Zinzendorf, Nicolaus Ludwig Graf von - 2. Von dem Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Evangelio.
Nachdem der liebe Gott die Nachkommen der Patriarchen in die Wüste geführt, wo Er sie zu Seinem Volk erklärt, geheiligt und von allen Völkern abgesondert hat, dass sie also die wichtigsten Leute in der Welt waren: so war kein besser Mittel, ihnen zu fühlen zu geben, was der Mensch für eine elende Kreatur ist, als dass Er ihnen ein Gesetz gab, das ihnen hundert Sachen verbot, wovon Er wohl sah, dass sie in ihren Herzen Neigung dazu hatten. Daher geschah es, dass „das Gesetz ein Spiegel ward, der ihnen anzeigte die sündige Art in ihrem Fleisch verborgen.“ Denn das Gesetz war nicht so bald gegeben, so wussten jene etliche hunderttausend Leute schon, dass sie keine Lust zum Gesetz hatten, und damit wussten sie auch, dass sie Sünder waren. Wer damals die heutigen deistischen Lehren hatte predigen wollen, dass Gott viel zu gütig sei, als dass Er könnte beleidigt werden, die Leute sollten sich nur in Sein Erbarmen werfen, und es dann darauf ankommen lassen rc. der hätte die Leute in einen Todesschlaf gebracht. Darum sollte das Gesetz Zuchtmeister sein, bis auf Christum, bis auf den Glauben an den Sohn Gottes. Da kam eine andere Zeit, da änderte sich die Methode.
Aber der Sinn Gottes änderte sich nicht. Die Tugend ward nicht zum Laster, noch das Laster zur Tugend, die Heiligkeit blieb Heiligkeit. Aber nachdem der Heiland für die Sünden der Welt gestorben ist, so wäre es sehr weitläufig, die Menschen aus dem Gesetz Mosis zu überführen, dass sie Sünder sin; dazu nimmt der heilige Geist jetzt den Tod Jesu zum Text, und beweist daraus, weil die Sühne nicht anders versöhnt und getilgt werden konnte, dass alle Welt vor Gott schuldig ist, der Heilige mit dem Unheiligen. Da liegen nun alle Menschen über einen Haufen als Sünder, als arme Kreaturen, für die ohne den Heiland keine Rettung ist. Da liegen der Schächer und Stephanus, Henoch und Magdalena, Sünder und Heilige unter einander, sowohl was lebendig gen Himmel gefahren, als aus wem sie den Teufel ausgetrieben worden. Seit dem Tode Jesu verhält sichs also ganz anders mit der Erkenntnis der Sünde und auch mit der Heiligkeit. Kein Gesetz, keine Drohung, und die Hölle selbst kann einen in eine solche Alteration1) setzen, wie es der Gedanke, die Überzeugung tut: „Ach meine Sünden haben Dich geschlagen! Ich, ach Herr Jesu, habe das verschuldet, was Du erduldet.“! Das ist der mächtigste Schlag und die tiefste Verwundung, die ein Herz erfahren kann, und die nicht wieder zuheilt. Vor der Hölle kann man wohl einmal erschrecken, es ist aber auch bald wieder verflattert. Wenn man aber aus Jesu Leiden Gottes Zorn und Gerechtigkeit kennen und fühlen lernt, so hat man genug, auf immer zerknirscht zu sein, und braucht hernach weder Gesetz noch sonst was mehr. Das sanfte Sausen des Evangelii dringt tiefer ins Herz und wirkt mehr Zerknirschung als das Donnern und Blitzen des Gesetzes. Der Herr sah Petrum an; Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. Der Heiland hätte nicht mehr erhalten können wenn Er auch Seine Gerichtsposaune hätte hören lassen.
So schwer auch, ja fast unmöglich die Gebote Gottes im alten Testamente waren, wenigstens wenn sie nach dem Geiste sollten gehalten werden, denn das Gesetz war schon damals geistlich: so hat es doch nie mehr Eigengerechte gegeben, als unter dem jüdischen Volke. Im neuen Testament aber verhält sichs so, dass der wahre Genuss der Seligkeit nie vor der Erkenntnis unsers Elends hergeht. Der Gedanke: Mein Schöpfer ist für mich gestorben, hat meine Sünden gebüßt, ist ein Opfer für meine Sünden geworden, dieser einzige Gedanke lässt einem gar nichts eigenes Gutes, und, wie man sagt, keinen guten Fleck übrig; die bloße Geschichte, dass und wie Er verschieden ist, setzt einen mit sich selber ganz auseinander, und macht einem Leben und Seligkeit und allen geistlichen Wohlstand zu lauter Barmherzigkeiten: „Zeig uns deine Barmherzigkeit, wie unsre Hoffnung zu Dir steht,“ ist ein neutestamentisches Gebet.
So wie es nun mit der Erkenntnis der Sünde ist, so verhält sichs auch mit der Heiligkeit. Unter dem Gesetz waren die Menschen immer im Streit mit sich selber: die Gedanken verklagten und entschuldigten sich über die Heiligkeit und Unheiligkeit. Es überwarf sich im menschlichen Gemüte, weil es nicht recht Lust hatte, heilig zu sein, und doch aus Furcht vor Gottes Zorn nicht gern wider Seine Gebote sündigen wollte. Daher heißt es: „Das Gesetz richtet nur Zorn an;“ man wird erbittert, dass man teils nicht will, teils nicht kann. Aber unter dem neuen Testament ist es ganz anders, da ist Lust und Kraft beisammen; da macht das Leiden Jesu einen solchen Eindruck auf das menschliche Gemüt, dass dadurch wohl nicht alle Anmahnung, Schmerz und Andenken der Sünde weggebracht, aber alles Vergnügen, alles Einverständnis des Gemüts mit der Sünde zerstört wird. Das Alles wird durch den Eindruck von Jesu Tod und Leiden in einem Gemüte, dem der heilige Geist das Lamm Gottes, wie es geschlachtet ward, vor die Augen malt, zugleich unterdrückt, dass es nicht daneben aufkommen kann; „man mag nichts anders denken mehr, nichts sehen, wissen, hören, lieben, ehren,“ als Jesum und Seine Liebe bis in den Tod. Wenn nun Leute denken, und wie sonderlich diejenigen, die sich sehr klug dünken, laut sprechen: „Das wahre Wesen kommt auf die Moral an, ich halte es mit der Moral;“ so kann man ihnen sagen, dass unser menschliches Elend, und insbesondere der schlechte Zustand der Seele nach dem Fall, es ganz untunlich macht, einen Menschen durch bloße Moral in ein tugendhaftes Wesen hineinzubringen, so lange er nicht Geschmack daran hat. In den wieder heidnisch werdenden Ländern reden sie viel von der Schönheit der Tugend; aber es ist den Leuten kein Ernst. Es muss erst in dem menschlichen Herzen dazu kommen, dass Gutestun ihm wahre Lust und Freude, und Sündetun ein Ekel werde, sonst ist nicht an Gutestun zu denken, noch dass es ohne Sündetun abgehen werde.
Wenn nun Leute, die im Opfer Jesu Gnade und Freiheit von Sünden gefunden haben, nichts mit der heidnischen Moral wollen zu schaffen haben, so kommt es nicht daher, dass sie keine Lust hätten, rechtschaffen zu leben, unsträflich und unanstößig unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlechte zu wandeln, oder dass ihnen die Gebote Gottes zu beschwerlich wären, sie sind viel mehr die echten Freunde vom Gesetz, Leute, die das Gesetz nicht verdrießen darf, bei denen es keinen Zorn anrichtet, in so fern es unsers lieben Herrn Sinn und Wille ist, so bald wir daraus sehen können, wie es unser Herr gern hätte; denn da leben wir ja drinnen, und das ist unsre Speise, dass wir Seinen Willen tun. Freilich so lange der Mensch eine Art zu denken hat, die dem Gesetz nicht gemäß ist, so drischt sich das Gesetz an ihm müde, und alle Mühe und Arbeit ist vergebens, er bleibt dem Gesetz immer fremd und abgeneigt, denn er kann nicht so denken. So bald aber Jemand Christi Sinn hat, und lebt mit Ihm und durch Ihn, so ist seine Art zu denken, lauter Gesetz Gottes. Was den Menschen, die außer Christo sind, Zwang und Gesetz heißt, das ist den im Blute des Lammes gerechten Seelen eine Freude, eine Verheißung und Gnade. Wenn also ein solcher Gerechter in der Kraft Christi Alles tut, was das Gesetz des Geistes erfordert, so wird er seines Tuns kaum inne; denn er tut nur, wozu ihn sein Herz, in welchem Jesus lebt, treibt und dringt. Einem Menschen unter dem Gesetz ist befohlen, heilig zu sein, und darunter martert er sich zu Tode. Einem Kinde Gottes ists gegeben, heilig zu sein (Luk. 1,74.75.), und darüber freut es sich bis in Ewigkeit; denn was solche Seelen wollen, das können sie auch, und was sie können, das wollen sie auch tun. Moses hat, bei allem äußerlichen Glanze seiner Haushaltung, Zwang brauchen müssen, den braucht der Heiland bei aller Armseligkeit der Seinigen nicht. Das will nicht sagen, dass die Gläubigen unter dem neuen Testament ein freigeisterisches und gemächlicheres Leben hätten als die Alten unter dem Gesetz gehabt haben: „Wenn eure Gerechtigkeit der Heiland nicht besser ist, als der Schriftgelehrten und Pharisäer, so ists schlecht bestellt.“ Wir werden wirklich genauer gehalten von unserem Hausvater, als Moses und alle Gesetztreiber ihr Volk gehalten haben. Uns wird auch kein Gedanke eingeräumt von Sachen, darin im Gesetz nur das Tun verboten war: und doch sagt Paulus, dem Gerechten sei kein Gesetz gegeben. Christus ist des Gesetzes Ende. Er hat den Zaun weggetan, der zwischen Gott und den Menschen eine beständige Widrigkeit unterhielt, und hat uns Lust gemacht zu Seinem Willen, denn Er hat uns Seinen Sinn gegeben. Ehe dem musste der Stecken des Treibers immer hinter den Leuten her sein, weil sie keine Lust dazu hatten. David sagte wohl: „ich habe Lust zu
Deinem Gesetz;“ aber dafür war er auch ein Prophet und ein Mann nach dem Herzen Gottes. Wenn damals einer das Gesetz unsträflich hielt, so wurde es zum ewigen Andenken in die Zeitbücher eingeschrieben. Nunmehr aber ist eine Seele nicht so bald in den neuen Bund eingetreten, so ist ihr die genaueste Idee des Gesetzes etwas liebliches, ja etwas süßes fürs Herz; denn ein solches Kind der Gnade ist in Christo, und Christus in ihm, es ist ihm eine teuer erworbene und zu einem Privilegio gegebene Seligkeit, so zu werden in dieser Welt, wie Jesus Christus auch war. Da heißt es: „Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen; würdige mich deiner Befehle, sie sind mir süßer denn Honig und Honigseim.“ So wars dem Heiland, wenn Er sagte: „Das ist meine Speise, dass ich tue den Willen meines Vaters;“ und so ists einem jeden wahren Kinde Gottes. Es findet sich keine Widersetzlichkeit im Herzen mehr dagegen; leuchtet einem Alles ein, man kann nicht wohl anders denken. Christi Geist und Sinn macht uns aus Seinem Herzen reden und handeln so gut wir können. Dazu ist kein Stecken des Treibers mehr nötig; man wird nicht mehr damit geplagt und gezwungen, es ist einem selber so im Herzen.
Das ist also der rechte Grund zur Heiligung. Man hat den Heiland lieb, man wäre gern in allen Stücken wie Er. Die Sünde ist einem wie ein Gespenst, sie ist einem zum Verdruss. Hingegen Alles, was man am Heiland sieht, was man sich als den wirklichen Sinn Jesu Christi vorstellen kann, das ist einem Lust und Freude.
Das Gesetz wird dabei nicht vernachlässigt, es geschieht gewiss mehr Gutes, als sonst nie würde geschehen sein; es heißt immer im Herzen: „Kann ich was Gut's tun, ich tu's gern.“ Nichts ist einem so widrig, als das Sündetun, Lust, Ehre und Gewinn sind einem allzu niederträchtige Sachen, als dass man sich damit einlassen sollte, weil man weiß, was man am Heiland hat.
Aus der Betrachtung, was mein Tun gegen Jesu schwere Arbeit ist, wird mir auch alle Mühe leicht, dass ich Alles mit Freuden, mit allen Kräften, mit Dranwagung selbst meiner Gesundheit tue, weil ich auch ohne alle Schwierigkeit mein Leben dran wagen soll in Seinem Dienst. Das ist der evangelische Zustand, so sieht es in der Seele aus, die nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade steht; so wird der Mensch Gottes zubereitet, so wird er unterhalten im Verdienst der heiligen Menschheit Jesu durch das ganze irdische Leben hindurch; darum heißt es ein Privilegium, eine Seligkeit, so dass, wenn einer in der Heiligung weit gekommen ist, man ihn nicht für einen besonders verdienten, sondern für einen besonders glückseligen Menschen hält. Wir dürfen, wir wollen und können heilig sein am Leibe und am Geiste.