Zeller, Samuel - Haus-Andachten - XII.
Hohelied 5,9. Joh. 6,67-69.
Es wundert euch vielleicht, dass ich zu der Stelle aus dem Hohenliede die Worte aus dem Evang. Joh.: „HErr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens,“ genommen habe. Das erklärt uns das Wort aus dem alten Bunde (V. 9): „Was ist dein Freund vor andern Freunden?“ Es ist derselbe Geist, der atmet in den Worten der Jünger, und derselbe in dem Munde der Sulamith, der die Töchter Jerusalems antworten: Ja, was ist denn mit deinem Freunde? Er ist ein Extrafreund. Sulamith weiß das, sie hat es erfahren, und bekümmert sich um Ihn mehr, als um alles andere. So fragt auch der HErr seine Jünger (V. 67): „Wollt ihr auch weggehen?“ Und da antwortet Petrus: „HErr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ Petrus deckt hier die tiefsten Falten seines Herzens auf und sagt: Wir können es nicht aushalten ohne dich, wir finden niemand, der hat was du hast; denn du hast Worte des ewigen Lebens.
Ich will heute Abend besonders darüber reden, dass ein wahrer Christ so an den HErrn gebunden und gekettet ist, dass er es ohne Ihn nicht aushält, nichts lieberes und schöneres weiß, als Jesum. Vielen ist der HErr dies noch nicht, sie würden auch bald mit den andern wieder weglaufen. Petrus aber weiß, was er an dem HErrn hat; er sagt: „HErr, wohin sollen wir gehen?“ rc. So war er in Liebe an Ihn gekettet. Die Jünger hatten etwas bei Ihm erfahren, darum konnten sie sagen: „HErr, wohin sollen wir gehen?“ rc. Wenn man es aushält ohne den Herrn Jesum, so ist dies ein Zeichen von einer ungesunden Natur. Wenn du aber wahrnimmst, dass es dich zieht zum HErrn, wie mit sieben Seilen, o wohl dir! Wenn es dir in weltlicher Gesellschaft unbehaglich wird, so dass du es nicht aushältst ohne den Herrn Jesum, wohl dir! Es ist dies das Zeichen einer Geistesarbeit und einer nähern Bekanntschaft mit Ihm. Das Losungswort für den Geliebten heißt: „Der Vater zieht!“
Manche Menschen können es in der Stube nicht aushalten, sie müssen hinaus und Luft schöpfen; einem Christen ist es auch nicht wohl in dem Handel über äußere Dinge, es fehlt ihm da die Lebensluft, er muss sich ein stilles Plätzchen suchen. Liebe Seele, hast du den ganzen Tag kein Bedürfnis gehabt zum Gebet? Wahre Kinder Gottes halten es nicht aus ohne Umgang mit ihrem himmlischen Vater; bei all ihrer Arbeit gehen sie in Gedanken mit dem HErrn um. Dem lebendigen Christen braucht man kein Gesetz zu geben, es ist ihm unmöglich, ohne Jesum zu leben. Petrus und Sulamith verlangen nach niemand so sehnsüchtig, als nach dem HErrn. Manche sind mit wenig befriedigt, Kinder Gottes sind es nicht so schnell; aber sind sie es einmal, dann brauchen sie auch weiter nichts. „HErr, wenn ich nur dich habe rc.“ (Ps. 73,25). Sagt einem Weltmenschen, dass ihr gerne und oft betet, ganz im Umgange, mit dem HErrn lebt: er kann es nicht begreifen, und fragt: Ja, was habt ihr denn an Ihm, warum macht ihr so viel Wesen um Ihn? Sulamith weiß, was sie an Ihm hat, sie hat ihren Freund beobachtet und kennt Ihn (V. 10): „Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden.“ Ich will nur bei diesen Worten stehen bleiben. Der Christ hat an Jesu einen Freund in zwei Gestalten: „weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden, und er hat Ihn in den größten Stürmen im Leben, Leiden und im Tod. Wie sehen wir Jesum auf dem heiligen Berge? Die Boten Gottes waren bei ihm, Moses und Elias, und verklärt sich vor ihnen, dass die Jünger geblendet wurden und Petrus ausruft: „HErr, hier ist gut sein!“ Weiß ist unser verklärter Jesus; das ist das eine Bild, das ein Christ von seinem Heilande hat; das andere ist rot und mahnt daran, was der Prophet Jesaias sagt (Kap. 63,1): „Wer ist der, so von Edom kommt, mit rötlichen Kleidern von Bazra? „Ich bin es, der Gerechtigkeit lehret und ein Meister bin zu helfen,“ und V. 3: „Ich trete die Kelter allein.“ Das mahnt an die vielen blutigen Opfer des alten Testaments und an das eine Opfer, das ewig gilt, an das Wort Joh. 19.: „Seht, welch ein Mensch!“ und das Kreuz auf Golgatha. Zwei Gestalten sind es, die den Christen allezeit, auch in der größten Not, aufrecht erhalten: „Mein Freund ist weiß und rot.“ Wir glauben mit der gesamten Christenheit an Jesum den Gekreuzigten und an Jesum den Auferstandenen. Wie und wo kann ein Mensch uns Trost geben, wenn uns unser Herz verdammt? Da seht an die blutige Martergestalt, auf die Pilatus deutet und spricht:
Seht, welch' ein Mensch!“ und wie Er dort am Kreuze hängt. Weiß und rot ist unser Freund, blutbespritzt von unsern Sünden, und man ist froh darüber, denn Er hat sie getragen und versöhnt, und man ist froh um diesen mit Purpur gekleideten Jesus. Er spricht: „Ich trete die Kelter allein, und ist niemand unter den Völkern mit mir.“ Wenn wir in Seelennot sind, können wir es wohl Menschen klagen, aber wir wissen auch: „Kann doch ein Bruder niemand erlösen, noch Gott versöhnen, denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, dass er es muss lassen anstehen ewig“ (Ps. 49,8.9). Menschen können die Sünden nicht vergeben, nur Mitleid mit uns haben. Leer bleibt die Stelle des Erlösers, wenn man nicht den Freund kennt: weiß und rot, der uns lebenslang predigt, dass alles versöhnt ist. Unaussprechliches hat man an dem gekreuzigten Jesus; Er spricht (Hohelied 2,10): „Stehe auf und komm her.“ Er lädt da eine um ihrer Sünden willen geängstete Seele ein, zu Ihm zu kommen. Wenn Sünden auf uns lasten, bebt man zurück vor dem verklärten Jesus; da ruht man gerne aus unter dem Kreuze und findet da Frieden und Ruhe.
Auf Golgatha ist man oft, aber nicht immer. Es kommen Lagen, da freut man sich, dass „Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe in Ewigkeit“ ist, dass Er „weiß und verklärt“ ist und gesagt hat: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Die größten Stürme sind wie ein stilles Meer vor dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Die begnadigte Seele darf sich seiner Gnade freuen. Aber nicht immer stellt sich die Seele ihren Freund am Kreuze blutend vor.
Die Hauptfrage ist: Freuen wir uns, dass Jesus lebt und Verklärungs- und Auferstehungskräfte den Seinen gibt? Haben wir die Zeichen seines Lebens unter uns? Spüren wir den alles regierenden Jesus in und unter uns? Es ist gut, dass man nicht erst ein Schiff nehmen muss, um ins gelobte Land zu reisen, um Jesum zu finden. Gottlob, wir haben den verklärten Jesum unter uns, der gerne in die Herzen kommt und sich den Menschen zu erkennen gibt als den Freund, der weiß und rot. Ich halte es für einen großen Segen, wenn man immer mehr von den Menschen, auch den liebsten, loskommt, und einsieht, wie wenig man an ihnen hat und wie viel an Jesu, sobald man sagen kann: „Mein Freund ist mein und ich bin sein.“ Es ist eine heilsame, aber furchtbar schwere Erfahrung, zu sehen, wie oft selbst unter christlicher Freundschaft der schmählichste Egoismus steckt. Jesus, unser Freund aber, sucht nicht sich selbst, Er sucht uns. Er hätte im Himmel selige Scharen genug gehabt und uns nicht gebraucht; es liegt nur lauter Liebe in seinem Kommen. Da stehen tausend Freunde zurück. Wie verkehrt, dass man sich bei Menschen aufhält und nicht zu dem geht, der aus aller Not hilft und allein uns selig machen kann! Wer den Herrn Jesum gesehen hat in seinem Blute und dort auf dem Berge der Verklärung, spricht aus Herzensgrunde: „HErr, wohin sollen wir gehen?“ Wer Ihn sich rauben lässt um einer Kleinigkeit willen, hat noch nicht unter dem Kreuze gestanden, sonst wäre er Tag und Nacht gebunden an Ihn. - Und nun noch zum Schlusse: Was seht ihr an Sulamith? Den Freund habet ihr schildern hören: Er ist weiß und rot, auserkoren unter Tausenden. Aber was ist besonderes an Sulamith? Wir wissen es aus mehreren Stellen der heiligen Schrift, was an der Brautseele Jesu sonderliches ist. Was ist da zu schauen an ihr? Es ist etwas schönes, denn Salomo sagt Hohel. 4,7: „Du bist allerdings schön, es ist kein Fleckchen an dir,“ und V. 9: „Du hast mir das Herz genommen.“ Der HErr hat Gefallen an einer echten Christenseele. Aber womit können wir Ihm gefallen? Da denkt manches an große Glaubenskräfte, an viele gute Werke. Doch dies ist Ihm nicht allein wohlgefällig. Es gibt eine andere Gestalt, die Ihm am besten gefällt. Sulamith ist der Spiegel von Salomo, dem Friedefürsten; sein Bild ist in ihr verklärt und strahlt ihm aus ihr entgegen. Wo der HErr die Krone trägt, hat sie auch der Christ. Jesus ist schön auf dem Meere, da Er Sturm und Wellen Ruhe gebietet; aber noch schöner in Gethsemane, wo Er für uns zittert und zagt, und am Kreuze, wo Er für uns sein Blut vergießt und stirbt. Er war schön unter Kranken und Besessenen, da von Ihm Lebenskräfte ausströmten; aber noch schöner war Er, da Er sich für uns binden und kreuzigen ließ. Wenn du schön sein willst in den Augen deines Freundes, so musst du allem absterben, ein zerbrochenes Gefäß, ja zu nichts werden, damit dein Jesus alles in dir sein kann, denn Er sagt Jes. 57, 15: „Der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei denen, so zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen.“ Er allein kann aus uns etwas machen zum Lobe seiner herrlichen Gnade. Amen.