

Ob überhaupt bei dieser Bewegung ein Reden in Zungen, d.h. in anderen Sprachen in Frage kommt, wollen wir ununtersucht lassen, da wir uns darüber ein maßgebendes Urteil nicht gestatten können. Uns ist dieses „Reden“ jedenfalls mehr wie ein krampfhaftes Auspressen unartikulierter (ungegliederter) Laute vorgekommen, das mit einer menschlichen Sprache wenig Aehnlichkeit zu haben schien. Auch fiel uns die Armut dieser „Sprache“ an Vocalen (Hellauten) auf. Sehr bedenklich ist uns aber bei diesem „Zungenreden“, daß es an jeder Kontrolle fehlt. Daß das auf dem Pfingstfest in Jerusalem geredete Wort, von den anwesenden Fremden verstanden wurde, geht aufs Bestimmteste aus Apostelg. 2, 8-11 hervor. Nach 1. Kor. 14,27.28 soll in der Gemeinde Regel sein, daß einer es auslege. In beiden Fällen finden wir demnach eine Kontrolle des in Zungen Redenden, in Cassel aber nicht. Ferner ist uns aufgefallen, daß in Cassel weder von einem Verkündigen der großen Taten Gottes (s. Apostelg. 2,11) noch von einem Gespräch des Verzückten mit Gott (s. 1. Kor. 14) die Rede sein kann. Das, was in Cassel gesagt worden ist, konnte vielmehr höchstens unter den Begriff des Weissagens fallen. Aber auch dann sind wir sehr ängstlich einem solchen Weissagen gegenüber. Das, was gesagt ist - und sehr häufig zu wiederholten Malen - erscheint uns (so wichtig einzelne Worte im gegebenen Fall mal sein mögen) in diesen Versammlungen doch eigentlich banal (gewöhnlich.

Was uns am meisten unangenehm - und wir möchten fast sagen widerwärtig - ist, sind die erwähnten, anscheinend nervösen Anfälle, Zuckungen und das tumultuarische Geschrei und Gezeter. Uns kommen solche Erscheinungen geradezu unheilig und unheimlich vor. Manchem wird auch schon mit uns aufgefallen sein, daß der „Zungengabe“ im Gegensatz zu 1. Kor. 14 eine offenbar viel zu große Bedeutung beigelegt wird, da Paulus doch lieber fünf Worte mit seinem Sinn (Vernunft) als 10000 Worte in Zungen reden will.

Das Einzigste, was als eine Frucht des Heiligen Geistes angesehen werden könnte, ist unseres Erachtens die Beugung der Christen. Sehr viele, auch Pfarrer und Prediger, haben in diesen Tagen öffentlich ihre Versündigungen bekannt und bereut, und diese Beobachtung ist für viele verführerisch.

Trotzdem vermögen wir nicht in der Casseler Bewegung „das Werk Gottes zu sehen.“ - Wir können nach dem, was wir gesehen und gehört haben, in der ganzen Bewegung nur geheimnisvolle, aber sehr wirksame Mächte erblicken. Eine bündige Erklärung vermögen wir uns bis jetzt nicht zu geben. Daß Mächte aus dem Abgrund tätig seien, wagen wir auch nicht zu behaupten. Dagegen vermuten wir - ohne auch dies erklären zu können - die Wirksamkeit menschlicher, uns geheimnisvoller Kräfte. An Suggestion zu denken, liegt auch schon um deswillen nahe, als uns bisher noch niemand bekannt geworden ist, der direkt, ohne mit einem bereits angeblich Geistesgesalbten in Berührung gekommen zu sein, dieser sogenannten Geistestaufe teilhaftig geworden wäre. Wir haben später mehrere Christen gesprochen, welche derselben teilhaftig geworden sind. Alle aber erklärten uns, daß sie ein „Durchströmen“ ihres ganzen Körpers , meist mit heftigen Zuckungen verknüpft, gespürt hätten., Die Casseler Versammlungsbesucher sind uns nicht weiter bekannt geworden. Dagegen kennen wir an verschiedenen anderen Orten Geschwister, welche des Segens teilhaftig geworden zu sein glauben. Wir müssen ihnen (fast ohne Ausnahme) das Zeugnis ausstellen, daß sie, soweit wir sie kennen, das aufrichtige Streben gezeigt haben, vor dem Herrn zu wandeln. Dagegen ist uns aufgefallen, daß manche derselben körperlich nicht ganz gesund und jedenfalls die meisten unter ihnen nur mangelhaft mit den grundlegenden Schriftwahrheiten vertraut schienen. Aufgefallen ist uns weiter, daß die erwähnten Geschwister schon früher einer unnüchternen Heiligungslehre zugetan waren. Nach unserer Auffassung steht und fällt die Casseler Bewegung mit der Lehre von einer besonderen „Geistestaufe“. Sobald diese, nach unserer Meinung unbiblische Lehre nicht mehr verkündigt wird, wird all das Unordentliche und zum Teil Beängstigende in der Bewegung aufhören, dann bleibt nichts mehr übrig wie eine ganz gewöhnliche Versammlung, die sich von unseren gewöhnlichen Versammlungen dadurch unterscheidet, daß sie an Geist ärmer wäre. Vielleicht dienen diese Zeilen dazu , daß sich auch andere Brüder über frühere ähnliche Erscheinungen (Irvingianer, Flagellanten etc.) äußern.

Soweit das Eingesandte. Wir haben mit der Veröffentlichung desselben gewartet, bis die in der vorigen Nummer angezeigte und von Br. Otto Schopf in Witten verfaßte Schrift „Zur Casseler Bewegung“ (Preis 20 Pfg., Verlag Joh. Schergens GmbH in Bonn) fertig gedruckt vorlag. Wir bitten, daß alle Brüder, die sich Verstand und Urteil genug zutrauen, sich dieses Schriftchen anschaffen und mit dem vorstehenden „Eingesandt“ vergleichen. Im übrigen soll es uns nur lieb sein, wenn auch andere Brüder sich jetzt im „Gärtner“ äußern.

Zum bevorstehenden „Eingesandt“ bemerken wir aber unsererseits folgendes:

1) Es ist wider die Schrift, von Gläubigen zu verlangen, daß sie eine Erfüllung von Joel 3 erwarten sollen. Joel 3 gilt, wie jeder sehen kann, der den ganzen Joel liest, dem Volke Israel. Eine teilweise Erfüllung desselben ist zu jenem ersten einmaligen Pfingsten eingetreten, die gänzliche Erfüllung desselben wird dem Volke Israel zuteilwerden, wenn es sich zum Herrn bekehren wird. Wir - die Gläubigen aus den Nationen - handeln biblisch, wenn wir als Gläubige zunächst davon überzeugt sind, daß wir den Geist haben; haben wir ihn nicht, so sind wir überhaupt nicht gläubig. Sind wir uns aber mit Schmerzen bewußt, daß er uns nur in geringem Maße gegeben sei, daß wir seiner noch viel mehr bedürfen, so handeln wir biblisch, indem wir den Herrn in Demut und Glauben um ein wachsendes Maß des Geistes bitten. Aber nicht der hat den Geist, nicht der ist erfüllt mit dem Geist, der sich dessen selber rühmt, sondern der, dem der Herr im Gewissen der Andern dieses Zeugnis gibt. Paulus hat ein einziges Mal von sich gesagt, daß er „glaube den Geist zu haben“, aber an einer dieses notwendig machenden Stelle (1. Kor. 7), und wie zart und zurückhaltend tut er es!

2) Es ist wider die Schrift, ein öffentliches Bekenntnis aller Sünden vor Menschen zu verlangen. Darüber hat Professor Ströter im vorigen Jahre, im Januar 1906, im „Gärtner“ einen trefflichen Artikel geschrieben, der hernach auch als Traktat gedruckt wurde und, soviel ich weiß, noch zu haben ist. Sein Titel lautet: „Bekennen und Widergutmachen.“ Wie wenig freilich solche Aeußerungen wie die des Prof. Ströters Wirkung haben, das habe ich kurz nach dem Erscheinen jenes Artikels auf den Fastnachtsversammlungen zu Düsseldorf, wo Prof. Ströter auch zugegen war, sehen müssen. Der bekannte Pastor M., damals noch in M., bearbeitete da in einer geradezu unheimlichen Weise während des gemeinsamen Gebetes die Versammlung, Sünden zu bekennen, und das in Gegenwart von Prof. Ströter. Ein armer Kerl, den Niemand zu kennen schien, bekannte denn auch, daß er Holz gestohlen habe; die übrige Versammlung verhielt sich passiv.

3) Es ist wieder die Schrift, die Prüfung der Geister zu verwehren. Wenn in Cassel diejenigen hinausgewiesen werden, die mit einem Geiste der Kritik gekommen seien, so wollen wir uns darüber nichts vorreden lassen, daß es sich nicht nur um die sogenannten Kritiker dabei handelt, sondern um alle, die prüfen wollen. „Krisis“ heißt nicht nur Gericht sondern auch Prüfung; und gerade der Weissagung gegenüber ist das Richten von der Schrift geboten (1. Kor. 14,29).

Es ist jedenfalls wider die Schrift, das Zungenreden als ein Mittel zur Offenbarung von Sünden anzusehen. Wie man das in der Schrift angeführte „Reden in Zungen“ auch auffassen mag (und der Auffassungen sind mancherlei), zu diesem Zweck ist es in den apostolischen Gemeinden nirgends gebraucht worden. Die Brüder des „Eingesandt“ haben recht, wenn sie das Casseler Zungenreden mehr dem „Weissagen“ anreihen; aber ein Weissagen, wie es etwa Johannes in den 7 Sendschreiben übt, ist es auch ganz und gar nicht.

Bezüglich der Notiz des „Eingesandt“, die von den Beziehungen des Br. H. D1). zu Langendreer handelt, sei hier bemerkt, daß Br. H. D. wohl einige Zeit (meines Wissens etwa 2 Jahre) in Langendreer gewesen ist, aber als „Gemeindehelfer“ im Dienst der Landeskirche.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1907

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Heinrich Dallmeyer
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