Zinzendorf, Nicolaus Ludwig Graf von – Einige der letzten Reden - Dritte Rede.
gehalten am 22. September 1755, über die Worte:
Christus hat im Fleisch für uns gelitten.
1. Petr. 4,1.
In einem alten Passionsliede heißt es: „Was Er ausgestanden, das hat verdienet meine Seel“. Das gibt uns zu der Erinnerung Anlass, dass wir unsere Schlechtigkeit nicht allein in der Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit unserer Hütte, sondern auch in unserer Seele zu suchen haben. Der Mensch hat eine leichtsinnige Seele. Wenn wir Adam und Eva gewesen wären, und zu der Zeit gelebt hätten; wir hättens just so gemacht, wo nicht noch schlechter. Er kennt das arme Gemächte, und weiß viele Dinge in der Seele, die, wenn man auch manches andere entschuldigen wollte, doch nicht entschuldigt werden können.
Wenn man seiner Seele nachgeht, es tief sucht, und ihr genau ist; so wird man zu hundert Dingen den Schlüssel finden, und immer Sachen an seiner eigenen Seele gewahr werden, die nicht entschuldigt werden können. Wenn du glauben könntest! sagte der Heiland einmal zu Jemanden. Ja, lieber Herr, antwortete der, ich glaube; aber es ist etwas anders in mir, das nicht glaubt, dagegen musst Du mir zu Hilfe kommen. Mark. 9,23.24. Eben so ist es auch mit uns bewandt. Wir werden die Schlechtigkeit unserer Seele vielleicht nicht so gewahr. Wenn z. B. unseren Kindern von kleinauf viel vom Schmerzensmann vorgeredet, ihnen das Gewissen über Seinen Tod geschärft, und bei Zeiten in ihre eigene Seele hinein geschoben wird, „was Jesus ausgestanden, das hat verdienet unsre Seel;“ so kanns möglich sein, dass, gleichwie sie überhaupt nicht viel ans elende Leben denken, weil Gott ihr Herz erfreut, sie also auch nicht sogleich ans Verderben ihrer Seele denken, weil Er sich mit ihnen von der Wiege an in einen Bund eingelassen hat, den Er auf Seiner Seite treulich hält, und ihnen zu Hilfe kommt. Bleibt in mir, sagt der Heiland, und ich in euch. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wenn ihr in mir bleibt, so wirds wohl gehen, Joh. 15,4. u. f.
Das macht, dass wir dieses Elend kaum halb so gewahr werden, als es wirklich ist. Aber wenn wir den Heiland aus den Augen sehen, so zeigt sichs bald, was in unserer Seele liegt. Man muss daher über Hütte und Seele zugleich wachen. Das neue Leben, der inwendige Mensch des Herzens, muss die Seele und den Leib wie ein Kind ziehen. Man muss des Heilands Lehre folgen. Lernt von mir, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele; Matth. 11,29, so wird euch die Hut und Wache über euch selbst leicht werden, und ihr werdet gründlichen Unterricht bekommen, wie man mit seiner Seele und Leib verfahren muss, wenn man sie zum ewigen Leben bewahren und dem Heiland nichts in den Weg gelegt haben will, um sie zu stellen vor das Angesicht Seiner Herrlichkeit, unsträflich mit Freuden.
Nun „was Er ausgestanden, das hat verdienet unsere Seel.“ Was Seine Seele im Bußkampf am Ölberg ausgestanden; was Er in dem Moment ausgestanden, da Er am Kreuz gesagt: Mein Gött! mein Gott! warum hast Du mich verlassen! dieselbe Erfahrung, die Er am Kreuz in Seinem Herzen gemacht hat, dass Er uns nicht einen Augenblick verlassen muss, wenn Er uns nicht trostlos haben will; (welche Erfahrung zugleich die Ursache von dem Versprechen ist: Ich bin bei euch alle Tage; Matth. 28,20. Ich will euch nicht Waisen lassen, Joh. 14,18. oder wie es Paulus erzählt, dass Er gesagt habe: Ich will dich nicht verlassen, nein, nein, ich will dich nicht versäumen, ich will dir keine Minute zu spät kommen, Ebr. 13,5.) ferner, alles was Seine Seele bis diese Stunde aussteht, über unser langsames so werden, wie Er uns gerne nach seinem Herzen hätte in allen Teilen - dazu hat eine jede Seele, in Vergleich der Jahre, die sie in dieser Zeit zugebracht hat, das Ihrige beigetragen. Sie sollte also auch die Stiche fühlen, auch was von der Angst empfinden; damit ihr Seine große Marter für uns, Sein viertausendjähriger Kummer vorher, und Seine über anderthalbtausendjährige Mühe nachher, die Ihm so sauer worden, und Seine Freude an uns so oft verbittert hat nicht geringe dünken möge.
Das würde uns ganz auseinander bringen, wenn wir mit Ihm nicht so bekannt wären. Darum spreche ich immer: das allerhärteste Gesetz, das entsetzlichste Donnerwort ist, wenn man eine Seele überzeugt, dass sie an des Heilands Martertod schuldig ist. Das ist der Hammer, der Felsen zerschlägt, ein Wort, das die Menschenseele kirre macht und zerschmelzt. Aber darüber sind wir eben schon gar sehr getröstet - wir haben schon Seinen freundlichen Blick, Seine Liebe und Zärtlichkeit gegen uns, zu oft gefühlt, und haben Ihm in Sein Herz gesehen. Sein Gnadenanblick, den eine Seele kriegt, wenn ihr wohl wird - wenn ihr so wird, als die Frieden findet, und den sie ihr Lebetag nicht vergisst, der sie nicht mehr an ihrer Bestimmung und ewigen Wohlergehen misstrauisch werden lässt uns nicht halb die Angst mehr empfinden über alle die Schuld, die wir an Seinem Schmerz und Leiden gehabt und noch haben, als es außerdem sein würde. „Meine, ja meine Sünden haben Dich geschlagen. Ich, ach Herr Jesu! habe das verschuldet, was Du erduldet.“
Aber deswegen sollen wir nicht leichtsinnig werden. Wenn Er gleich unsere Seele zu Gnaden angegenommen hat, und gut ist für allen Schaden, als Aug und Wächter Israel; so sollten wir Ihm doch unsere Seele als ein Kind hübsch hinhalten, wenn Er es nach Seiner Art züchtigen will, und es bewachen, dass es Ihm nicht unter den Händen wegkomme. Es mag zwar alles Gute, das daran geschehen, und aller Schade, der verhütet werden muss, Ihm überlassen bleiben; aber wir sollten Seine treuen Wächter sein, dass die Seele nicht von Ihm wiche - wir sollten sie vor allzu großem Nachgeben gegen die Hütte, und einreißender Kaltsinnigkeit gegen den Geist in uns, der ihr zum Hüter gesetzt ist, warnen; sollten ihr auf alle Art herzlich begegnen, und sie sowohl, als das ihr zur Wohnung gegebene sterbende Gebein, um Seinetwillen freundlich, gütig, vertraulich und so behandeln, dass das gesetzliche Wesen immer mehr abnehme, und uns angelegen sein lassen, dass Geist, Seel und Leib bis auf unsere Zukunft zu Ihm zum ewigen Leben behalten werde.
Wir sollen also unsere Seele und Leib lieb haben um Seinetwillen, aber niemals für unschuldig halten, sondern immer denken: „Ist etwas Guts am Leben mein, so ist es wahrlich lauter Dein.“ Nun ob wir gleich an Seinem Leiden Schuld sind, so hat Er uns doch erstaunlich lieb, und die nächste Ursache dazu ist ein Verdienst und Leiden selber.