Vinet, Alexandre - Die schwachen Glieder der Kirche.
(Für den Tag der Pfingsten.)
1. Kor. XII,20.21.22.
„Nun aber sind der Glieder viele, aber der Leib ist Einer. Es kann das Auge nicht sagen zu der Hand: Ich darf dein nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich darf euer nicht. Sondern vielmehr die Glieder, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten.“
„Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerem Gepränge.“ Mit diesen und mehreren andern ähnlichen Worten wandte Jesus Christus die Blicke der Juden von ihrer gewohnten Aussicht der Herrlichkeit, des Glanzes und der Macht ab, um sie wieder auf die des Evangeliums hinzuleiten, welches einen ganz anderen Anblick gewährt. Aber der Freund der Einfältigen und der Sanftmütigen, der Gott der Armen im Geist, der Fürst der Kleinen und der Schwachen konnte sich einer Menge von fleischlichen, an falscher Größe hängenden, Israeliten nicht verständlich machen. Das Nämliche geschieht in unseren Tagen; seine Demut verbirgt ihn unseren stolzen Herzen, und wir würden gerne die Wahl in seinem Evangelium treffen, dass wir ihm die Niedrigkeit ließen, welche er erwählt hat, und für uns das Gepränge nähmen, welches er verschmäht hat. Und hier spreche ich nicht bloß von dem äußern Gepränge, dessen Nichtigkeit leicht zu erkennen ist, ich spreche auch von dem Glanze gewisser geistiger Gaben, welche einen Christen, abgesehen von jenen äußern Dingen, auszeichnen, und welche und unsers Ehrgeizes würdig scheinen können. Aber es gibt keinen Ehrgeiz, mit welchem schönen Namen er sich auch schmücke, den das Evangelium nicht zurückweist, und wir finden den Beweis davon in dem Ausspruche, in welchem St. Paulus die verschiedenen Gaben, welche der Geist Gottes eben über die Kirche verbreitet hatte, unter einander vergleicht: „Nun aber sind der Glieder viele, aber der Leib ist Einer. Es kann das Auge nicht sagen zu der Hand: Ich darf dein nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich darf euer nicht, sondern vielmehr die Glieder, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten.“
Meine Brüder, selbst in den Augen des Fleisches war der Tag der Pfingsten ein recht großer Tag. Dieses Brausen des Sturmes, diese Feuerzungen, diese wunderbaren, den Aposteln plötzlich erteilten, Gaben, diese außerordentliche Kraft, welche aus ihnen neue Menschen macht; alles dies ist gewiss bewundernswürdig. Doch das Fest des heiligen Geistes schließt größere Dinge in sich; und das Evangelium, welches uns heute die Ausgießung der glänzenden Gaben erzählt, berechtigt uns durch die Stimme von St. Paulus, die Überlegenheit einiger anderen, dem Anscheine nach dunkleren und untergeordneteren, Gaben zu verkünden, deren Urheber gleichfalls der heilige Geist ist.
Dies wollen wir heute tun, indem wir diese letzten Worte des Apostels erklären: Die Glieder, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten.
Das griechische Wort, welches in unseren Bibelübersetzungen durch schwach wiedergegeben worden ist, bezeichnet an dieser Stelle nicht die Schwäche im eigentlichen Sinne, sondern die Unterordnung. Die schwächsten Glieder sind die am wenigsten bemerkbaren, am wenigsten hervorstechenden. Übrigens, wenn man sich desselben Wortes bedient hat, um zwei verschiedene Begriffe zu bezeichnen, so geschah es, weil diese beiden Begriffe, wenigstens in der gewöhnlichen Meinung, zu einander in Beziehung stehen. Es ist so gewöhnlich, dass, wenn man Kraft hat, man dieselbe zeigt und selbst damit prunkt, dass ein dunkles, verborgenes, bescheidenes Leben fast immer Schüchternheit und Schwäche voraussetzen lässt. Wenn diese Meinung in der Welt oft begründet ist, in der Kirche ist sie es nicht; und von der Kirche ist in unserm Texte die Rede; dieser Körper ist sie; diese Glieder sind die Glieder der Kirche; diese schwächeren Glieder sind alle die, welche vom heiligen Geist weniger glänzende und, scheinbar, weniger erhabene Gaben empfangen haben. Diese schwachen Glieder sind es, welche Paulus uns als die notwendigsten hinstellt. Aber da der Apostel in dem ganzen Kapitel von den Gaben des heiligen Geistes gesprochen hat, da er von diesem Gesichtspunkt aus die Glieder der Kirche in starke und schwache teilt, so glauben wir Euch den Gedanken des Apostels in dieser Form geben zu dürfen: die schwächsten Gaben des heiligen Geistes sind auch die notwendigsten.
Die Gaben des ersten Ranges, ich meine die glänzenden Gaben, sind zweierlei Art. Die einen sind übernatürlich, wie die, fremde Sprachen zu sprechen, die, Kranke zu heilen, die, die Zukunft zu verkünden; die andern sind die Gaben, welche wir natürliche nennen, weil wir darin nicht eine Unterbrechung der bekannten Gesetze der Natur sehen; diese sind: in Bezug auf das Herz, eine triumphierende Freude, ein, so zu sagen, vor unseren Augen umgewandelter Glaube, eine Art Vorgenuss der Privilegien der himmlischen Stadt; in Bezug auf den Geist, die Gabe zu lehren und zu überzeugen, die hinreißende Beredsamkeit, das tiefe Verständnis der Schrift, und im Allgemeinen alle Talente, welche zum Dienste der Religion verwendet werden können. Das sind die Gaben der ersten Art; aber, in unseren Tagen, können wir mit Gewissheit von dieser Aufzählung nur noch die natürlichen Talente des Geistes und die ausgezeichneten Gefühle beibehalten, welche die Gnade in einer christlichen Seele entstellen lässt.
Nach diesen Gaben folgen schwächere Gaben, um mit dem Apostel zu reden. Es ist die Demut, durch welche der Gläubige sich alle Tage vor Gott vernichtet, und durch welche er die Andern für besser als sich selbst hält; es ist die Treue, welche in den kleinen Dingen eben so wenig ungerecht sein will, wie in den großen; es ist die Reinheit der Sitten und der Gedanken, welche den Tempel, in welchem der heilige Geist zu wohnen würdigt, unversehrt bewahrt; es ist die Wahrheit, welche, für das größte Interesse, ihre Lippen nicht der kleinsten Lüge öffnen würde; es ist die Zufriedenheit des Geistes, welche alle Verluste ohne Murren erträgt, weil der wahre Schatz ihr nicht geraubt werden kann; es ist die Tätigkeit, die sich immer daran erinnert, dass das Reich Gottes nicht in Worten, sondern in Werken besteht; es ist die Menschenliebe, nicht eine erkünstelte, erborgte, auswendig gelernte Menschenliebe, sondern eine wahre Liebe, eine Zärtlichkeit der Seele, die abwechselnd mitempfindet, tröstet, erleichtert, betet; die weder zu lästern, noch zu verachten weiß; welche Alles duldet und Alles entschuldigt; welche sich nicht an der Ungerechtigkeit, sondern welche sich an der Wahrheit erfreut.
Meine Brüder, würdet Ihr den nicht für überaus glücklich halten, der von der Güte des Herrn alle diese Gaben zusammen erhalten hätte? Nun wohlan! man kann sie alle besitzen und seinen Glanz in der Welt verbreiten. Eine Menge von Personen vereinigen alle diese wahrhaft göttlichen Gaben in sich, ohne dass man es bemerkt, ohne dass man es ahnt. Und in welchen Höhlen, werdet Ihr mir sagen, in welchen Wüsten sind diese vortrefflichen Personen verborgen? In welchen Wüsten? In Euren Städten, in Euren Dörfern, mitten unter Euch, mit denen sie Geschäfts- und Freundschaftsbeziehungen unterhalten; in der Welt, wo sie ein Gewerbe treiben, ein Amt bekleiden, Verpflichtungen haben. Wenn Ihr sie nicht zu unterscheiden misst, haltet Euch deshalb an Euch selbst: Ihr habt das Auge des Fleisches, welches die Körper steht; Ihr habt das Auge der Eigenliebe, welches die Mängel sieht; Ihr habt nicht das geistige Auge, welches freundlich in jeder Seele, nicht die Laster und die Schwachheiten, sondern die ruhmwürdigen und teuren Spuren der Anwesenheit des göttlichen Geistes sucht. Und wie übrigens solltet Ihr diese Personen bemerken? Sie haben weder die Eitelkeit, welche darauf ausgeht, sich vorzudrängen, noch die Talente, welche den, der sie besitzt, er mag wollen oder nicht, auszeichnen. Wollt Ihr; dass ich es Euch sage? Selbst Personen, welche in der geistigen Ordnung vorgeschritten sind, täuschen sich zuweilen darin. Unwillkürlich suchen sie Glanz und Kraft, und nichts offenbart ihnen dort Kraft noch Glanz. Diese gläubige Seele, welche ich Euch beschrieben habe, weiß vielleicht nicht über ihre Gedanken Rechenschaft zu geben; sie hat kaum das Bewusstsein ihres Zustandes; sie hat das Ansehen noch zu suchen, lange nachdem sie gefunden; es scheint, als sei sie hinter denen, welchen sie vor ist. Ihr Glaube ist nicht immer ein gehörig zusammenhängendes System; es sind Lücken, scheinbare Inkonsequenzen darin; sicher in dem Wesen, irrt sie zuweilen in der Form. Selbst jene Freude, welche unzertrennlich vom Christentum scheint, tritt weder in ihrer Miene, noch in ihren Gesprächen entschieden hervor; diese Begeisterung, welche auf der Stirn einiger erglänzt, ist ihrem Charakter fremd, schüchtert vielleicht ihre furchtsame Demut ein. Mit einem Wort, ihr Leben ist ein in Gott verborgenes Leben, welches Gott allein kennt und welches Gott allein würdigt.
Nun, meine Brüder, diese dunklen Gaben sind es, welche Paulus in meinem Texte hervorhebt, und welche er für die notwendigsten erklärt. Und dies ist wahr, erstens, in Bezug auf das Individuum, welche sie besitzt. Worum handelt es sich für dasselbe? Welches ist sein höchstes Interesse? Es ist die Wiederherstellung des Bildes Gottes in ihm; es ist die Wiedergeburt: denn die Wiedergeburt ist die Seligkeit. Wohlan, diese Wiedergeburt ist ganz in den dunklen oder schwachen Gaben, von denen wir gesprochen haben. Die andern Gaben deren Gott eine Seele teilhaftig werden lassen kann, sind, genau genommen, göttliche Freigebigkeiten, in denen Gott uns seinen Reichtum zu erkennen geben will; es sind. Herrlichkeiten, welche er in großen Zwischenräumen, je nachdem er es für nötig erachtet, ausstreut; Privilegien welche dazu dienen, schon auf der Erde anzudeuten, zu welchem Ruhm eine wiedergeborene Seele im Himmel gelangen kann. Aber sie ist nicht, nur unter diesen Bedingungen, wiedergeboren und selig geworden; es ist nicht einmal ein solcher Unterschied, wie man es glauben könnte, zwischen den glänzenden und den dunklen Gaben. Wann die Sonne ihre wohltuenden Strahlen über die Erde verbreitet, dringt sie zugleich in die Paläste und in die Hütten; aber in den Palästen werden ihre Feuer von den Kristallen und dem Reichtum der Vergoldungen zurückgestrahlt; in den Hütten fällt sie auf matte Flächen, welche keinen Strahl wiedergeben; es schadet nichts: in der Hütte, wie in dem Palast hat sie die Wärme und das Leben verbreitet; und was in die bescheidene Kammer des Armen, wie in das königliche Haus eingedrungen ist, bleibt immer der Stern des Tages, der König des Himmels, die Seele der Natur. Eben so bleibt es immer der heilige Geist, der Geist Gottes, welcher in dem dunklen Christen wohnt; wenn er sich dort nicht mit eben so viel Glanz entfaltet, so wohnt er darin nicht weniger ganz und mit allen seinen wesentlichen Kennzeichen. Was eine christliche Seele charakterisiert, ist nicht gerade die Begeisterung und das Feuer, noch weniger das Talent und die Beredsamkeit; es ist der anspruchslose Glaube, der Glaube, welcher zu warten weiß, es ist die Demut, es ist vor Allem die Liebe. Mit diesen Gaben ist man vom Tode zum Leben eingegangen. Was bedarf es mehr?
Mehr, meine Brüder? Ach! Gott hat gewiss seine Weisheit gezeigt, indem er selten mehr bewilligt. An jede Erhebung ist eine Gefahr geknüpft, und man darf davon die geistliche Erhebung nicht ausnehmen. Die innern Gaben haben dies Eigentümliche, dass, unserm Wesen einverleibt, sie einen Teil unserer selbst auszumachen scheinen. Wir vergessen zu leicht, dass wir sie nur aus Gnaden besitzen, und dass es unverständig ist, sich dessen zu rühmen, was man empfangen hat. Der Stolz, welcher dumpf in der Tiefe unserer Seele gärt, macht daraus eine Gelegenheit, sie ganz einzunehmen; und oft hat man diese heiße Inbrunst, diese außerordentlichen Talente einem geistlichen Stolz Eingang gestatten sehen, welcher, wie jeder Stolz, dem Untergang vorangeht. Diese Gefahr ist in einem solchen Grad wirklich vorhanden, und in der Tat so groß, dass der Herr oft Sorge trägt, denen irgend eine innere Demütigung zu bereiten, welche sich, ohne diese, von ihren Vorzügen zu hoch erheben lassen würden. St. Paulus, ohne sich näher zu erklären, spricht uns von einem Pfahl in seinem Fleisch, welcher ohne Zweifel ihn an sein früheres Elend erinnerte und ihn vor dem Stolzwerden bewahrte. Und wie vielen ausgezeichneten Christen hat Gott nicht irgend eine Gnade vorenthalten, deren Besitz ihren Ruhm zu vollkommen und ihre Stellung zu gefährlich gemacht haben würde? Bei wie vielen Christen hat nicht die Notwendigkeit, gegen einen hartnäckigen Hang anzukämpfen, oder das Vorhandensein irgend eines widerspenstigen Zweifels diesem Dünkel als Gegengewicht gedient, welcher aus dem Gefühl der Kraft entspringt! Hierdurch können wir beurteilen, wie weise diese Vorschrift des großen Apostels ist.
Diese dunklen und schwachen Gaben sind auch die notwendigsten für die Kirche. Alle Gnadenbezeigungen Gottes, glänzende oder dunkle, haben der Kirche gedient; aber Gott hat, indem er die schwachen Christen vermehrte und die starken Christen nur selten erscheinen ließ, dadurch hinreichend bewiesen, welchen Wert er den ersteren beilegt. Wenn er in der ersten Kirche den Gläubigen außerordentliche Gaben bewilligt hat, so ist dies nur mit Maß und auf eine gewisse Zeit geschehen; im Allgemeinen scheint er die Kraft haben demütigen zu wollen, indem er die Triumphe der Schwachheit vorbehielt: „Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, dass er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da nichts ist, dass er zunichte mache, was etwas ist.“ Er hat den Reichtum und die Armut, das Wissen und die Unwissenheit, die Philosophie und die Einfalt einander gegenüber gestellt, und die Armut, die Einfalt, die Unwissenheit haben gesiegt. Von Zeit zu Zeit hat er das Genie und die Macht zu sich berufen, und ihnen erlaubt, an seinem Werk mitzuarbeiten; allein wenn er es gewollt, hat die Schleuder des jungen Sohnes Isai's genügt, Goliath niederzuwerfen, und die Kleinheit der Mittel hat die Macht dessen, der sie gebraucht, nur noch mehr hervortreten lassen. Zu jeder Zeit hat die Kirche der Kirche, die Wahrheit der Wahrheit genügt. Die Beredsamkeit und der Enthusiasmus haben nicht so viel für diese geheiligte Sache getan, als die bescheidenen Tugenden, die gleichmäßige Tätigkeit und die geduldigen Gebete Tausender von Gläubigen, deren Namen unbekannt sind.
Der Anblick der großen Bewegungen, welche im Schoß der christlichen Kirche vorgegangen sind, hat einige Personen zu einem abweichenden Urteil führen können. Gewiss waren ein Paulus, ein Augustin, ein Luther keine schwachen Glieder der Kirche. Solche Menschen, oder vielmehr solche Mächte, sind von Gott im Laufe der Zeiten bestimmt worden, um den Boden der Kirche zu bearbeiten, um dem christlichen Leben ein günstigeres und breiteres Feld zu öffnen; und Gott wolle nicht, dass wir die Wichtigkeit dieser großen Erscheinungen verkennen! Allein wenn das Reich Gottes auf der Erde nichts anderes ist, als sein Reich in jeder der Seelen, welche die Kirche bilden; wenn das Gedeihen der Kirche in der Zahl und in der Echtheit der individuellen Bekehrungen sein Maß findet; wenn Gott mehr verherrlicht wird in den innersten Gefühlen der durch die Gnade unterworfenen Seelen, als durch die öffentliche und feierliche Verkündigung der Lehrsätze der offenbarten Religion: so lasst uns gemeinschaftlich eine Wahrheit zugestehen; es ist die: dass die schwachen Glieder verhältnismäßig viel mehr zum Reich Gottes beitragen, als die starken Glieder, von denen wir gesprochen haben. Was diese letzteren anbetrifft, so denkt man gewöhnlich, dass uns die Bewunderung der Nachahmung überhebt; vereinzelt in weiten Zwischenräumen dastehend, sind sie nicht in Berührung mit uns allen gekommen; ihre Schriften, ihr Andenken können, in dieser Beziehung, ihr Leben nur unvollkommen ersetzen; durch die schwachen Seiten, durch die gewöhnlichen und vertraulicheren Einzelheiten hätten sie auf uns einen innigeren Eindruck machen können; das Leben würde auf das Leben gewirkt haben; allein, getrennt von uns durch die Umstände, durch ihre Größe selbst, durch ihren Glanz, können sie auf uns nur einen indirekten und allgemeinen Einfluss ausüben, der ohne Zweifel günstig und heilsam ist, aber der so weit geht, als er gehen kann, sobald er uns geneigt macht, die schwachen Glieder der Hede zu beobachten, zu prüfen, von welcher man sein muss, um Gott anzugehören. Diese letzteren Muster erscheinen uns erreichbarer, obgleich ihre Gaben in der Tat weder weniger kostbar noch weniger göttlich als die der ersteren Klasse von Christen sind; wir fühlen, dass nichts uns diese Gaben entbehrlich machen, nichts sie ergänzen kann, dass man weder gelehrt, noch beredt, noch durch die religiöse Ektase bis zum höchsten Himmel entzückt zu sein braucht, aber dass man heilig sein muss, dass dies der natürliche Beruf jeder Seele und die Absicht Gottes rücksichtlich unserer Aller ist. Diese Heiligkeit, welche unserer Größe angemessen und auf eine Sphäre der Tätigkeit angewendet ist, welche die unsrige nicht übersteigt, zieht uns durch ihre Einfachheit eben so an, als sie uns durch ihre Schönheit mit Bewunderung erfüllt; geheimnisvoll in ihrem Ursprunge, erstaunenswert durch ihre Natur, wunderbar endlich, wenn man die Veränderungen betrachtet, welche sie mit sich führt, ist sie deshalb nicht weniger menschlich, zugänglich, gefügig; es ist die Prosa des himmlischen Königreichs, welche Jeder zu sprechen gehalten ist.
Ja, solche Leben, die in Allem das Gepräge des Christentums an sich tragen, von ein und demselben Inhalt, von einer strengen Konsequenz, von einem gleichmäßigen Ernst, von einer sanften Heiterkeit, von einer unermüdlichen und ruhigen Tätigkeit, von einem Eifer, der viel tut und wenig sagt, solche Leben, deren christlicher Charakter vielleicht um so unbestreitbarer erscheint, als die Begeisterung darin einen weniger großen Platz wie die Menschenliebe einnimmt, das ist es, was die Herzen gewinnt, das ist die heilsame Kontagion1), welche fortwährend in der Kirche wirkt, welche, in den unglücklichsten Zeiten, dem Herrn so viele Seelen erhalten hat, und, in den gesegneten Epochen, sie so reichlich vermehrt.
Diese Beobachtungen beweisen hinreichend, dass die aufrichtige und demütige Frömmigkeit die stärkste Kraft ist, und dass die schwächsten Glieder der Kirche ihr für ihre Befestigung und für ihre Eroberungen die notwendigsten sind. Es ist nicht weniger schwer, die Gewissheit zu erlangen, dass solche Glieder auch für die bürgerliche Gesellschaft die notwendigsten sind. Dies ist ein letzter Zug, den wir hinzuzufügen haben; denn man soll nicht aus dem Auge verlieren, dass der wahre Christ Bürger ist, und dass Alles, was er von oben empfangen hat, ihm gegeben worden ist, damit er es in der Gesellschaft ausübe.
Wir haben zwei Arten von glänzender Überlegenheit unterschieden: die eine, welche sich auf die Seele, die andere, welche sich auf den Geist bezieht. Was die erstere anbetrifft, so hat sie zuweilen Großes gewirkt, aber mehr im Innern der Kirche und in den geistigen Beziehungen, als im gewöhnlichen Leben; und was die zweite betrifft, welche in den Talenten des Geistes besteht, so ist sie nur dann wahrhaft wohltuend, wenn ein Geist der Frömmigkeit sie belebt und heiligt. Das Reich der Frömmigkeit beschränkt sich nicht auf den Kreis der Betrachtungen, des innern Lebens und des religiösen Kultus: Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze, die Gottseligkeit lässt sich auf Alles anwenden. Aber wir gehen noch weiter und sagen: die Frömmigkeit ist das einzige Lebensprinzip der Staaten und das einzige Heilmittel für die kranke Gesellschaft. Mit dem ganzen Gepränge menschlicher Tugenden und glänzender Talente, seht, welchen Anblick sie gewährt! Erhebt Euch ein wenig über den beschränkten Kreis Eurer häuslichen Beziehungen, obgleich Ihr schon in diesen auf eine oder die andere Art den Beweis von dem finden könntet, was ich behaupte; betrachtet diesen weiten Horizont der Gesellschaft; leiht Euer Ohr dem schrecklichen Tumult aller entfesselten Leidenschaften; versenkt Eure Blicke in das Gewirre und in die äußersten Schlupfwinkel dieses schmutzigen Labyrinthes; mit einem Worte, betrachtet, für einige Augenblicke, die Welt. Sicher, Ihr habt nicht das prüfende Auge Dessen, der die Herzen und die Nieren prüfet; Ihr könnt nicht diesen empörenden Grund von Sündhaftigkeit aufrühren, welcher verborgen in den Herzen ruht; wenn er sich Euch mit einem Male offen darlegen könnte …. meine Brüder, man könnte die Herrlichkeit Gottes nicht sehen, ohne zu sterben; könnte man, ohne zu sterben, die menschliche Sündhaftigkeit anschauen? Allein Ihr habt die Oberfläche gesehen; das genügt. Beurteilt jetzt, ob die schönsten Talente fähig sein würden, die Harmonie in dieses Chaos und den Frieden in diesen Tumult zu bringen; beurteilt, ob der Anblick einer kleinen Anzahl von christlicher Freude und feurigem Eifer erfüllter, aber eben dadurch für die Masse unverständlicher Menschen, auf diese Masse einen merklichen Einfluss ausüben könnte. O! der wahre Sauerteig in dieser Masse ist die demütige, ruhige, dunkle, tätige Tugend jener Tausenden von Gläubigen, welche, verbreitet in allen Winkeln der Gesellschaft, durch ihr Beispiel und ihre Gebete gegen den allgemeinen Verfall ankämpfen, und sanft ihr Licht in einer Art vor den Menschen leuchten lassen, dass dadurch wenigstens einige Seelen von diesem Verfall zurückgeführt werden. Sie sind es, welche der Herr wie einen Samen in die Welt gestreuet hat, von welchem ein Korn zwanzig-, ein anderes dreißig- und ein anderes hundertfache Frucht tragen wird. Sie sind die Erstlinge der großen Ernte, welche in dem Felde der Welt reift, und die, wir haben die Zusicherung davon, einst mit ihren Ähren die ganze Fläche der Gesellschaft bedecken wird.
Dieser Tag ist noch nicht gekommen, und die Umstände, welche ihn uns zuführen sollen, entwickeln sich mit Langsamkeit. Alles in der Welt hat einen schnellern Gang, als die Fortschritte dieses Reichs der Liebe und des Friedens. Welche Vervollkommnungen, bevor der Mensch es der Mühe wert hält, an die seiner Seele zu denken! Ist es nicht sonderbar, ihn darauf denken zu sehen, Ales sicher zu stellen, ausgenommen seine Seligkeit? Alles wiederherzustellen, ausgenommen sein Gewissen? auf Alles zu spekulieren, ausgenommen auf die Ewigkeit? Bewundernswertes Jahrhundert, meine Brüder, wo nichts fehlt, wenn nicht das Eine, was Not tut! Die politische Gesellschaft erhebt sich auf neuen Grundlagen, die Rechte des Menschen sind garantiert, und ich freue mich dessen; aber inmitten dieser bewundernswürdigen Kombinationen der Politik suche ich den heiligen Geist, diesen Geist der Billigkeit, der Versöhnung, der Duldung; wo ist er? Die Industrie macht gewaltige Fortschritte, die Kunst verdoppelt die Kräfte der Natur, der Reichtum der Welt wächst, der Wohlstand verbreitet sich, und ich freue mich dessen; aber inmitten dieser Entwicklung der Künste und des Überflusses suche ich den heiligen Geist, diesen Geist der Mäßigung, der Uneigennützigkeit und der Reinheit; wo ist er? Die Wissenschaften, die Literatur, die Volksbildung dehnen ihr Reich immer weiter aus, die Kultur dringt an Orte und in Stellungen, aus denen sie sonst verbannt war, die Intelligenz wird immer mehr geehrt, und gewiss, ich freue mich dessen; aber in diesen Triumphen des menschlichen Gedankens suche ich den heiligen Geist, diesen Geist der Demut, der Frömmigkeit und der Menschenliebe; wo ist er? Ach! meine Brüder, es fehlt noch viel, dass dieser göttliche Tröster Alles getröstet habe, dass diese Kraft Alles gezähmt, dieses Leben Alles beseelt habe! Ringet im Gebet, dass dieser schöne Tag erscheine; kämpfet für Jesus Christus, der für Euch gekämpft hat; bittet mit Inbrunst, dass sein Reich komme; bittet, dass in seinem Namen sich jedes Knie beuge und jede Zunge bekenne, dass er der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters; bittet, nicht nur um die außerordentlichen Gaben, welche, an diesem Tage, sich über die Apostel verbreiteten, sondern bittet, dass der Geist Gottes unter Euch die Zahl dieser schwachen Glieder mehre, d. h. dieser demütigen und treuen Christen, welche die Kraft und die Hoffnung der Kirche sind. Bitten wir Alle den Vater des Lichts darum, und flehen wir ihn an, der Kirche schon an diesem Tage einige Seelen zuzuführen, um darin selig zu werden.