Wolf, Friedrich August - Am Sonntage nach Weihnachten.
Jahresschluß.
Das Jahr, dessen Ende sich nahet, wird manchen unter unsren Zeltgenossen und Mitbürgern unvergeßlich bleiben, und obgleich seine Zahl auf dem Stempel der Zeitgeschichte erloschen ist; so wird es doch lange noch in der Erinnerung fortleben. Denn Einige haben unter schmerzlichen Erschütterungen einen harten Kampf gehabt und einen Verlust erlitten, den ihnen auf Erden Nichts wieder ersetzen kann; Andre haben unter den günstigsten Umständen den Grund zu ihrem Glücke gelegt, und die in ihrer Art einzige Freude der ersten Besitznahme genossen. Jene werden mit einem schweren Herzen von dem vergangnen Jahre scheiden, sie werden noch einmal in einen Strom von Thränen ausbrechen, wenn sie es nicht vielleicht absichtlich vermeiden, sich dem schmerzaufrührenden Tone der mitternächtlichen Glockenschläge auszusetzen. Diese werden die letzten Stunden mit den frühesten Empfindungen feiern; wir hoffen auch mit Dank gegen Gott, und sie werden die außer Brauch gesetzte Jahrzahl noch oft mit Freude erwähnen, wenn sich ihr Glück immer mehr entwickelt.
Allein, der größre Theil der Erdbewohner redet beim Scheiden eines Jahres doch immer nur von einem Wechsel guter und böser Tage, ohne besonders merkwürdiger Ereignisse und Begebenheiten zu gedenken; Verlust und Ersatz, Arbeit und Lohn, Freuden und Leiden haben sich ziemlich die Wage gehalten, und in diesem Gleichmaaß der Tage ist das Jahr zu Ende gegangen, - mit desto mehr Verlangen wenden sich die wandelnden Geschlechter vom Alten zum Neuen. Ebenso ist zwar in der Geschichte eines Volks, in der Geschichte einer Stadt, in der Geschichte einzelner Häuser und Familien ein Jahr vor dem andern durch einen besondern Nachruhm ausgezeichnet; jedoch die Mehrzahl der Jahre sinkt ohne besondre Nachrede, ohne besondre Lobgesänge oder Klagelieder ins Meer der Vergangenheit. Allein so wie der Nachruhm eines Menschen nicht der einzige Maaßstab seines Werthes ist, und so wie auch tausend Andre ohne lauten Nachruhm durch stille geräuschlose Verdienste sich unsterblich machen; so theilen sich auch berühmte und unberühmte Jahre in das Recht, das Schicksal der Zukunft durch dauernde Folgen zu bestimmen. Ein jedes abgetretene Jahr läßt ein bleibendes Vermächtniß zurück; so wie die Saamenkörner von der vorjährigen Erndte im Schooße der Erde liegen, ohne welche kein Ertrag der zukünftigen Erndte zu hoffen steht, so wie die Blumenkeime vom vergangnen Sommer her jetzt unter der Schneedecke schlummern, aus welchen zu seiner Zeit eine Frühlingsblume nach der andern wieder hervorkommen wird; so läßt auch jedes abgetretene Jahr im Schooße der menschlichen Gesellschaft, im Schooße der Familien, im Innern der Menschen nicht nur eine Spur zurück; sondern auch die Keime und Wurzeln für die Zukunft zu guten und zu bösen Früchten, zu vollen, kornreichen Aehren oder zum Unkraut unter dem Weizen, zur Verbesserung oder zur Verschlimmerung unsers Zustandes. Ein gesegnetes Jahr läßt einen bleibenden Segen in den Herzen der Gotteskinder zurück. Ein Jahr ohne Segen, fern von Gott, in der Eitelkeit und Thorheit zugebracht, läßt eine segenlose Zeit befürchten, und verwickelt uns in tausendfache Kämpfe mit seinen traurigen Folgen. Dieß gilt im Großen, wie im Kleinen, vom Ganzen, wie von den Einzelnen. Ein Blick in den Zusammenhang der Welt- und Völkergeschichte ist uns versagt; der Blick in die Geschichte unsers eignen Herzens und Lebens steht uns offen. Also hier laßt uns die Augen aufthun! Was ist von dem vergangnen Jahre uns geblieben? Welche Keime, welche Wurzeln zu einem gedeihlichen Wachsthum im künftigen Jahre, oder welchen wesentlichen Gewinn und Reichthum haben wir aus der Vergangenheit gerettet, daß wir uns getrost auf die neue Lebensbahn begeben können? Meinet nicht, daß wir durch diese Frage bloß auf uns selbst gewiesen, und von Gott abgeführt werden. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde, die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und die ewig reiche Gnade des Herrn ist die einzige Quelle unsrer Hoffnung: das stehet fest. Aber ob wir viel oder wenig Theil an der Gnade Gottes gehabt haben, ob sie an uns vergeblich gewesen, oder nicht, nach diesem Maaße unsrer seitherigen Empfänglichkeit richtet sich unsre Fähigkeit und Befugniß, auch ferner aus dieser Quelle zu schöpfen.
Unter den Führungen der göttlichen Gnade wandeln wir von Jahr zu Jahr unaufhaltsam weiter; unter den mannichfaltigsten Prüfungen, die der himmlische Vater nach seiner Weisheit bestimmt, sollen wir reifer und stärker werden. Nach einer Prüfling kurzer Tage erwartet uns die Ewigkeit. Was wäre der Begriff der Prüfung, wenn sich die Tage und Jahre unsrer Prüfungszeit nicht durch bleibende Wirkungen an den Herzen der Geprüften bewährten? Ein beträchtlicher Theil dieser Prüfungszeit ist abermal dahin. Also was ist von diesem Jahre uns geblieben?
Zur Beantwortung dieser wichtigen Frage will ich euch durch unseren heutigen Vortrag Anleitung geben.
Text: 2 Corinther 4,16.
„Darum werden wir nicht müde; sondern, ob unser äußerlicher Mensch verweset, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag verneuert.“
Der Apostel redet von einer Zeit der Trübsal, welche die leiblichen Kräfte immer mehr aufreibt und das Leben selbst unaufhörlich in Gefahr bringt. Aber, sagt er, obgleich unser äußerlicher Mensch diesen zerstörenden Einfluß empfindet, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert. Welch ein Sieg des Geistes leuchtet uns aus diesem Bilde der Lebenserneuerung, das sich in der Heldengröße eines Apostels darstellt? Haben wir einige Aehnlichkeit mit dem Apostel, wir, die wir zwar nicht den Leiden und Gefahren eines apostolischen Berufs unterworfen sind, aber schon ohne besondres Ungemach unter den Veränderungen der Zeit die Macht der Vergänglichkeit erfahren? Können wir sagen: Obgleich unser äußerlicher Mensch altert; so wird der innerliche von Tag zu Tag erneuert? Oder müssen wir sagen: Unser äußerliches Leben leidet immer mehr Gewalt von dem zerstörenden Einflusse der Zeit und unser inneres Leben ist nur ein Spiegel dieser Vergänglichkeit; wir eilen mit dem Strome der Zeit unaufhaltsam abwärts, und sehen immer mehr ein, wie wenig wir von dem Untergange retten können.
Laßt uns zur Erkenntniß kommen, indem wir die Frage aufwerfen:
Was bleibt uns von einem vergangnen Jahre unsres Lebens?
Natürlich wird die Antwort sehr verschieden ausfallen, je nachdem wir entweder als Kinder Gottes in der Wahrheit wandeln, oder mit den Kindern dieser Welt der Eitelkeit nachhängen. Wir wollen diese Frage in einer vierfachen Beziehung beantworten. Erstlich in Beziehung auf unsre Erkenntniß: Was bleibt uns von einem vergangnen Jahre unsres Lebens? Entweder ein Schatz lehrreicher und heilsamer Erfahrungen, oder nur eine Menge zerstreuter Gedanken und Erinnerungen.
Unter Allen, die heute von einem vergangnen Jahre reden, wird Niemand sagen, daß das vergangne bis auf die letzte Erinnerung erloschen sei; ein geistiges Bild von dem vergangnen Jahre ist uns Allen geblieben. Aber welches? ein dunkles, verworrenes, oder ein Bild mit scharfen Zügen und hellen Farben? Welch ein Unterschied in der Seele derer, die mit ruhiger Klarheit leben und sich ihrer wahren Bestimmung unablässig bewußt bleiben, und in der Seele der Andren, die unstät und flüchtig bei täglicher Zerstreuung in der Mannichfaltigkeit der irdischen Dinge umherschweifen, ohne leitende Regel, ohne sichern Haltpunkt, ohne Richtung auf den Hauptzweck ihres Hierseins? Nehmt euch ein Beispiel an denen, die in ein fremdes Land reisen ohne Plan, ohne die gehörige Vorkenntniß und Vorbereitung, um nur irgend einen Zweck mit Sicherheit zu verfolgen. Was ist der Gewinn ihres Aufenthalts in jenem fremden Lande? Die Menge der verschiedenartigen Gegenstände zerstreuet und verwirrt ihren Blick, sie gerathen oft in Staunen und Verwunderung, aber sie werden mit Eindrücken überfüllt, ohne Fähigkeit, das Bemerkenswerthe auszuscheiden und das Besondre gründlich aufzufassen, und sie kehren endlich in ihr Vaterland zurück, und bringen nichts mit, als einzelne abgerissne Bruchstücke, als unsichre, schwankende, halbwahre Bemerkungen und Erinnerungen. Wie ganz anders berichtet uns ein Landschaftsmaler, der als ein denkender Freund der Natur jede Gegend in ihrer eigenthümlichen Schönheit auffaßt? Wie ganz anders berichtet uns ein unterrichteter Freund der Kunst, der uns die unvergänglichen Denkmäler der alten Welt als Augenzeuge beschreibt? Nehmt euch also ein Beispiel an denen, die in ein fremdes Land reisen, und uns nachmals Meldung und Kunde geben von dem, was sie gehört und gesehen haben. Denn wir sind ja Alle im Lande der Zeit Fremdlinge, die lehrreiche und heilsame Erfahrungen einsammeln sollen; mitten unter den Veränderungen der sichtbaren Welt sollen wir sie einsammeln zur Bildung unsrer unsterblichen Seele, die aus dem Ewigen stammt. Das zeitliche Leben bietet uns täglich eine Menge neuer Erscheinungen und Gegenstände dar, wiederholt aber auch in verschiedner Mischung und Gestaltung die dagewesenen Fälle. Wie wollen wir reich werden an Erfahrung, ohne ordnenden Geist und ohne diejenige Erkenntniß der Wahrheit, die vor aller Erfahrung vorausgeht. Ich meine nicht die Wissenschaften und Kenntnisse, die ein Jeder in seinem besondren Berufe braucht. Es gibt eine Grundwissenschaft des gesammten Lebens, die wir Alle brauchen, die uns Alle auf verschiednen Wegen zu Einem Ziele fördert, und die uns im Worte Gottes dargelegt ist. Ihre Lehrsätze sind größtentheils sehr einfach , faßlich und verständlich, und werden uns bei einiger Erziehung von früher Jugend an eingeprägt; die wahre Weisheit besteht nur darin, daß wir uns diese Lehren und Grundsätze zu eigen machen, sie mit Treue bewahren und festhalten, und alles Einzelne im Laufe des Lebens darnach betrachten, aufnehmen und beurtheilen. Bei dieser geistigen Beschaffenheit unsers Wesens setzt sich ein Schatz der Erfahrung an. Werda hat, dem wird gegeben. Wer die göttliche Wahrheit mit Ueberzeugung in sich aufgenommen hat, der findet ihre Bestätigung in den einzelnen vorkommenden Fällen des Lebens zu seinem eignen Wachsthum an allerlei Weisheit und Erkenntniß. Habt ihr nun von den verschiednen Vorfällen und Ereignissen des vergangnen Jahres diesen Gewinn gehabt? Beantwortet euch diese Frage. Ihr hofft ein hohes Lebensziel zu erreichen, jedoch gewiß kein andres, als ein ehrwürdiges Alter. Aber durch welchen Vorzug erscheint uns das Alter besonders ehrwürdig? Durch die Reife der Erfahrung, mit der es dem jünger'n Geschlechte dienet, indem es alle Lehren der Weisheit mit mehr Nachdruck vorträgt, in den wichtigsten Zeitpunkten bewährten Rath ertheilt und in trüben Tagen mit Ruhe zur Geduld und Fassung ermahnt. Habt ihr nun auch in der Schule des vergangnen Jahres Grund zu einem ehrwürdigen Alter gelegt? Habt ihr mit Aufmerksamkeit auf die Wege Gottes und auf die wahren Bedürfnisse des Menschen gelebt? Habt ihr die Spur der göttlichen Führungen in den menschlichen Angelegenheiten, und das verschiedne Verhalten der Sterblichen in Leiden und Freuden mit Sorgfalt beachtet? Seid ihr in der Kenntniß des menschlichen Herzens weiter gekommen? Habt ihr euer eignes Herz besser kennen und erforschen lernen, daß ihr richtiger von euch denkt, bescheidner den Beifall eurer Freunde aufnehmt, ruhiger den Tadel eurer Feinde ertragt und demüthiger die Gnade Gottes sucht? Wohl euch, so habt ihr den Schatz lehrreicher und heilsamer Erfahrungen von diesem Jahre zum Gewinn. Wo nicht, so habt ihr nur einzelne abgerissne Bruchstücke, nur zerstreute Erinnerungen, Bilder entflohner Tage und Stunden, ihr habt nun das Vergängliche der flüchtigen Erscheinungen aufgefaßt zum Schaden eurer unsterblichen Seele, und werdet entweder mit eurer wehmüthigen Empfindsamkeit noch der Eitelkeit dienen, oder mit bittrer Reue den Verlust der köstlichen Zeit beklagen müssen.
Doch laßt uns jetzt mit unsrer Prüfung weiter gehen, und die wichtige Frage, die uns beschäftigt, zweitens in Beziehung auf unsre sittliche Bildung beantworten. Was bleibt uns von einem vergangnen Jahre unsres Lebens?
Entweder die verstärkte Macht böser Gewohnheiten und Neigungen, oder ein im Guten befestigtes Herz, - entweder die Gewohnheit zu sündigen, oder die Uebung im Gehorsam gegen die Gebote Gottes bei der Entschlossenheit, unsern Eigenwillen dem allein guten, heiligen Willen des Allerhöchsten zu unterwerfen.
Das neue Jahr erneuert unser Wesen nicht, sondern es übernimmt uns gerade so, und führt uns in derselben Verfassung weiter, in der uns das alte seiner Führung überliefen hat. Das neue Jahr hat keine erneuernde Kraft, wohl aber hat das alte eine nachwirkende Kraft, uns im Guten oder Bösen in der vorigen Richtung zu erhalten und unsre Schritte mit dem Drängen nachgelassner Folgen zu verstärken. Unter dem Einflusse der Zeit wird kein Mensch seiner sittlichen Verfassung nach wesentlich verändert und umgestaltet, sondern unter dem Einflusse der Zeit wird nur seine einmal angenommene Denk- und Sinnesart befestigt und zu bleibenden Charakterzügen ausgeprägt. Wenn der Apostel lehrt, daß wahre Christen nach ihrem innerlichen Wesen von Tag zu Tag erneuert werden; so macht er diese selige Veränderung nicht abhängig vom Einflusse der Zeit, sondern von der Regierung des Herrn durch Wort und Geist; allein bei Menschen, die in der Zeit leben, erfolgt diese Veränderung allerdings unter Entwicklungsgesetzen der Zeit; darum redet er von einer täglichen Erneuerung, die ohne den Einfluß der Zeit gar nicht gedenkbar wäre. Erkennet also die Wahrheit im Lichte des göttlichen Wortes, und machet die Anwendung auf euch selbst, daß ihr euch weder der Sicherheit, noch der Verzagtheit hingebt. Seid ihr wirklich fester im Guten geworden; so bleibt euch diese Festigkeit zum Segen fürs neue Jahr, so lange ihr selbst in der Gemeinschaft mit dem bleibt, der zuerst euer Herz erneuert und euch die Kraft von oben gegeben hat. Habt ihr euch gewöhnt, in allen Dingen zuerst zu fragen und zu prüfen, welches da sei der Wille Gottes, und nichts wider Gott und seine n erkannten Willen zu thun, nun so bringt ihr ein zum Gehorsam williges, im Gehorsam geübtes Herz in den neuen Zeitraum eures Lebens, in welchem die Pflicht manches Opfer fordern wird, und der Versucher nicht ohne kräftigen Widerstand überwunden werden kann. Ihr seid getrost, die Gnade Gottes ist seither nicht vergeblich an euch gewesen. Wenn ihr nur aus Schwachheit fehltet und die Sünde nicht in euch herrschen ließet; so geht ihr auch nun nicht mit ihren Ketten gebunden und belastet über die Schwelle des neuen Jahres; sondern athmet als Kinder Gottes im Gefühle der Freiheit mit Dank gegen den, der euch erlöset hat, und mit Zuversicht, daß, der das gute Werk in euch angefangen hat, es auch vollenden werde.
Habt ihr aber euren Neigungen mehr, als eurer Pflicht gelebt, habt ihr im Dienste des eitlen, vergänglichen Wesens eurer Willkür freien Spielraum gelassen, ohne nach Gott und seinen heiligen Geboten zu fragen; so verhehlet euch euren Zustand nicht! Was bleibt euch von diesem vergangnen Jahre eures Lebens? Die verstärkte Macht böser Neigungen und Gewohnheiten. Aus lang gepflegten Lieblingsneigungen wurden Lieblingssünden, und wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht; die Fesseln dieser Knechtschaft bleiben. Was bleibt euch von der vergänglichen Lust dieser Welt? Arbeitsscheu und Zerstreuungssucht. Was bleibt euch von der Anhänglichkeit an die irdischen Güter? Ein zunehmender Hang zum Geize, der da ist eine Wurzel alles Uebels. Was bleibt von der wiederholten Untreue gegen die Wahrheit? Die Neigung und Gewohnheit zu Lügen. Was bleibt euch von jener leidenschaftlichen Hitze, der ihr euch so oft ohne alle Selbstbeherrschung überließet? Eine größere Reizbarkeit und Empfindlichkeit in eurem ganzen Wesen. Was bleibt von einem anhaltenden Zorn und Groll gegen euren Nächsten? Ein unversöhnliches Herz. Was bleibt euch von allem Ungehorsam eures Eigenwillens? Ein gefährlicher Feind in eurer eignen Brust, der in dem vergangnen Jahre an schädlichen Kräften zugenommen hat und der mit jedem künftigen Jahre immer stärker, immer unbezwinglicher, immer furchtbarer zu werden droht, wenn seine Macht nicht vor dem letzten Unheil gebrochen wird. Wodurch? Darauf geben euch alle Feiertage der christlichen Kirche eine klare und bestimmte Antwort. Der heutige Tag warnt mit um so mehr Nachdruck vor dem falschen Wahne ungebesserter Menschen, die ihre endliche Besserung von der bessernden Kraft der Zelt erwarten. Vergebliche Hoffnung! Die Leidenschaften des Menschen wechseln nur mit den Jahren; aber der böse Grund bleibt, der Unglaube, der Ungehorsam, die Herzenshärtigkeit. Wir können durch die schädlichen Folgen unsrer Thorheit klüger, vorsichtiger, behutsamer werden, aber nicht wahrhaft weise, gut und fromm. Wir können unter dem Einfluß des zunehmenden Alters auch ohne Gottes Wort und Geist zu einer gewissen Ordnung und Mäßigung gelangen; aber nimmermehr zu einer wahren, gottgefälligen Heiligung unsers Sinnes und Herzens, so wahr, als Jesus Christus spricht: Ihr müsset von Neuem geboren werden, sonst könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen.
Wir beantworten die vorgelegte Frage drittens in Beziehung auf unsre Gemüthsstimmung: Was bleibt uns von dem alten Jahre? Entweder viel Unruhe und Sorge fürs neue, oder ein bewährtes Vertrauen auf Gottes Rath und Hülfe. Auf dem Grenzpunkte der Zeiten, auf welchem wir heute mit unsern Betrachtungen verweilen, verweilen Millionen denkend und sinnend und machen Stillstand vor dem Reiche der Zukunft, wie sich wandernde Heere vor einem breiten Strome lagern, ehe sie übersetzen , und das jenseitige Ufer betreten; Einige mit heftigen Wünschen und Begierden nach den Schätzen des unbekannten Landes; Andere mit ängstlichen, bangen Sorgen, Gefahr und Ungemach in schwarzen Bildern vor der Seele, - die frommen Pilger mit dem Bekenntniß der Dankbarkeit und Hoffnung: der Herr hat bisher geholfen und wird weiter helfen.
Sie haben seine Hülfe zu rechter Zelt und Stunde erfahren, - sie sind von Gott geprüft, aber nicht verlassen worden; sie haben nicht Schätze gehäuft, sind aber auch bei Wenigem nicht ungesegnet geblieben, sie haben nicht Ueberfluß gehabt, aber auch nicht Mangel gelitten, sie haben nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen sehen, aber doch gefühlt, daß der Herr nahe sei denen, die ihn anrufen; sie haben auch auf rauhen, steilen Wegen die Führung einer Vaterhand erkannt und die Frucht von allen diesen Erfahrungen ist ein bewährtes Vertrauen auf Gott, und der entschiedenste Vorsatz für alle künftige Lagen ihres Lebens, den lieben Gott nur walten zu lassen und allezeit auf ihn zu hoffen. Wie viel retten wir aus dem Wechsel guter und böser Tage, wenn unser Vertrauen auf Gott stärker und fester geworden ist! Welch eine Frucht von allen Himmelsgaben, den Geber selbst zum Schutz und Schirm zu haben, welch eine Frucht von allen unsren Schmerzen, still auszuruhn an seinem Vaterherzen! O heil'ge Ruhe in Gott, selige Verfassung seiner Kinder in dieser bewegten Welt!
Aber welch ein geringer Gewinn und Ertrag selbst von einem der glücklichsten Jahre unsers Lebens, in welchem wir unsre bürgerliche Wohlfahrt gegründet, oder vortheilhafte Verbindungen geschlossen, oder die erfreulichsten Ereignisse in unfern Familien erlebt haben, wenn wir bei der anwachsenden Menge unsrer Sorgen keine Zuflucht, keine Hoffnung zu dem lebendigen Gott haben, keinen freien Aufblick zu seiner ewig leuchtenden Güte, wenn wir die Ruhe der wahren Gottseligkeit selbst auf die Beschreibung der glaubwürdigsten Zeugen nicht für Wahrheit halten. Unter Armen und Reichen, unten Glücklichen und Unglücklichen, unter Gebildeten und Ungebildeten herrscht dieser Unglaube, und so lange wir den Saamen dieses Unglaubens in einem mit irdischen Sorgen beschwerten Herzen aus einem Lebensjahre ins andre mit hinübernehmen; so werden uns weder beßre Zeiten, noch Vorzüge des Wohlstandes vor Andern, die noch unter dem Drucke der mißlichen Zeitumstände leben, zur wahren Zufriedenheit verhelfen und selbst die Gegenstände unsrer heißesten Wünsche werden uns mit der Zeit nicht vor Lebensüberdruß schützen, sie werden wohl gar Ursachen der peinlichsten Unruhe für uns werden.
Wir beantworten die vorgelegte Frage endlich in Beziehung auf unsre gesammte Lebensrechnung: Was bleibt uns von einem vergangnen Jahre unsres Lebens? Entweder die Furcht vor dem Ende aller unsrer Jahre, oder die frohe Gewißheit, unserm Ziele um einen bedeutenden Schritt näher gekommen zu sein. Denn so viel ist gewiß, ein beträchtlicher Theil der uns zugemessnen Lebenszeit ist verronnen, wenn abermal ein Jahr vorüber ist, und wir empfangen Alle eine starke Erinnerung an unsre eigne Hinfälligkeit und Vergänglichkeit. Um einen Schritt, der sich nicht zurückthun läßt, und der nach dem Maaßstabe unsrer Lebenslänge groß ist, sind wir Alle dem Tode näher gekommen. Es kommt nur darauf an, ob wir das diesseitige Leben mehr aus dem Gesichtspunkte der Zeit, oder mehr aus dem Gesichtspunkte der Ewigkeit betrachten, ob wir mehr für diese Welt oder für den Himmel leben. Sehen wir mehr aufs Zeitliche und hängen wir mehr am Zeitlichen: so muß jedes Jahr in seinem Ablaufe zugleich mit dem Keime der Sterblichkeit auch die Todesfurcht immermehr in uns entwickeln und ein stärkeres Gefühl unsrer Vergänglichkeit in unserm Wesen erzeugen, und das ersehen wir auch bei der Mehrzahl der Menschen aus den Anstalten, die sie treffen, es zu unterdrücken. Denn je älter sie werden, desto jünger wollen sie scheinen, desto weniger wollen sie an die Zahl ihrer Jahre erinnert sein, und nicht allein dieses, was auch aus andren Ursachen erklärbar wäre; sondern sie selbst weichen geflissentlich allen Todesbetrachtungen aus, um ihre Lebensrolle ungestört fortzuspielen, sie entfernen alle Bilder der Sterblichkeit aus ihrem Gesichtskreise und suchen sich im Bunde mit den sichern Weltkindern, die allen Gefahren trotzen wollen, ein gewisses Gefühl der Lebensversicherung auszuwirken. Wie vergeblich erscheinen uns diese Vorkehrungen, diese Zurüstungen wider den insgeheim gefürchteten König der Schrecken? Wie beklagenswerth muß diese Flucht vor dem Tode unter der Maske der Tapferkeit erscheinen? Wie bald ist dieser Uebermuth gebrochen? Wie kurz ist der Weg vom Schauplatz der Welt auf ein einsames Krankenlager, aufs Sterbebett, und vom Sterbebette in den Sarg, in die Gruft, in den Schooß der Erde zu den modernden Gebeinen derer, die vor uns begraben worden sind? Was bleibt uns also von einem vergangnen Jahre, wenn uns die Furcht vor der Vergänglichkeit dazu antreibt, unsre übrig gebliebnen Lebenskräfte zu einem falschen Muthe zusammenzuraffen? In welchem Lichte erscheinen uns dagegen die Frommen in ihrem Prüfungsstande, die bei aller Werthschätzung des Lebens, bei aller Dankbarkeit gegen die täglich neue Güte Gottes, bei der innigsten Liebe zu Allen, mit welchen sie Gott durch so sanfte Bande vereinigt hat, dennoch beim Ablauf eines Jahres sich freuen, unter Gottes Schutz und Beistand abermals einen Schritt zur Ewigkeit vollendet zu haben und ihrem himmlischen Vaterlande näher gekommen zu sein; mag sie ein starkes Gefühl ihrer eignen Hinfälligkeit ergreifen, so regt sich ein weit stärkeres Gefühl des Ewigen und Unvergänglichen in ihrer Brust, ein Vorgefühl ihrer Heimath, eine freundliche Hoffnung und Sehnsucht, dahin zu kommen, wo sie ewig bleiben sollen, wo sie der Herr von allem Uebel erlösen und ihnen zu seinem himmlischen Reiche aushelfen wird, wo sie kommen sollen zu den vollkommen Gerechten und zu den Vorangegangnen, die über alles Irdische erhoben sind.
Also noch einmal, meine Theuern, was bleibt uns von einem vergangnen Jahre unsers Lebens?
In Beziehung auf unsre Erkenntniß: entweder ein Schatz lehrreicher und heilsamer Erfahrungen, oder nur eine Menge zerstreuter Gedanken und Erinnerungen; in Beziehung auf unsre sittliche Bildung: entweder die verstärkte Macht böser Neigungen und Gewohnheiten, oder ein im Guten befestigtes Herz; in Beziehung auf unsre Gemüthsstimmung: entweder Sorge und Unruhe, oder ein bewährtes Vertrauen auf Gott und endlich in Beziehung auf unsre gesammte Lebensrechnung: entweder die Furcht vor dem Ende aller unsrer Jahre, oder die frohe Gewißheit, unserm wahren Ziele um einen Schritt näher gekommen zu sein.
Nun prüfet euch selbst, was euch bleibe, und redet aufrichtig mit eurem Herzen; denn den Aufrichtigen läßt es Gott gelingen und den Demüthigen gibt er Gnade. Bittet um so andächtiger um ein gesegnetes neues Jahr, dessen selige Folgen aus einer Zeit in die andre, und aus der Zeit in die Ewigkeit hinüber reichen. Betretet die neue Bahn als Kinder des Lichts und hoffet auf den lebendigen Gott, dessen Gnade währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.