Zeller, Samuel - Acht Betrachtungen über Bibel-Abschnitte - 2. Wo fehlt es?
Jer. 14,8-10.
Wir lesen im Buch der Richter von einer Unterredung des Engels des HErrn mit Gideon, wo er ihm sagt: “Der HErr mit dir, du streitbarer Held! fürchte dich nicht, ich bin mit dir - gehe hin in dieser deiner Kraft,“ und wo Gideon antwortet: “Mein Herr, ist der HErr mit uns, warum ist uns denn solches alles widerfahren? Und wo sind alle seine Wunder, die uns unsere Väter erzählten? Nun aber hat uns der HErr verlassen.“ Wie Gideon dort, das Elend und den jämmerlichen Zustand seines Volkes im Auge, das herrliche Wort hört und einen Widerspruch darin findet, so finden wir in unserem heutigen Kapitel, dass auch der Prophet Jeremia, auf die Liebes- und Gnadenverheißungen Gottes schauend, gar kläglich ausruft: „Du bist ja unser Gott, du bist der Tröster und Nothelfer Israels; warum stellst du dich, als wärest du ein Gast im Land? als ein Fremder, der nur über Nacht darinnen bleibt? als ein Riese, der nicht helfen kann?“ - Es sind zwei ähnliche Worte, beide der Ausdruck des Schmerzes, aber mit dem Unterschied, dass Gideon an die Gegenwart Gottes unter seinem Volk nicht mehr glaubt, während der Prophet Jeremia bei all dem Elend, dem Verfall, Der Knechtschaft seines Volkes fest dabei bleibt: „Du bist doch unser Tröster und Nothelfer; du bist doch ja unter uns und wir sind nach deinem Namen genannt, verlass uns nicht,“ und am Schluss: „Du bist ja doch der HErr unser Gott, auf den wir hoffen!“
Gideon fragt nach den Wundern, Jeremias nach dem Grund. Warum stellst du dich als ein Gast im Land, und als ein Fremder, der nur über Nacht darinnen bleibt? Es gibt gar verschiedene Blicke über den Stand der Christenheit; der richtige Blick ist der Blick Gideons, der richtigere noch der Blick Jeremiä. Ja, es ist viel Elend; sehen wir nur recht tief hinein, und wir sind sicherer auf der Spur der Wahrheit, als wenn wir mit unsern radikalen Predigern rühmen, nie sei der gute Geist so sehr ausgegossen gewesen wie jetzt, nie sei so viel Gutestun, so viel Helfen in Nöten gewesen, als heutzutage.
Blößen zudecken ist keine Kunst, aber Blößen aufdecken und Trost suchen dagegen, das ist das Wahre. Den Mangel an Waffen verheimlichen und von völliger Kriegsbereitschaft reden, während es an dem Nötigsten fehlt, kann ein Volk nicht retten, wohl aber an den Abgrund bringen; von Siegen und Waffentaten rühmen, die sich bei gründlicher Prüfung des Wahren als kleine Scharmützel oder gar als erlittene Niederlagen herausstellen, macht das Volk weder stark noch glücklich.
Wir wollen von drei Punkten reden:
- Wie steht es mit der Christenheit und mit dem einzelnen Christen?
- Du bist dennoch unser Gott, wir haben keinen Trost als dich O das ist der große Unterschied zwischen den wahren Schwermütigen und den falschen. Sie erkennen Beide ihr Elend. Es gibt manche, die sehen müssen, dass sie zehn Jahre lang Heuchler gewesen sind, während sie glaubten, fromm zu sein; aber die Einen halten das noch fest: „Du bist doch unser Gott, wir sind nach deinem Namen genannt;“ die Anderen lassen alles fahren und sind verzagt. O nur recht hinunter bis in die Tiefe, aber dann anerkennen: „Du bist doch.“
- Gehört notwendig zu unserer heutigen Betrachtung die Frage: Warum stellst du dich usw.? - „Unsere Väter haben gesündigt, wir haben gesündigt,“ - das ist leicht gesagt. Es ist nicht schwer, sich mit vielen Anderen unter einen Zylinder zu stellen, unter die allgemeine Sünde; aber wir müssen heute ins Detail sehen, nicht en gros, was schuld ist, dass Gott nur ein Gast ist unter uns. Und da ist dann hier besonders eine Sünde als Grund angegeben: „Sie laufen gerne hin und wieder und bleiben nicht gerne daheim, spricht der HErr, darum will der HErr ihrer nicht.“
Lasst uns die drei Punkte etwas näher ansehen: Die scheinbare Stellung Gottes, seine wirkliche Stellung und der Grund der ersteren.
Warum stellst du dich als Gast, Held, Riese, der nicht helfen kann?
Er stellt sich! O das ist Mark und Bein durchdringend und doch tröstlich! Es mahnt uns dies an die Geschichte Josephs, der vom ersten Augenblick an Liebe zu seinen Brüdern hat, der im Kämmerlein weint vor Liebe und Erbarmen zu ihnen, und vor ihnen ist er hart wie ein Fels. So handelt Joseph mit seinen Brüdern, so stellt er sich hart. Gottes Stellen, Josephs Verstellen ist so ganz anders, ist so ganz anders, als das Verstellen der Welt! O diese verstellt sich auch oft, indem sie bei inneren Hass nach außen ein freundliches Wesen zeigt; die Welt versteht aus dem Fundament, schöner zu tun als sie innerlich ist; härter sich stellen ist die Art Gottes. Die Welt hat bei ihrer Verstellung eigennützige Absichten, Gott sucht für uns zu gewinnen. O was ist das für ein köstlicher Hintergrund, wenn bei allen dunklen Wolken der Prüfungen und schweren Wegen Gottes mit uns, wir sehen dürfen: Gott stellt sich nur so, und seine Liebesabsicht ist nur unser Heil, dass wir uns beugen, zernichten, erziehen lassen sollen. O meine Lieben, drum ists Sünde, wenn wir bei den schweren Prüfungen Gottes verzagen.
Warum stellst du dich? Ja, es ist wahr, Gott stellt sich mit der Absicht, uns wohl zu tun, härter als Er ist, „als ein Gast im Land und als ein Fremder, der nur über Nacht bleibt.“ Es mahnt uns dies Wort an einen verheißenen Zustand der Seele: „Ich will wohnen unter ihnen.“ Betrachten wir das Wirken Gottes in den Menschen, so lang die erste Hütte stand, so sehen wir, dass es ein ganz anderes ist als im neuen Bund, viel weniger vollkommen. Im alten Bund heißt es oft: „Der Geist des HErrn kam über ihn,“ und bei solchen Besuchen des Geistes Gottes war es begreiflich, dass viele und rasche Abwechslung der Gefühle und Kräfte in den Knechten Gottes damaliger Zeit stattfand. Elias ist den einen Tag auf Karmel voll Kraft und Glauben, den anderen verzagt wie ein Flüchtling. Oben zagt er nicht vor Hunderten, unten fürchtet er ein Weib! Dies ist uns recht ein Bild des alten Bundes, der nur der Schatten des neuen Bundes war. Nehmet die größten Taten des Geistes Gottes im alten Bund, es ist nur wie ein Rauschen, als wollte es regnen; im neuen Bund ists ein Regen. Sehet in euer eigenes Leben zurück. Da sind einzelne Tage, wo der HErr euch nahe gewesen ist, und wo es über euch gerauscht hat. O sicher, es gab in eurem Leben manche Durchhilfe Gottes, viele Besuche des HErrn, und nun wie steht es? Neben einer Glaubenstat, die wie ein Sternlein im dunklen Himmel leuchtet, ist wieder viel Sorgengeist! In der Predigt war es ein heilig Geloben: „Jetzt will ich mich aber ganz Jesu hingeben,“ und zwei Tage später ist man zurückgesunken. Ihr habt vielleicht schon mehrere Bethel gehabt, ihr habt es gewiss schon gespürt, wie selig die Seele beim HErrn ist; ihr habt vielleicht in Not Erhörung gehabt - und acht Tage später, bei neuen Proben, hätte man euch schon wieder aus allem Schlamm herausziehen sollen, trösten und aufrichten.
Warum stellst du dich als ein Gast? Ehe ein Kind Gottes die Salbung des Geistes empfangen hat, ist ihm der HErr nur wie ein Gast, von dem es zwar manches Gute erfährt, doch nur vorübergehend. Des gibt genug Seelen, die haben ein mächtiges Klopfen an ihren Herzen erfahren, der HErr wollte Wohnung aufschlagen, aber wie stehts jetzt mit dem Umgang mit Gott? Wo der HErr Wohnung genommen hat, da gibts ein Glaubensleben, ein Gebetsleben, ein Liebesleben. Warum stellst du dich als ein Gast im Land, als ein Fremder, der nur über Nacht bleibt? Es ist mit diesem Worte haarscharf der Zustand einer Seele gezeichnet, die Christus noch nicht wohnend in sich hat; es ist keine Rufen in ihr. Wahre Christen haben Christus nicht nur bei sich, sondern in sich.
Warum stellst du dich als ein Held, der verzagt ist? Der HErr will uns nicht nur seine Nähe erfahren lassen, Er will uns eine Kraft sein. Kinder Gottes, die im Glauben leben, haben nicht mehr ein Gemütsleben. Da heißts nicht mehr nur: „Wohl denen, denen die Übertretung vergeben ist,“ sondern da gilts eine Kraft haben zum neuen Wandel. Mie ist doch in der Mehrzahl der Christen das Wort verhallt: „In dem allem überwinden wir weit durch Den, der uns. mächtig macht,“ und: „Ich schreibe euch Jünglingen, denn ihr habt den Bösewicht überwunden.“ Wo Jesus wirklich wohnt, wirkt Er eine Kraft zum Leben, Leiden, Schweigen, Tragen, Sterben. Die Apostel gaben, nachdem sie voll des heiligen Geistes geworden waren, mit großer Kraft Zeugnis von der Auferstehung Jesu.
Und doch bist du unser Gott. - Wenn man so recht tief in sein Elend hineinsieht, möchte man leicht in Versuchung kommen, alles sinken zu lassen; es geht Einen, wie den Juden, als sie die Mauern Jerusalems bauen wollten und dann ausriefen: „Des Staubs ist zu viel.“ Andere machen sich‘s bequem, indem sie sich und andere damit trösten, es müsse eben wieder eine allgemeine Ausgießung des heiligen Geistes kommen. Kommt sie?
Meine Lieben, ist es recht, das Wässerlein an sich vorbeifließen zu lassen und den Regen erwarten. Hat Gott nicht die Schleusen aufgetan? Gott ist der Trost Israels, Er braucht es nicht erst zu werden.
Du bist unter uns. Was geschehen sollte, damit wir volles Leben, volle Freiheit haben könnten, das ist geschehen, und es heißt mit vollem Recht: „Alle die ihr durstig seid, kommt, nehmt umsonst.“ Wie traurig ists, in der Nähe einer reichlichen Quelle verschmachten, bei aufgehäuftem Proviant verhungern, trotz reicher Verwandter bankrott gehen! Und doch verderben und verarmen so viele trotz dem Reichtum Christi, erliegen trotz dem für uns errungenen Sieg Jesu.
Es ist ein reicher Schatz in dem Wörtlein „ist“ enthalten. Der durch einen Geist der Krankheit 18 Jahre lang krumm gehenden Frau sagte der HErr: „Weib, du bist von deiner Krankheit los,“ und richtete sie auf, dass sie wandeln konnte.
O meine Lieben, nur recht tief hinunter, nur recht erkennen alle die Schäden; aber dann die Quelle des Heils nicht übersehen
Sie laufen gerne hin und wieder und bleiben nicht gerne daheim. - Ich soll heute kein Sündenregister aufzeichnen; o es gäbe genug! Nicht Register, nur eine Sünde heute. Sie laufen gerne hin und her. Hat die verlorene Welt Gott gesucht? Nein, es heißt: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen Sohn gab.“ „Er hat seinen Sohn gesandt in die Welt, auf dass alle, die an Ihn glauben, selig werden.“ Wer verloren war, der muss es anerkennen, dass der erste Schritt zu seiner Rettung von Gott ausging. Wie wahr ist das Wort: „Ich werde gefunden von Denen, die mich nicht suchen!“ Wir wollens uns recht merken: Die Hilfe liegt nicht fern, Gott will zu dir kommen in dein Haus; bist du daheim? „Gott kam in sein Eigentum; aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“
Die eine große Sünde, die wir zu betrachten haben, ist die Zerstreuung; o wie nötig ists, dass, wenn Gott zu uns kommen, sich mit uns vermählen will, wir daheim seien. Sind wir die Knechte, die auf ihren HErrn warten? Warten und wachen sollen wir. Hier, z. B., will Er bei uns einkehren; in den Versammlungen klopft Er an; aber findet Er uns auch in der Zwischenzeit daheim? Wer hier einen Segen haben will, der lasse sich nicht an den Versammlungen genügen; der HErr hat euch in der Stille noch viel zu sagen, allein unter vier Augen. O, es braucht nicht Mord und Ehebruch, um sich zu demütigen; es ist genug an dieser einen Sünde, der Zerstreutheit. Lasst uns vom lieben Kind Samuel lernen: „Rede HErr, denn dein Kind hört.“ Wir wollen‘s uns merken, dass wir daheim seien, wann Er kommt.