Des seligen Johann Winklers, Pastors in Hamburg, Gründliche Gedanken von der Verlassung Jesu Christi

Des seligen Johann Winklers, Pastors in Hamburg, Gründliche Gedanken von der Verlassung Jesu Christi

(Genommen aus einer 1689 von ihm herausgegebenen Schrift: Das vollkommene Alles unserer Seelen, Jesus Christus, der Gekreuzigte. S. 153 - 166.)

Es ist Christus von Gott verlassen worden 1) in seinem Verstande, in welchem die inwohnende göttliche Weisheit in sofern ihr Licht verbarg, daß er Gottes Gute gegen sich nicht sah, sondern sein Verstand und seine Gedanken wurden ganz auf die Betrachtung der zugerechneten Sünde gezogen, wie einer, dessen Sinn auf etwas so stark gerissen ist, daß er sich auf nichts weiteres besinnt, und auch das nicht sieht, was doch sonst klar vor seinen Augen ist. Es ging dem frommen Jesu damals wie einem, den bei gewesenem klaren Wetter ein dunkler Nebel überfällt, daß er weder Himmel, Sonne, Bäume, Häuser, Menschen, noch etwas Angenehmes erblicken kann, und nichts vor seinen Augen hat, als den dicken Dampf, in welchem kein Ende zu erkennen ist. Er redet hievon selbst also: „Es hat mich umgeben Leiden ohne Zahl“ (eigentlich bis es nicht zu zählen gewesen, ob er sich auch darum bemühte), „es haben mich meine Sünden ergriffen, daß ich nicht sehen kann, ihrer ist mehr, denn Haare auf meinem Haupte, und mein Herz hat mich verlassen“, Ps. 40, 17. Aus welchem zu schließen ist, was damals der Verstand des Herrn ersehen und erkannt, nicht das Gute des Herrn, sondern lauter und so viel und unzählige Uebel, daß er dessen weder Ende noch Ausgang gesehen, denn es hat ihn ohne Zahl umgeben. Nicht daß es unmöglich war, aller Menschen und eines jeglichen alle und jede Sünde damals zu sehen. Denn mochte die göttliche Weisheit zuweilen in dem Stande seiner Erniedrigung so hell in seinem Verstand erscheinen, daß er sähe, wovon er zeugte, den unendlichen Gott, Joh. 3, 11. 32., so war es ihr leicht, ihm so viel Schein zu geben, alle unsere Sünde, böse Gedanken, Lüste, Absichten, Worte und Werke damals genau und also alle in ihrer Zahl zu sehen. Er sah aber gleichwohl kein Ende derselben. Was ist das Ende der Sünden und ihrer Strafe? Antwort: Göttliche Gnade und Seligkeit. Bis dahin reichten damals die hellen Augen Christi nicht, da ihn unsere Sünden ergriffen; wenn er auch alle Gedanken dahin richten wollte, wie aus dem zu sehen, daß er mitten in dieser Noth Gott den Namen der Gnade und Liebe gibt: „Abba, mein Vater“, so konnte er doch nicht seine Gedanken auf solche göttliche Liebe festsetzen, sondern was er sähe, das war Sünde, und zwar, wie sie überaus sündig und böse ist. Sie ist aber an ihr selbst ein schrecklicher Greuel und ein so arges Uebel in ihrer Schuld, daß sie niemand recht sehen kann, er sehe denn zugleich den unendlichen Zorn Gottes, den Fluch des Gesetzes und alle die Pein und Strafe, die eine jegliche Uebertretung zum gerechten Lohn bekommt.

Da nun Jesus dieses alles in einem Wust beisammen sah, und zwar als sein eigenes, wie er spricht: „Es haben mich meine Sünden ergriffen“, weil er sie mit gutem Willen und völligem Gewissen auf sich und seine Seele genommen, so war freilich das Gute des Herrn vor ihm verborgen, und lag in seinen Gedanken nichts, denn unsere Sünden und der göttliche Zorn. Nicht daß Gott über seine Person zürnte, an der war nichts Zornwürdiges, und das wußte auch Jesus wohl, der mitten in der großen Angst wohl erkannte, daß Gott sein Abba und er sein Kind war, sondern daß er nur daran gedachte, daß er die Sünde zu büßen über sich genommen und nun auch sehen mußte, was Sündenschuld sei, nämlich ein solch großes Uebel, davon unmöglich Gottes Zorn zu trennen, indem es vor Gott für möglicher erkannt worden, die persönlich angenommene menschliche Natur von dem Einfluß der göttlichen Liebe, als den Zorn Gottes vor der Versöhnung der Sünde zu lassen. Wie nöthig war es denn, daß Christus, indem er aller Menschen Sünden übernahm, auch den Zorn Gottes in solchem Nachdruck vor sich hatte, als von Rechtswegen der Sünde gebührt. Wie groß ist nun Gottes Zorn gegen eine Sünde? wie groß muß er sein gegen aller Menschen Sünde? Wie viel tausend Menschen haben gelebt auf Erden? wie viel leben noch? und wie viel werden leben? wie viel größer ist die Zahl der Sünden? weil kein Mensch ist, der nicht mehr Sünden als Haare auf dem Haupte hat.

So nun Eine Sünde der Verdammniß würdig ist, frommer Gott! was muß das für eine schwere Last des Grimmes Gottes sein, der über aller Menschen Sünde waltet? Dieser lag so wahrhaftig auf Christum, als wirklich er unsere Sündenschuld sich eigen gemacht; was Wunder, daß er sagt: Es hat mich umgeben „Böses“ ohne Zahl, daß ich nicht sehen kann: „Das Gesicht vergeht mir, daß ich so lange muß harren auf meinen Gott“, Ps. 69, 4.

Daraus erfolgt auch 2) die Verlassung Gottes in Christi Herzen und Willen, als er auch an vorige Worte anfügt: und „mein Herz hat mich verlassen“; und wiederum spricht er: „Mein Herz“ ist in meinem Leibe „wie zerschmolzen Wachs“, Ps. 22, 15,, wie auch: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod“, Matth. 26, 38. Es begriff der Verstand Christi das Sündenübel nicht ohne die Gemeinschaft der empfindenden Kräfte und also vornehmlich seines Willens. Denn mit seinem Willen hat er solches zu büßen sich zugeeignet, und also auch solche Buße auf seinen Willen genommen. So ist auch die Sünde nicht eine bloße Sache des Verstandes, sondern vornehmlich des Herzens, Matth. 15, 19. Was ist gerechter und billiger, als daß das Herz leide, das an der Sünde die größte Schuld hat? Und soll der andere Adam, Jesus, alle Gerechtigkeit erfüllen, so war es nöthig, daß auch sein heilig Herz das große Uebel der Sünde fühlte. Sünde und Gottes Strafe, so sie an uns selbst kommen, mögen nicht mit Vergnügen ertragen werden. Eine großmüthige, hochverständige und heilige Seele kann wohl schwere Dinge übernehmen und großes Kreuz erdulden, nicht aber die Sünde und den göttlichen Zorn, welche der wahren Heiligkeit und Weisheit zuwider sind, und je größer diese ist, desto größer ist der Eckel der Sünden.

Das Herz Christi war das allerheiligste, und gewohnt, keinen andern Grund seines Vertrauens und kein ander Objekt seiner Liebe zu haben, als Gott, das höchste Gut. Die Welt kann wohl mit ihrer Herrlichkeit tausend Menschenherzen zu ihrer Liebe bewegen. Dieses heilige Herz aber konnte sie nicht zu der geringsten Abneigung von Gott bewegen, welches Vertrauen und Liebe es auch mitten in dem Leiden der göttlichen Verlassung behielt. Wenn er mußte um Gottes willen leiden, sprach er doch: Bewahre mich Gott, „denn ich traue auf dich“, Ps. 16, 1. 2. Und wenn er klagt über Gottes Verlassung, bekennt er doch: „Du bist mein Gott von meiner Mutterleibe an“, Ps. 22, 11. Da das Leiden seine Seele anging, redete er von Gottes Liebe: daß die Welt erkenne, „daß ich den Vater liebe“, und ich also thue, wie mir der Vater geboten hat, Joh. 14, 31. Sein Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen, das ihm diese Verlassung auspreßte, kam daher, daß er „Gott in Ehren hatte“, Hebr. 5, 7. Das sind Zeugnisse, daß auch in diesem harten Stand das Herz Christi im Vertrauen, Liebe, Gehorsam und wahrer Heiligkeit geblieben, und gleichwohl wurde es also verlassen, daß es war wie zerschmolzen Wachs, welches vor dem Feuer nicht steif, sondern weich und fließend ist, daß Christo darüber zu Muthe war, als hatte er kein Herz und in demselben kein Vertrauen, Muth, Trost und Vergnügen. „Mein Herz hat mich verlassen.“ Unser Heiland hat allzeit ein heiliges Herz, großes Vertrauen und Liebe Gottes. Gleichwie nun das Vertrauen eine angenehme Ruhe in Gottes Liebe und die Liebe einen süßen Genuß in Gott wirkt, also wurde in solcher göttlichen Verlassung nicht das Vertrauen und die Liebe, sondern nur die Wirkung inne gehalten, daß das herzliche Vertrauen seine Ruhe und die inbrünstige Liebe Christi ihre Vergnügung nicht empfand. Solche Wirkungen lagen in einer so starken Aufhaltung, als es zu geschehen pflegt, wenn man mit dem Tode ringt, Luc. 22, 44., in welchem Zustande Verstand, Herz und Sinn in ihrer Wirkung immer schwächer werden und oft in Ohnmächten gar ruhen; also ruheten die Kräfte des Herzens Christi in Gottes Verlassung; nicht daß sie nicht das ihrige thäten im Vertrauen und Liebe Gottes, sondern daß sie nicht an den Genuß und Vergnügung der Güte Gottes, wie zuvor, gelangten. Diese hielt sich vor seinem Herzen insofern völlig inne; und so war er in der Grube, da kein Wasser innen ist, Zach. 9, 11., also, daß nicht der geringste Tropfen aus dem Trostquell der ergötzenden Liebe Gottes damals in sein Herz troff; und war daher diese Verlassung weit anders, als wenn sich die Gnade Gottes in den Herzen der Frommen zur Zeit der Anfechtung nicht empfinden läßt, weil bei diesen noch immer einige Funken des Trostes merklich aufsteigen. Fühlen sie nicht die Tröstungen des Glaubens, so fühlen sie einige Kraft der Liebe zu Gott. Man frage sie in dem härtesten Kampf, ob sie nicht eine Freude darüber haben, daß sie nicht verstockte Juden, barbarische Heiden, grobe und lasterhafte Sünder, sondern Christen sind und dergleichen mehr? Sogar ermangelt ihnen nicht aller Trost, sondern so sie des Leidens Christi viel haben, so werden sie auch durch ihn reichlich getröstet. Aber Christi Herz hatte es so gut nicht, als es Gott verließ. Da war nicht der geringste Blick göttlicher Erfreuung, Tröstung, Erquickung. Fröhliche Bewegungen und Beruhigungen der Seele waren so ferne von ihm, daß, da er in solchem Zustande sich gegen die hoch angefochtenen Gläubigen altes Testaments, die über ihr Elend schrieen, ansieht, so war seines gegen dieses ihres so groß, daß er sich in Gegenhaltung einem armen Wurm vergleicht: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch“, Ps. 22, 6, 7. So ein großer Unterschied war zwischen seinem und der Heiligen größten Leiden, als zwischen einem Wurm und Menschen ist.

Wie betrübt war darüber das liebe Jesusherz! Wie schmerzlich ist uns der Verlust deß, das unsere Seele liebt! und je größer die Liebe, desto größer der Schmerz über des Geliebten Mangel. Christi Herz liebte nichts, als Gott, den liebte es in der größten Vollkommenheit, der war dessen einzige Freude und Leben; und Gott verliert sich sogar in diesem Herzen, daß es vor ihm keine Bewegung der Gnade merkt. Das heilige Herz war gewohnt, Gottes mit großer Ruhe und Freude zu genießen, nunmehr verschwand aller Geschmack seiner Güte. Es war vollkommen heilig und hatte vor der geringsten sündlichen Lust eine weit größere Abneigung, als die allerheiligsten Leute vor den schändlichsten Sünden; und muß doch nun leiden, daß auf ihm aller Menschen Sünden lagen. Es war der fröhliche Tempel der Liebe Gottes, und war ihm daher der Zorn Gottes desto mehr zuwider; und nun fühlt es anstatt der Liebe den bis in die unterste Hölle brennenden Zorn Gottes. Zarte Herzen können das wenigste vertragen und kommt ihnen das Leiden desto schwerer an. Wie keine heiligere Seele auf Erden gewesen, als die in Christi Leib wohnte, so auch kein zarteres und empfindlicheres Herz gegen die Sünde und ihre Strafen; und dennoch leidet es so viel, als alle Herzen ewig sollen leiden. Wer kann aussprechen die große Qual? Wäre es in dem beharrlichen Anschauen der Herrlichkeit Gottes voller himmlischer Lust, und nur in seinen untern Kräften voller Betrübniß gewesen (wie die Papisten meistentheils wider die Schrift gute Vernunft und alte Kirchenlehrer vorgeben), so wäre diese Noth des Herzens weit geringer. Denn was die Traurigkeit gekränkt, hätte das himmlische Anschauen Gottes in den weit stärkeren Kräften versüßt. Aber nein, es mußte nichts sehen und empfinden von Gottes Freude, wie die Verdammten, die Gott also verlassen, daß ihnen auch der kleinste Tropfen der Erlabung versagt wird, Luc. 16, 24. Denn es fielen auf Christum die Schmach, „die Schanden“ derer, die Gott schmähen, Röm. 15, 3. Ps. 69, 10. Nun ist die rechte Schande der Feinde Gottes die Verdammniß, sie werden auferstehen „zur ewigen Schmach“ und Schande, Dan. 12, 2. Auch diese fiel auf Christi Herz, daß er war wie ein Mann, der keine Hülfe hat. Er schrie zu Gott: „Warum verstoßest du, Herr, meine Seele, und verbirgst dein Antlitz vor nur? Ich bin elend und ohnmächtig, daß ich so verstoßen bin, ich leide dein Schrecken, daß ich schier verzage“, Ps. 88, 5. 16. So groß war diese Noth, daß Christus in derselben schier verzagte. Nicht daß zur Verzweiflung sein Herz gekommen, die war in ihm nicht möglich, als die an sich selbst nicht ein wesentlich Stück der Verdammniß (wie an dem Erlöser zu sehen), sondern eine Folge der Verdammten ist, die deßwegen verzweifeln, weil ihre Person auf einmal nicht kann allen gerechten Zorn Gottes, wie Christi unendliche Person, ertragen. sondern es gehört die Ewigkeit dazu, weil sie ein ewiges Gut verworfen, und da sie also in Ewigkeit keine Erlösung wissen, müssen sie nothwendig verzagen. Das findet aber in Christo keinen Platz, der auf einmal die höchste Kraft aller höllischen Qual aus dem Vermögen der persönlich inwohnenden göttlichen Kraft erdulden konnte, und daher wurde auch sein Herz in so großem Nachdruck von Gott verlassen, als aller Verdammten ewige Verlassung, Nachdruck und Kraft ist. Hilf Gott! wie groß ist diese? Und er mußte doch solche leiden, auf daß er für uns Alle ein Fluch würde, alle unsere Schmerzen und Schmach auf ihn fielen, und er also büßte, was wir verschuldet.

Es verließ Gott Christum 3) im Gewissen. Denn weil seine Seele um und um betrübt war, so drang auch die Betrübniß auf diese Seelenkraft, auf das Gewissen. Es ist das Gewissen ein Stück des göttlichen Ebenbildes, ein Theil der anerschaffenen Weisheit und Gerechtigkeit, das mit göttlicher Heiligkeit eine solche Verbindung hat, daß, ob es wohl zur Natur des Menschen gehört, gleichwohl, so der Mensch gesündigt, von ihm ab und auf Gottes Seite tritt und Gott Recht gibt. So lange nun das Gewissen gut bleibt, so hat es in solcher Uebereinstimmung mit Gott große Vergnügung, Ruhe und Freude; wird es aber durch die Sünde ein böses Gewissen, so wird es im Herzen wie ein brennend Feuer, in Gebeinen verschlossen, daß man es nicht leiden kann, und schier vergehen muß, „man wird ermüdet, ihm zu widerstehen, und kann's doch nicht“, Jer. 20, 9. Denn es hat in sich die große und feurige Begierde der Seelen zu ihrem vergnügenden Wohl, welches eigentlich Gott ist. Ueberzeugt es nun die Seele des göttlichen Zorns und Strafen der Sünden halber, so preßt es solche feurige Begierden des Herzens fester zusammen und brennt desto heftiger, weil es in Gott nicht Ruhe, noch Trost und auch sonst nirgend findet, wie ein groß Feuer, das auszubrechen sucht, aber verschlossen ist, in sich selbst nur heftiger wird. Und solches Gewissen ist desto empfindlicher, als heiliger es ist. Zarte Gewissen empfinden ungleich größere Pein, über eine grobe Sünde, als sichere, die eben solche Sünde begangen, weil sie heiliger sind. Nun ist kein heiliger Gewissen jemals in der Welt gewesen, als Christi. Das war sich nicht der geringsten Sünde, ja auch nicht die Möglichkeit derselben bewußt, sondern hatte eine vollkommene Gemeinschaft mit göttlicher Gerechtigkeit, es war heilig und von den Sünden abgesondert. Was für unaussprechliche Zartigkeit hatte es? Wie vergnügt und beruhigt war es doch in Gott? Gleichwie aller Menschen Heiligkeit der seinigen nicht gleich kommt, also kommt auch aller Heiligen Gewissensfreude seiner nicht bei. Sein Gewissen war der klare Spiegel, in welchem sich mit vollem Glanz die Heiligkeit abstrahlte. Was gab dieses für unsägliche Gewissenslust!

Da es aber von Gott verlassen wurde, muß sich dieses so herrliche Gewissen auf das, was ihm außer Gott bewußt war, ziehen, und das waren alle unsere Sünden. Derer aller war er sich damals bewußt, nicht, daß sie sein eigen, sondern von ihm so zugeeignet waren, als hätte er sie selbst gethan, wie er auch von ihnen als seinen eigenen redet: „Es haben mich meine Sünden ergriffen“, Ps. 40, 13. Wie er sich nun mit völligem Wissen und Gewissen unsere Sünde zugerechnet, so mußte er auch kraft solcher Zueignung die Qual eines solchen bösen Gewissens fühlen, als alle bösen Gewissen für alle ihre Sünde. Hier bedenkt man doch reiflich die Größe dieser Pein! Dieses heiligste Gewissen war bisher in der höchsten Ruhe auf göttlicher Liebe gestanden, nunmehr muß es klagen: „Gott, du weißt meine Thorheit, und meine Schulden sind dir nicht verborgen“, Ps. 69, 6., weil es in solchem Zustand sich befand, in welchem Gott nicht auf seine eigene Heiligkeit sah, sondern nur, als ein gerechter Richter, wußte und vor Augen hatte die zugerechnete Sünde, über welche sein Zorn wüthet. Dieses Gewissen hatte die heiligsten und vollkommensten Begierden nach göttlicher Vergnügung, und diese findet es nun gar nicht, sondern muß auf die zugeeigneten Sünden der Menschen fallen. Wie groß war dieses Gewissensfeuer in einer solchen von Gottes Liebe feurigen Seele! Dieses Gewissen war das heiligste und also empfindlichste, das eher den Himmel missen und die Hölle schmecken, als nur die geringste Sünde thun konnte, und nun ist es sich aller der gräulichsten Sünden des Menschen und also auch aller Strafen derselbigen bewußt. Habt ihr rasende, verzweifelnde, wüthende Gewissen gesehen? Könnt ihr nicht begreifen den Wurm, der in Ewigkeit nicht stirbt, und das Feuer, das nicht verlöscht? Wie sehr euch aber diese quälen, so ist dennoch die Gewissensmarter des Heilandes nicht begreiflich und aussprechlich, da er in göttlicher Verlassung die Schmerzen aller bösen Gewissen trug, ohne einige Tröstung seines Gewissens. Dieß Feuer hätte ihn verzehrt, wo nicht eine verborgene Starke ihn erhalten. Er spricht deßhalb: „Die ihr nahe seid, merket meine Stärke. Die Sünder zu Zion sind erschrocken, Zittern ist die Heuchler ankommen und sprechen: Wer ist unter uns, der bei einem verzehrenden Feuer wohnen möge? Wer ist unter uns, der bei der ewigen Gluth wohne? Wer in Gerechtigkeit wandelt“ rc., das ist er allein, der Messias, Jes. 33, 13. 14. 15. Ich füge hinzu die geistreichen Worte Luthers: „Dieweil das Schlagen Gottes, damit er ihn um der Sünde willen schlägt, nicht allein eine Pein des Todes ist, sondern auch eine Furcht und Schrecken eines geängsteten Gewissens, das den ewigen Zorn fühlt, und sich also stellt, als sollte es ewig verlassen und von dem Angesichte Gottes verworfen sein, wie David bekennt im 31. Psalm, da er V. 23. spricht: Ich aber sprach in meinem Zagen, ich bin vor deinen Augen verstoßen: so folgt gewißlich hieraus, daß auch Christus gelitten habe Furcht und Schrecken eines geängsteten Gewissens und das da schmecket den ewigen Zorn, Hebr. 4, 15. c. 2, 17.“

Gott verließ Christum 4) in den untern Kräften der Seele, daß ihm Muth und Freude verfiel, die sich sonst aus seinem heiligen Verstand und Herzen in die Affecten ergoß. Aber auch an diesen Affecten mußte sich göttliche Gerechtigkeit bezeigen, wie feind sie ihnen sei, weil sie bei den Menschen den bösen Gedanken und Neigungen des Herzens einen großen Trieb geben. Daher auch unser Bürge, Jesus, an seinen Affecten der menschlichen Affecten Bosheit büßen mußte. Denn sollte er sein der barmherzige und treue Hohepriester vor Gott, zu versöhnen die Sünde des Volks, so mußte und sollte er „nach Allem“, ausgenommen die Sünde, seinen Brüdern gleich werden und leiden, Hebr. 2, 17. 18. Wie nun seinen Brüdern aller Muth und Freude vergeht, so sie von Gott verlassen werden, also verging solche auch dem großen Hohenpriester. Wie schwer war nun dieses? Die Papisten geben zu, daß Christus an seinen Bewegungen die größte Traurigkeit, Furcht und Angst empfunden, obgleich Verstand und Herz in himmlischer Wonne jauchzte. Aber hiedurch vermindern sie auch die Last des Leidens in diesen untern Kräften; denn diese sind an sich ohne Erkenntniß und haben in den heiligen Seelen ihre stärksten Bewegungen von dem Verstand und Herzen. So stark nun Verstand und Wille das Böse faßt, so stark ziehen sie die Kräfte nach sich und also hat man ihre Qual nach Verhältniß des Leidens, welches das Herz fühlt, zu achten. Nun begriff das heilige Herz Christi eine völlige Verlassung des so einzig, inbrünstig und vollkommen geliebten Gottes, so mußte auch die Leidenschaft Christi fühlen, was es sei, von Gott verlassen sein. Wie unsäglich unruhig und elend zeigen sich die Affecten bei den Verzweifelten, die die Kraft der Verlassung Gottes an sich erfahren! sie wissen nicht, wo sie sich vor großer Angst lassen sollen, Niemand kann sie ansehen, der nicht vom bloßen Anblick traurig wird; was muß die Empfindung selbst sein? Christus verzweifelte zwar nicht, er litt aber eben die Marter der Verlassung Gottes, die alle Verzweifelte quält, und darum zitterte und zagte er. O ihr heiligen Leidenschaften, wie unvergleichlich groß war eure Angst! Je größer die Freude an dem Geliebten gewesen, desto größeren Schmerz zieht dessen Beraubung nach sich. Zarte Seelen haben auch empfindliche Triebe. Worauf einem sein ganzes Herz gestanden, dessen gänzliche Entstehung reißt Herz und Freude mit hin, und ist ihm, als wäre ihm die Welt zu enge, das Leben ein Tod und der Tod eine Freude. Wer hat Gott höher geliebt, als Christus? Wer hat sein Herz ihm völliger ergeben, als Er? Wer hat eine zartere, heiligere Seele gehabt, als Er? Auf was hat Jemand so mächtig mögen gezogen sein, als Christi Seele auf Gott? Wer hat größere Freude in diesem Leben an dem höchsten Gute gehabt, als Er? Sinne ich diesem nach, und sehe meinen Heiland so stark von Gott verlassen, so sehe ich eine Tiefe der Qual vor mir, die in seinen Leidenschaften wüthete, daß mir die Gedanken, weiter einzusehen, vergehen.

Gott verließ Christum 5) an seinem Leibe. Dieser war das große Heiligthum Gottes, das absonderliche Fingerwerk des heiligen Geistes, der Tempel der leibhaftig inwohnenden Fülle der Gottheit, das geheiligte Werkzeug der göttlichen und unvergleichlichen Werke. Kein Glied war an ihm, ja nicht ein Blutstropfe, der nicht war der eigene des Sohnes Gottes, ein so herrlicher Leib, den die Engel mit Lust anbeten, als der höher worden, als die Engel und alle Kreaturen. War jemals daher ein Geschöpf in Gottes vorsorgender Werthhaltung (Hochachtung), so war es dieser heilige Leib Christi. Aber da er wurde ein Fluch für uns, so war auch sein Leib von Gott verlassen. Er war aus bedachtem Rath und Versehen Gottes ergeben, ausgehändigt, wie einer den Feinden ausgeliefert wird, dessen man sich nicht mehr annehmen will, Apstg. 2, 23., welches auch der Herr beklagt: „Ich liege unter den Todten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst, und sie von deiner Hand abgesondert sind“, Ps. 88, 6. Da war kein göttlicher Schirm, der die Schmach und Lästerung; kein Schild, der die Speichel, Schläge, Dornen, Peitschen und Nägel von diesem Leibe abwendete. Er wurde von dem Scheitel bis auf die Fußsohle ohne Barmherzigkeit so übel zugerichtet, als wäre er nicht eines Menschen, sondern eines unvernünftigen Thieres Körper, auf welchen man mit freier Wuth zuschlagen kann. Der heilige Leib war ein solcher verlassener Raub der Ungerechten, als wäre keine göttliche Vorsehung, die den Grimm der Feinde regierte. Der Schutz der Engel mußte da zurückstehen, daß obwohl Christus konnte seinen Vater bitten, daß er ihm zusendete mehr denn zwölf Legionen Engel, so durfte sich doch damals Keiner regen, die schmerzlichen Schläge abzuwenden; hingegen hatte die Hölle Macht, alle ihre Macht zur Peinigung Christi aufzubringen. Das ist eure Munde und Macht, die Freiheit der Finsternis, Luc. 22, 53. Da das Schwert schlug auf diesen Mann, der Gott am nächsten, so zerstreute sich die Herde seiner Freunde, die ihn „Alle verließen und flohen“, Matth. 26, 31. 56., und welche ihm noch folgten mit Thränen, denen verbot er selbst, über ihn zu weinen, Luc. 23, 28., sich in solchem Zustande wissend, in welchem die himmlische Barmherzigkeit kein Mitleiden mit ihm trug, wie sollten es die schwachen weiblichen Herzen dem Himmel zuvorthun? Der Himmel selbst verfinsterte sich, es war eine Finsterniß über den ganzen Erdboden kurz zuvor, als er schrie: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Was wollte Gott anders durch dieselbe, die ein alleiniges Werk seiner Macht war und sonst ein Bild seines Zornes ist, bezeugen, als daß er Christum so verlassen, daß sich auch der äußerste Vorhof der majestätischen Güte Gottes, der Himmel mit seinen Lichtern, verdecken muß, damit nicht eine fröhliche Kreatur auch nur seine Augen noch in Etwas erlustigen möchte, so verlassen war er von Gott, als sonst Niemand nicht. -

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