Werner, Ludwig - Das Werk der rettenden Liebe innerhalb der Christenheit.

Werner, Ludwig - Das Werk der rettenden Liebe innerhalb der Christenheit.

Festpredigt beim Jahresfeste der inneren Mission über Luk. 15, 1-10 (Misericordias Domini))

von Generalsuperintendent Werner in Kassel.

Text: Luk. 15, 1-10.

Wir stehen in der höchsten Freudenzeit des Kirchenjahres. Das Fest der Feste haben wir gefeiert und begehen nun die vierzig Tage, in denen der Herr nach seiner Auferstehung bei seinen Jüngern sichtbar ein- und ausging. Das Leben, das den Tod besiegt, das Leben, das das Grab durchbricht, das Leben, das die Totenbeine lebendig macht, ist's, das wir feiern. Anders schauen wir nun in die Zukunft, über das Sterben hinaus, in das ewige Leben, wo das unvergängliche und unbefleckte und unverwelkliche Erbe uns behalten wird im Himmel. Anders aber sieht nun auch der Glaube auf das geistliche Totenfeld eines erstorbenen Volkes, auf das geistliche Elend von Tausenden von Brüdern und Schwestern, für sie alle ist nun Hoffnung da, denn Jesus lebt und hat seinen Geist zurückgelassen in der Gemeinde, der wieder Leben und Odem gibt.

Und in dieser vierzigtägigen Freudenzeit kommen wir in dieser Woche vom Sonntag Misericordias Domini, dem Sonntag „vom guten Hirten“. Im Osterlicht preisen wir in diesen Tagen die Barmherzigkeit des Herrn: der Auferstandene ist der Inbegriff aller zarten Liebe, innigen Erbarmens, der gute Hirte, der für die Schafe sein Leben ließ, der seine Schafe mit Namen ruft, der die zerstreuten herführen muss, dass es eine Herde unter einem Hirten werde. Jesus steht nach dem Evangelium dieser Woche da und ruft seiner Gemeinde zu: „Ich bin der gute Hirte!“ und seine Gemeinde jauchzt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln! Wir waren wie die irrenden Schafe, aber nun sind wir bekehrt zu dem Hirten und Bischof unsrer Seele. Halleluja!“

In dieser Woche nun feiern die Vereinigungen für Innere Mission in diesem Lande ihr Jahresfest. Ihr versteht, Geliebte, warum wir an diesem Feste den Text gelesen haben von dem Hirten, der einem verlorenen Schafe nachgeht und sucht, bis dass er es finde, und trägt es heim auf seinen Achseln mit Freuden. Ohne dieses Gleichnis fehlte dem Bilde vom guten Hirten, unter dem wir unsern Heiland schauen, sein lieblichster, herrlichster Zug. Das ist's, was wir an diesem Feste preisen: die Heilandsliebe, mit der der gute Hirte uns Verirrte gesucht, uns Verlorene erworben und gewonnen hat, mit der er sich aller Verirrten annimmt, aller Verlorenen erbarmt. Aber ihr versteht wohl auch, warum wir das zweite Gleichnis im Texte mitgelesen, das der Herr selbst zum ersten gefügt, von dem Weibe, das seinen Groschen sucht, den es verloren hat, den es wiederhaben muss. Das Weib ist „des Herrn Magd“, und wiederum des Heilands Braut, es ist seine Kirche, seine Gemeinde, die die ihr vertrauten Groschen nicht verlieren darf, und so sie einen verloren hat, das Licht anzündet und sucht, bis dass sie ihn findet. Es ist dieselbe Liebe, mit der der Herr sie selbst gewonnen, die nun in ihr Herz ausgegossen ist, dieselbe göttliche Liebe, mit der sie, die selig gewonnene, nun auch nicht dulden kann, dass eine ihr vertraute Seele verloren gehe.

Das aber ist es ja, was wir Innere Mission nennen, die Arbeit der Kirche, in ihrem Heimatgebiete das Verirrte zu suchen, das Verlorene zu retten, das Gefährdete zu bewahren, die Aufraffung der Liebeskräfte, die in ihr wohnen, dass niemand der Ihren verloren werde. Die Heilandsliebe preisen, die uns gerettet hat, und die dankbare Liebe in uns selbst wecken und stärken, die Funken der rettenden Liebe, die in uns glimmen, zu lodernder Flamme anfachen, das, meine Brüder und Schwestern, ist die Aufgabe unsers Festes. Das möge sein Segen sein, dass wir dann unsere Straße fröhlich ziehen, die uns seine Liebe weist! So sei das Thema auch dieser Predigt:

Das Werk der rettenden Liebe innerhalb der Christenheit.

Drei Worte aber klingen aus den beiden Teilen unsers Textes: ein Wort der schmerzlichen Klage, ein Wort der unbesieglichen Hoffnung, ein Wort der triumphierenden Freude.

1. Verloren! so lautet das Wort der Klage,
2. Auf zum Suchen! so lautet das Wort der Hoffnung,
3. Gefunden! das ist das Wort der ewigen Freude.

1. Verloren!

ein schreckliches Wort! Wenn einer im Hochgebirge in den Abgrund rutscht, in den Todesschlund der Tiefe stürzt, oder wenn vom Schiffe hinweggespült einer vor den Augen verschwindet, oder das Schiff selbst in den Strudel hinabfährt, da klingt das entsetzliche: Verloren! So schließt sich der finstere Abgrund ewigen Verderbens über Menschenseelen, die geschaffen sind für das ewige Licht bei unserm Gott. Keine Liebe erreicht sie mehr, keine Zeit erlöst sie. Wer kann daran denken ohne Tränen des Jammers, ohne dass aus innerster Seele der Seufzer steigt: Behüt uns, lieber Herre Gott!

Wenn aber nun noch Zeit zur Rettung ist, wenn das „Verloren“ erst drohend über der Menschenseele schwebt und seine dunklen Fittiche noch nicht ganz um sie gelegt hat, gilt es denn da nicht: helfen, retten, wagen!? Wenn einer in die Tiefe sinkt und sein Klageruf tönt noch herauf, oder er liegt nur ohnmächtig, sich selbst zu helfen - wird nicht alles aufgeboten zur Rettung? Wenn von dem gestrandeten Schiffe die Notschüsse und Hilferufe gehört werden, wie eilt man, Rettungsseile ihnen zuzuschießen, das Boot mit eigener Lebensgefahr durch die Brandung zu steuern!

Und davon ist die Rede in unsern Gleichnissen. Der Hirte hat das Schaf verloren, es irrt vielleicht in der Wüste, es ist in Gefahr, zu verschmachten, es liegt vielleicht in Dornen gefangen, es kann wilden Tieren zur Beute werden, da macht der Hirte sich auf. Verloren ist der Groschen, er liegt im Schmutz, er wird in Kot getreten, oder er liegt im finsteren Winkel; aber im Lichte blinkt wohl das edle Metall noch auf, und wiederhaben muss ihn das Weib zu seinen neun. Es zündet das Licht an, es kehrt das Haus, es spart keine Mühe, es muss ihn finden. Verloren ist der Sohn auf Sündenwegen, aber wenn er in sich schlüge, wenn er heimkehrte, wenn er an des Vaters Herzen Vergebung suchte! o, wie sucht die Liebe Mittel und Wege zur Rettung. Siehe, das ist der Ruf, der uns nicht sollte schlafen lassen, der über Tausende unsrer Brüder und Schwestern, über unsere Miterlösten tönt. Verloren aber noch ist Zeit zur Rettung! und Gott will, dass alle gerettet werden!

Als Jesus das Volk ansah, jammerte ihn desselbigen, denn sie waren verschmachtet und wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und wir heben unsere Augen über unser Volk, und wie viele sind, wie jene, Schafe ohne Hirten. Und doch sollte es nicht so sein. Ist doch der gute Hirte da, der das Volk weiden will auf grüner Aue. Und er hat sich Unterhirten bestellt, die das Volk weiden sollen und jedem geben nach seinem Bedarf. Es sollte keiner verschmachten.

Aber sollen wir die Nöte noch schildern, in denen sie gehen: hirtenlos, ohne Hut und Weide? Wohl kann in den meisten Landgemeinden noch das Auge des Hirten die Nöte der Schafe erkennen und im Elend trösten, o, dass es nur überall geschähe! aber selbst hier vermag er oft nur halbe Hilfe zu bringen, weil die dienenden Hände fehlen, weil die Mittel versagen. Auch da liegen die Einsamen, auch da wachsen viele Kinder auf in Entbehrung mütterlicher Liebe. Aber gehen wir nun in die großen Städte!

Wieviel Hausstände sind, in denen Vater und Mutter, oder die Witwe nur wie schiffbrüchig über der Tiefe schwebt. Zur Armut kommt Krankheit, zur Krankheit kommt Glaubenslosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Der Abgrund unter ihnen, und von oben keine Hand, die sich ihnen entgegenstreckt. O, wieviel solchen verborgenen Jammers mag auch diese gesegnete Stadt in sich bergen!

Über wie vielen Kindern schwebt schon das Wort: Verloren! Nicht Waisenkinder meine ich allein, o, sie sind oft noch glücklich, aber Kinder, deren Vater im Gefängnis sitzt oder davongegangen ist, deren Mutter auf bösen Wegen geht, und sie selbst verwahrlost, missbraucht! wo ist die Liebe, größer als Mutterliebe, die sich ihrer erbarmt?

In wie vielen Gefahren schwebt die heranwachsende Jugend! Vielleicht war der Sohn und die Tochter zu Hause gehütet von Elternaugen, von der Sitte und Zucht im kleinen Heimatsorte unter den Augen des Pastors, unter Beobachtung der Gemeinde. Und nun kommen sie in die fremde, große Stadt, ohne Halt der Familie, ohne Zucht der Liebe, ohne Hut der Kirche! Wer sammelt, wer hält, wer trägt sie, ehe das furchtbare Wort: Verloren! über ihnen tönt? Wie manche Tochter kommt zu dienen, zu verdienen, die Eltern zu unterstützen mit saurem Lohn, aber wenn ihr ein glänzenderer Lohn auf leichteren Bahnen winkt, auf den Wegen der Lust und des Lasters, auf dem Wege, der durch Auen zum Abgrund führt, wer nimmt sich ihrer an, wer bietet ihr den Halt, die Hut, deren sie bedarf?

In den Hospitälern liegen die Elenden, die Kranken, die aus der Ferne kommen. Und werden sie entlassen, wie manche gehen mittellos, arbeitslos dahin! Der Hunger, der Bettel, das Laster folgen einander, und ohne Heimat füllen sie die Straßen, eine Plage des Landes. Sollen sie, Geliebte, alle verlorene Leute werden? Die im Leichtsinn ins Unglück gehen, die man im Gefängnis und in der unreinen Abteilung des Spitals wiederfindet, nachdem sie der Lust gefolgt, soll der Groschen, der des Herrn Bild getragen, im Kote liegen bleiben, sollen die unsterblichen Seelen, die der Herr erkauft, in ewiger Nacht untergehen?

Geliebte! Wir wissen es doch, wie ganze Schichten unsers Volkes, von mancher Not gedrückt, von den Geistern der Finsternis getrieben, von Hass und Feindschaft erfüllt, ohne das Evangelium der Liebe recht zu kennen, dahingehen und den ganzen Bestand des Volkslebens bedrohen! Sollen sie verloren heißen - ohne Rettung? Sind sie nicht auch nach dem Namen unsers Gottes genannt und mit dem Blute des Erlösers gezeichnet?

Und es sind nicht nur die Armen, wie viele Hohe und Große sind ferne gekommen von der Quelle des Heils, von dem Brunnen des Lebens!, unser armes Volk, das seinen Heiland nicht mehr kennt, das nicht mehr unter dem Segen des Heiligen wandeln will! Soll dieses gesegnete Volk, dieses Volk reicher Gaben denn ein verlorenes Volk werden? Klingt nicht darüber das Wort des Herrn nach den Propheten: Mich jammert herzlich, dass mein Volk so verdorben ist. Ist denn keine Salbe in Gilead? oder ist kein Arzt nicht da? Warum ist die Tochter meines Volkes nicht geheilt? Warum, warum? Ein Arzt ist da, der alle Wunden heilen will. Fragst du, wer der ist - er heißt Jesus Christ! Es ist eine Salbe da, und wir kennen sie, und der Arzt hat sie uns gegeben in unsere Hand. Es ist das süße Evangelium der erbarmungsvollen, heiligen Liebe, es ist die überwindende Kraft der selbst- verleugnenden, opferfreudigen Liebe, die er ausgegossen hat in unsere Herzen. Warum ist die Tochter meines Volkes nicht geheilt?

Sollen wir sagen: der Name des Herrn ist überall bekannt. Wer ihn suchen will, kann ihn finden. Wer verloren geht, trägt seine eigene Schuld?, wohl eigene Schuld, aber wieviel auch liegt auf ihm die Schuld anderer! Wenn wir zurückgehen in den Lebensweg so vieler, über denen nun drohend die Klage: „Verloren!“ schwebt, wieviel haben Eltern, haben Lehrer, haben Herrschaften versäumt, wieviel auch das kirchliche Amt! Wie viele Hände der Versuchung streckten sich ihm entgegen mitten in der Christenheit, und wie wenige zur Rettung!

O, es ist eine Gesamtschuld der Christenheit, es ist eine Anklage wider uns alle, wenn ein neues Heidentum in unsern Städten heranwächst, wenn eine „innere Mission“ im Christenlande entstehen musste! Aber sie musste wahrlich! Als die Kirche aus ihrem Scheintode erwachte, da sahen diejenigen, die Jesum erkannten, mit Schrecken, welche Gefahr unserm entfremdeten Volke drohe, da ging eine selbstanklagende Stimme durch die Herzen der Besten unsrer Kirche: Wieviel Verlorene unter uns! eine Klage: Ist denn kein Arzt nicht da? Warum ist die Tochter unsers Volkes nicht geheilt? Aber nicht bloß eine hoffnungslose Klage! Aus der Klage: Verloren! ging der Mahnruf der Liebe, die alles glaubt, alles hofft, der Mahnruf zur inneren Mission hervor. In der Hoffnung, die sich nicht dämpfen lässt, ergeht der Ruf:

2. Auf zum Suchen!

An wen ergeht der Ruf? An wen soll er gehen, als an die Liebe Christi in den Herzen seiner Gläubigen? Die rettende Liebe stammt nicht aus des natürlichen Menschen Brust, sie stammt aus dem Herzen des ewigen Gottes. Als der Jammerruf über die gefallene Menschheit durch den Himmel ging, da fand er Antwort in dem kündlich großen Geheimnis: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab. Und als Gott den Sohn der Welt hingab, der sündigen Welt bis in den Tod, da ging ihr die Sonne der Liebe auf. Er ist der Hirte, der die 99 verlässt auf den himmlischen Bergen, und geht dem verlorenen Schafe nach: „Ich muss mich meiner Herde selbst annehmen, ich will das Verirrte suchen, das Verlorene wiederbringen, das Verwundete heilen.“ So ist er in der Wüste dem Schafe nachgegangen, als er auf die sündige Erde kam, so ist er ihm nachgefolgt in die Dornen und hat blutend, sterbend seine Beute gewonnen. So hat der gute Hirte das Verlorene gesucht, und so tut er noch heute. Mit Mutterliebe wacht er über seinen teuer erkauften Kindern, mit der Sorgfalt des armen Weibes sucht er seine Groschen, dass er keinen verliere. Denke zurück, wie er deiner eigenen Seele nachgegangen, bis du seine Stimme hörtest, und wie er sie hütet.

Das ist aber die Liebe, die nun wurzelt und wächst in den Herzen seiner Gefundenen. Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wer es sagen kann: Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Acker ewig hält, der muss auch andern das Rettungsseil zuwerfen, nicht ruhen, bis er auch andre auf dem Felsen geborgen weiß. Diese Liebe glaubt und traut des Herrn Macht, dass er Wunder tun kann an den verlorenen Seelen. Diese Liebe glaubt an das Ebenbild Gottes im gefallenen Menschen, an die Möglichkeit, dass der Groschen, der im Schmutz untergegangen schien, wieder seinen hellen Glanz erhalten könne und sein edles Gepräge zeige. Diese Liebe verzweifelt nicht wie der fromme Pessimismus an den sündigen Menschen, nicht wie der gottlose Pessimismus an der Macht unsers Gottes, diese Liebe glaubt alles, sie hofft alles. Diese Liebe muss lieben, wie Jesus sie geliebt hat, mit zarter Innigkeit - gerade das Verlorene.

Sie zündet das Licht an und lässt es leuchten vor den Leuten. Das ist das Bekenntnis zu Jesu, ihrem Heiland, nicht einem Gedankenchristus, sondern dem lebendigen, der in seinem Wort und Sakrament unter uns wohnt, der uns selbst unsere Sünden abnimmt und unser Herz getrost macht und friedevoll, und macht selig alle, die an ihn glauben. Dieses Licht gilt es leuchten zu lassen vor den Leuten, dass sie sehen, dass eine Liebe ist, eine wahrhaftige, innige, das Leben der Menschen veredelnde Liebe. Dieses Licht gilt es leuchten zu lassen in die Finsternis dieser Welt, in die Winkel dieses Lebens, und in diesem Lichte blinkt hier und da der Schein eines Groschens auf, in Staub und Schmutz. In diesem Licht erkennt die Liebe die Not der Brüder schärfer als zuvor, aber auch die verborgene, unverstandene Sehnsucht nach Hilfe. O, dass wir solche Lichter Gottes wären, Geliebte, auf unsern Kanzeln und vor allem in unserm Berufe, - leuchtende, wärmende Lichter, Lichter die brennen und leuchten, indem sie sich selbst für andre verzehren!

Das Weib zündet ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß. Siehe, so treibt die Liebe hinein in die Arbeit, in das ruhelose und doch friedvolle Werk. Denn Arbeit gibt es, mühevolle, unermüdliche Arbeit für andre, für scheinbar verlorene Menschenkinder, Arbeit, die hofft auch da, wo menschlich nichts zu hoffen ist.

Das ist's, was die Geschichte innerer Mission uns zeigt. Was war es, dass Johannes Falk, den Perückenmacherssohn aus Danzig und Weimarer Legationsrat, zum Vater so vieler Kinder machte, die er rettete von der Landstraße und von den Zäunen? Was war es, das den armen Pfarrer Fliedner, der mit dem Bettelstab für seine am Untergang stehende Gemeinde hinausging, zu der ungeheuren Arbeit seines Lebens führte, mit tausend Händen der Verlorenen sich anzunehmen, der Kranken, der Kinder, der Gefallenen? Was war es, das Wichern, den Hamburger Kandidaten, in Wittenberg seinen Ruf zur Arbeit erschallen ließ? Was ist's, das die mannigfaltigen Liebeswerke in unsern Tagen geschaffen die Krippen für hilflose kleine Kinder, die Kleinkinderschulen zu ihrer Erziehung, die Sonntagsschulen, die Jungfrauen- und Jünglingsvereine, die Marthahäuser, die Asyle für die Gefallenen, die Hospitäler mit lieben, pflegenden Händen, die Herbergen zur Heimat, die Arbeiterkolonien für die Heimatlosen? Es ist die Barmherzigkeit der Liebe Christi, die ein Ziel nur hat: die Seelen bei Christo zu retten. O, es ist eine Freude, zu sehen, was der Herr uns in diesen armen Tagen gegeben hat, aber wir wissen auch, es sind überall nur Anfänge, die Wege sind betreten, aber die Arbeit ist groß, die Not unabsehbar, und „Vorwärts!“ heißt unsere Losung.

Vorwärts, aber nur unter demselben Panier, wie begonnen! Rettungswerke können nur in der persönlichen Liebe geschehen, die aus dem Glauben kommt. Nicht nur gegenseitige Versicherungen, das sind herrliche Dinge, aber sie retten nicht die Seelen, nicht Werke der natürlichen Humanität, die auf demselben Boden ruhen, aber auch nicht kalte, schablonenhafte Arbeit, auch nicht eitle Vielgeschäftigkeit, o, lauter Gefahren, die in das Werk der inneren Mission zu dringen suchen, sondern persönliche Liebe, die alles dienstbar macht, das Geld der Reichen, die Gesetze des Staates, die aber vor allem sich selbst dienstbar macht und ruft mit dem Weibe schmerzerfüllt: Ich habe meinen Groschen verloren und muss suchen, dass ich ihn finde.

Diese Liebe, die sich zu den Verlorenen neigt, die vor dem Schmutz nicht zurückscheut, die das Böse unermüdlich überwindet mit Gutem, die mit Beten vor dem Herrn, mit Arbeit vor den Menschen steht, diese Liebe zu stärken, das ist heute unsere Aufgabe. Darum wendet sich mein Wort an euch alle, dass der Augapfel der Barmherzigkeit bei uns gepflegt werde und die Barmherzigkeit spreche: Ich muss meinen Groschen suchen, bis dass ich ihn finde.

Und an wen wende ich mich? An die Pastoren zunächst. Hirtenliebe muss unser Herz erfüllen, die des Schwächsten am meisten sich annimmt, dem Verlorenen am fleißigsten nachgeht! Aber doch nicht an sie allein. An die ganze Gemeinde, an jede gerettete Seele ergeht der Ruf: Auf zu suchen, das verloren ist! O, Gemeinde des Herrn! du priesterlich Volk! Der Herr ruft: Ihr seid das Salz der Erde! Wenn nun das Salz dumm wird, womit soll man salzen? Ihr seid das Licht der Welt! nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter!

Ihr alle seid berufen, jeder in seinem Berufe, und aus eurer Mitte sollen die Helfer und Helferinnen den Pastoren zur Seite treten, Helfer und Helferinnen, die da sagen! Hier bin ich: sende mich! Diener und Dienerinnen, Diakonen und Diakonissen, die solchen Dienst ganz zum Beruf des Lebens machen, Herz, Hand, Leben darbieten.

In diesen Tagen macht sich Rom, die alte Gegnerin des reinen gnadenreichen Evangeliums, auf zu neuem Kampfe. Wo sie den Kampf besonders führt, ist das Gebiet der Barmherzigkeitsübung. Mit den Scharen ihrer Söhne und Töchter, die vom besonderen Lohne im Himmel gelockt, sich zu ihrer Verfügung stellen, dringen sie ein in die evangelischen Gebiete und suchen durch Wohltun die Kirche des Evangeliums in Schatten zu stellen. Soll die Liebe der evangelischen Gemeinde, die das Lied anstimmt: „Es ist das Heil uns kommen her aus Gnad' und lauter Güte“ geringer sein, als die Liebe der Kirche, deren Glieder ihre Kraft aufbieten, ihr Heil sich zu verdienen? O, evangelisches Volk, wache auf, wache aus zu schauen deinen süßen, lieben Heiland, und ziehe seine Kraft an, höre seinen Ruf: Ich bin hungrig, ich bin durstig, ich bin krank und gefangen - wer wird mir dienen von denen, welchen ich gedient habe in treuer Hirtenliebe bis zum Tode? O, die Barmherzigkeit mit den Armen treibe, und der Dank der Liebe gegen ihn, den Heiland, treibe, dass wir alle, hoch und niedrig, sagen: Da bin ich! Da ist meine Tochter, da ist mein Sohn! Da ist mein Geld und Gut! Herr, gebrauche mich!

Auf, du Weib des Herrn, zu suchen das Verlorene, bis dass du findest, bis dass du mit Freuden rufen kannst:

3. Gefunden!

Das ist das Wort des Triumphes. Denn die Liebe findet. „Ich habe mein Schaf gefunden,“ „Ich habe meinen Groschen gefunden,“

O, seliger Ruf des Finders! O, selige Freude geretteter Seelen! wenn im Gefängnis um des Verbrechers Herz die Rinde bricht und Bekenntnis folgt und selige Absolution; wenn im Rettungshause das Herz des Kindes sich ausschließt, wenn im Asyl die schamlose Dirne in Scham sich beugt vor der Liebe, und die schmutzige Seele im Blute des Lammes wäscht; wenn der Verkommene von der Straße durch die Liebe in der Herberge den Zug empfindet: Heim! Heim! und denket der ewigen Heimat. Selige Freude geretteter Seelen, wenn die Sünderin zu Jesu Füßen liegt und ihre Tränen der Buße werden zu Tränen des Dankes, wie Zachäus ruft: Die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen! Kennst du solche Freude nicht selbst, lieber Christ, aus deinem eigenen Leben? Sei stille und bete an!

Und selige Freude des Hirten, der sein Schaf gefunden, des Weibes, das seinen Groschen gefunden! Wie hat der Herr diese Freude gepriesen: Freut euch mit mir, Freunde und Nachbarn! Bereitet ein Fest! ruft der glückliche Vater. Und die wir uns mit unserm Herrn freuen, seine Diener und Knechte, o, was ist's, was wir erfahren? Doch nur dieses, dass es ein Fund aus Gnade ist, nicht Lohn der Arbeit, sondern nur ein Fund, ein Geschenk Gottes. Aber es ist der seligste Fund, wenn es uns gegeben wird, auch nur eine Seele zu retten zum Himmelreich, und die Frucht der Gebete und die Liebesarbeit zu schauen mit eigenen Augen.

Das sind, Geliebte, die Stunden, wo die Liebe gestärkt, wo neue Kraft zum Siege empfangen wird. Man singt vom Sieg in den Hütten der Gerechten, und man freut sich, wie man sich freut in der Ernte. Aber Ernte ist neue Aussaat, neue, herrliche Saat.

Aber der Herr hat noch auf andre Freude gewiesen: es ist eine Gemeinde, deren wir gedenken beim heiligen Abendmahl, wo wir mit ihr das „Heilig, heilig“ anstimmen, die Gemeinde der Seligen, die droben das Lamm loben mit seinen heiligen Engeln. Da wird Freude sein mit den Engeln über einen Sünder, der Buße tut. O, lobet, ihr Engel, und stimmet eure Harfen, stimmt an den Lobgesang im hohen Chor, arme Sünder kommen, selbst gerettet durch Jesu Erbarmen und nun mit der Frucht ihrer Liebe: Siehe da, ich und die Kinder, die du mir gegeben hast! O, Geliebte, wenn jeder von uns also einst vor den Herrn kommen dürfte! Siehe mich und die Meinen, und die Frucht deiner Liebe, die ich finden durfte. Dahin schauen wir betend, opfernd. Da beten wir an und sprechen: Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden, sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben! Herr, Erbarmer, du guter Hirte, das schenke mir einst an deinem großen Tage: gerettet mit Geretteten vor dein Angesicht zu treten! Amen.

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