Vinet, Alexandre - Die Religionen der Menschen und die Religion Gottes.
1. Korinther II, 9.
Das in keines Menschen Herz gekommen ist.
Die Menschheit hat sich von Gott getrennt. Die Stürme der Leidenschaften haben das geheimnisvolle Ankertau zerrissen, welches das Schiff im Hafen zurückhielt; auf seiner Grundfläche erschüttert und sich gegen unbekannte Meere gestoßen fühlend, sucht es sich am Ufer festzuhalten; es versucht zerrissene Bande wieder anzuknüpfen; es bemüht sich Verbindungen wieder herzustellen, außerhalb welcher es weder Friede noch Freiheit für dasselbe gibt. Inmitten ihrer größten Verirrungen verliert die Menschheit niemals die Idee ihres Ursprungs und ihrer Bestimmung; eine dunkle Erinnerung an ihre alte Harmonie verfolgt und beunruhigt sie; und ohne ihren Leidenschaften zu entsagen, ohne aufzuhören die Sünde zu lieben, möchte sie ihre Existenz voller Dunkelheit und voller Elend an etwas Leuchtendes und Friedliches, ihr flüchtiges Leben an etwas Unveränderliches und Ewiges anschließen. Mit einem Wort, Gott hat nicht aufgehört, das Bedürfnis der Menschen zu sein. Ach! aber ihre Huldigungen verirren sich, ihr Gottesdienst wird unwürdig, ihre Frömmigkeit selbst ist gottlos; die Religionen, welche die Erde bedecken, sind eine Beleidigung für den unbekannten Gott, welcher der Gegenstand derselben ist. Doch im Schoße dieser monströsen Verirrungen tut sich ein erhabener Instinkt kund, und jede dieser falschen Gottesverehrungen ist ein Schrei des Schmerzes, der von ihrem Mittelpunkt losgerissenen und von ihrem Objekt getrennten Seele. Es ist eine entblößte Existenz, welche sich zu bekleiden sucht, und welche sich mit den ersten Lumpen bedeckt, denen sie begegnet; es ist ein nach einem Trunke schmachtendes Leben, welches seinen brennenden Durst atemlos in trübem und faulem Wasser stillt; es ist ein Verbannter, welcher, indem er den Weg in sein Vaterland sucht, tief in eine schreckliche Wildnis gerät.
Von dem tierischen Wilden an, welcher den Staub an den Füßen eines scheußlichen Götzenbildes küsst, bis zu dem Magier des Orients, welcher in der Sonne die unsterbliche Seele der Natur und das Prinzip alles Lebens anbetet; von den Urvölkern an, welche Gott die Erstlinge ihrer Ernten darbieten, bis zu den unglücklichen Nationen, welche ihm durch die größten Schamlosigkeiten ihre Huldigung darzubringen glauben, lässt sich überall ein religiöser Instinkt erkennen. Der Mensch kann weder seinen Sünden noch Gott entsagen; seine Verderbnis kettet ihn an diese Welt, ein geheimnisvoller Instinkt treibt ihn gegen eine unsichtbare Welt. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Kräften trifft er seine Wahl; er zwingt zwei unvereinbare Elemente sich zu versöhnen; er mischt seine Moral in seinen Gottesdienst; er macht sich Götter gleich ihm, um ihnen einen Kultus darbringen zu können, welcher seinen schlechten Neigungen analog ist; er erhebt seine Laster selbst zu Gottheiten, seine Religion wird der treue Spiegel seiner natürlichen Verderbnis; mit einem Wort, er erniedrigt die Idee der Gottheit, aber er kann sie nicht entbehren; und er will lieber schändliche Gottheiten haben, als gar nichts anbeten. Aber was bringen ihm alle diese verschiedenen Gottesverehrungen? Nichts, meine Brüder, als eine Qual mehr, welche zu allen seinen andern Qualen hin zukommt. Eine peinliche, demütigende Unterwürfigkeit, oft die Verpflichtung, den teuersten Gefühlen der Natur Gewalt anzutun, keine feste Hoffnung, kein innerer Friede, keine moralische Vervollkommnung, das ist es, was ihm dieser geheimnisvolle Instinkt, diese Art von störendem Bedürfnis, das er weder unterdrücken, noch befriedigen kann, einbringt; so dass, wer die Religion in den von ihr angenommenen irdischen Formen sähe, mit einem Schein von Recht sagen könnte, dass sie eins der größten Übel sei, welche die Natur der Menschheit auferlegt hat.
Diese fabelhaften Glaubensvorstellungen verschwinden zwar vor dem Christentum. Überall, wo das Kreuz gepflanzt ist, gehen die menschlichen Religionen zu Grunde, denn die geringste Wirkung dieser erhabenen Religion besteht darin, dass sie einen Widerwillen gegen alle andern einflößt. Die Reihe der Erfindungen im Gebiete positiver Religionen ist unwiderruflich geschlossen. Aber im Schatten des Christentums, und im Schoße der Christenheit selbst, vegetieren gewisse Religionen ohne Geschichte, ohne Form und ohne Namen, welche bei vielen Personen die Stelle des Christentums vertreten. Diese Religionen, welche ihm alle mehr verdanken als sie denken, sind nichts anderes, als ein Versuch der verschiedenen Seelenkräfte, sich durch sich selbst mit der Gottheit in Verbindung zu setzen. Und es ist zu bemerken, dass diese verschiedenen Religionen ganz besonders die jener gebildeten Geister sind, welche zwischen dem Christentum, das ihnen zu einfach und zu wenig rationell erscheint, und dem Atheismus, der sie erschreckt, ein neutrales Terrain finden möchten. Nun denn, wir wollen untersuchen, ob diese Religionen mehr im Stande sind, als das grobe Heidentum, die verschiedenen Bedürfnisse der menschlichen Seele zu befriedigen. Welches sind, im Gebiete der Religion, die Bedürfnisse des Menschen? Er weiß nichts von den göttlichen Dingen, er bedarf einer Religion, die ihn erleuchte. Er ist traurig über die Mängel dieses Lebens und über die Ungewissheit seines zukünftigen Schicksals, er bedarf einer Religion, die ihn tröste. Endlich, er ist Sünder, er bedarf einer Religion, die ihn erneute. Untersuchen wir, ob diesen verschiedenen Bedürfnissen in den vier Religionen, in der Religion der Einbildungskraft, in der des Gedankens, in der des Gefühls und in der des Gewissens genügt wird.
Einigen stellt sich die Gottheit in dem, was sie Geeignetes hat, die Phantasie zu fesseln, dar. Es ist nicht das eigentliche Wesen Gottes, noch sein moralischer Charakter, noch sein Wille, was sie vorzugsweise beschäftigt, sondern der Theil seines Wesens, durch welchen er sich, in gewisser Art, ihren Blicken fühlbar gemacht hat. Es ist die Welt, das heißt die Zeit, der Raum, die Formen, worin sich seine Ewigkeit, seine Größe und seine Macht abspiegeln. Wenn die Schauspiele der Natur groß und erhaben in sich selbst sind, wie sehr erhebt sie nicht der Gedanke an dieses Wort, welches diese ganze Herrlichkeit aus dem Nichts zog, an diese Weisheit, welche all diese großen Bewegungen regelt und welche eben so viel Wunder in den Wurm, der unter unsern Füßen stirbt, hineinlegte, als in die Bildung und Leitung der Sonnen! Welcher Reiz und welche Schönheit fügt nicht dem Glanze der gestirnten Himmel, den wilden Harmonien der aufgeregten Meere, dem lachenden Erwachen der Felder und Wälder unter den Feuern des Morgenroths der Gedanke an eine Universal-Seele hinzu, welche in allen Wesen wohnt, und welche ihr unsterbliches Leben in allen Bewegungen zu offenbaren und ihre göttliche Stimme in jedem Geräusch des Weltalls hören zu lassen scheint! Oft vertieft sich der Mensch in die Betrachtung dieser Wunderdinge; seine Einbildungskraft weidet sich an Gott, und er glaubt Religion zu haben.
Jedoch die Einbildungskraft, die Vernunft, das Gefühl und das Gewissen sind vier aufgerichtete Altäre, zwischen welchen sich die heilige Flamme teilt; die Einbildungskraft ist nicht der ganze Mensch, sie ist bei Weitem nicht einmal der beste Theil desselben. Wenn die Einbildungskraft auf diese Weise in Bewegung gesetzt worden, ist dann der Mensch Gott ähnlicher? ist er Gottes mehr wert? Und, um noch nicht so weit zu gehen, hat er dadurch mehr Frieden und mehr Trost? Nein, der Reiz ist flüchtig; von diesen Höhen, auf welche ihn die Phantasie erhebt, fällt der Mensch auf sich selbst zurück und findet dort Gott nicht; und die großen Schauspiele, denen er beigewohnt, dienen nur dazu, ihn fühlen zu lassen, welch ein ungeheures Missverhältnis sich vorfindet zwischen dem Weltall, das von Gott ganz erfüllt und seiner Seele, die davon ganz leer ist.
Andere, meine Brüder, in geringerer Zahl vorhanden, suchen sich mit der Gottheit durch den Verstand in Verbindung zu setzen. Die Attribute Gottes zu zerlegen, sie in Übereinstimmung zu bringen suchen, sich über die Beziehungen des Schöpfers zur Schöpfung Rechenschaft zu geben, mit einem Wort, sich nach Gott und göttlichen Dingen ein organisches Ganze einer regelmäßigen Lehre zu bilden, das ist die Aufgabe, welche sie sich stellen, und diese Arbeiten, man muss es zugestehen, sind eine sehr edle Übung des Verstandes. Aber, meine Brüder, ein erster Fehler dieser Religion besteht darin, dass sie weniger eine Religion, als wie ein Studium ist. Gewöhnlich sucht der Mensch, der dabei stehen bleibt, weniger ein Bedürfnis seiner Seele als eine Neugierde seines Geistes zu befriedigen. Aus sich selbst herausgetreten, sich Dinge, welche er betrachtet, isolierend, um sie besser zu betrachten, beschäftigen ihn die Anwendung, die Praxis, seine persönlichen Beziehungen zu jenen hohen Wahrheiten nur wenig; er hat einige Ideen mehr, aber seine Ideen haben ihn weder bewegt noch geändert. Übrigens wie könnte er durch Dinge umgewandelt werden, welche für seinen Geist nur uns gewiss bleiben? Das Feld der religiösen Ideen, wenn man es unter alleiniger Leitung der natürlichen Vernunft durchwandert, ist nur das Feld der Probleme und der Widersprüche. Je tiefer man darin eindringt, je mehr nimmt die Dunkelheit zu, und man endigt damit, selbst jene ersten Grundbegriffe, jene instinktmäßigen Glaubensvorstellungen zu verlieren, welche man besaß, ehe man es betrat. Das ist die Erfahrung aller Systeme, aller Schulen und aller Zeitalter. Die Geschichte der Philosophie lehrt uns, dass diese Forschungen, sobald man sich ihnen ohne Vorbehalt überlässt, zu schrecklichen Fragen und an den Rand des Abgrundes führen. Dort ist es, im Angesichte des Unendlichen, wo der Philosoph die Wirklichkeiten sich auflösen, die allgemeinsten Gewissheiten verschwinden, seine eigne Individualität ein Problem werden steht. Dort ist es, wo er Welt und Gedanken, Beobachtungen und Beobachter, den Menschen und Gott versinken und sich vor seinen erschreckten Augen in der Unermesslichkeit eines entsetzlichen Chaos verlieren steht. Dort ist es, wo, ergriffen von einem geheimnisvollen Schauder, er mit einem unruhigen Blick nach der Welt der endlichen Dinge und der verständlichen Ideen zurückverlangt, welche er niemals verlassen zu haben wünscht. Also seine Religion, ganz Gedanken, hat ihn weder aufgeklärt, noch bekehrt, noch getröstet und er befindet sich ebenso fern vom Ziele, als vor diesen mühevollen Forschungen.
Dies fühlen viele Personen sehr gut, welche, indem sie diese müßigen Spekulationen verwerfen, in Bezug auf Religion nur die des Gefühls kennen wollen. Das ist die rechte, sagen sie; und es ist gewiss, dass jede Religion, welche nicht vom Herzen ausgeht, eine unfruchtbare und eitle Gottesverehrung ist. Prüfen wir jedoch. Man spricht von einer Religion des Gefühls. Ohne irgend einen Zweifel ist dieses Gefühl die Liebe, und eine Liebe, welche Gott zum Gegenstande hat. Ist dem so, dann muss man gestehen, dass die beste Religion auch die seltenste ist, oder dass die Liebe von der man redet, ein sehr unfruchtbares Gefühl ist, eine Neigung, die, so zu sagen, nichts zu bedeuten hat. Es geschehen auf der Erde ziemlich große Dinge, zum wenigsten Dinge, welche der Mensch groß findet; die Tätigkeit des Geistes entspricht der äußern Tätigkeit. Jeder Tag sieht neue Projekte entstehen und neue Unternehmungen beginnen. Man zähle unter all diesen Handlungen die, denen die Liebe Gottes zum Grunde gelegen hat; man wird gestehen, dass, wenn diese Religion der Liebe die rechte ist, sie nicht für den Gebrauch der großen Menge geeignet scheint. Es ist nämlich, in der Tat, die Liebe Gottes, wenn ihr darunter eine wirkliche, ernste, beherrschende Liebe versteht, dem Herzen des Menschen nicht natürlich. Und, seien wir aufrichtig, wie würden wir mit dieser Liebe einen Gott lieben, von dem wir durch unsere Sünden und durch die Weltlichkeit unserer Neigungen entfernt sind, einen Gott, der uns, in unsern besten Augenblicken, nur unter den Zügen eines Richters erscheinen kann, einen Gott, dessen väterliche Vorsehung unsern Blicken verschleiert ist, weil wir nicht mehr oder noch nicht das anbetungswürdige Geheimnis seines ganzen Verfahrens rücksichtlich unserer kennen? Wie werden wir ihn lieben, so lange wir uns nicht Rechenschaft geben können über die Zerrüttungen der physischen und moralischen Welt, und so lange das Universum und als ein weiter Kampfplatz erscheint, wo der Zufall die Ungerechtigkeit und das gute Recht sich bekämpfen lässt und kalt zwischen ihnen entscheidet? Ein Zweifel, meine Brüder, ein einziger Zweifel über den Zweck des Lebens und über die Absichten Gottes würde genügen, die ersten Keime der Liebe in dem unruhigen Herzen welken zu machen, zu ersticken. Das ist nun, mehr oder weniger, der Zustand, in welchem wir uns alle außerhalb des Lichtes der Offenbarung befinden. Worauf läuft übrigens die Liebe und folglich die Religion des Gefühls bei der Mehrzahl der Personen, welche sich ihr am meisten zu nähern scheinen, hinaus? Heißt es nach Eurer Meinung, meine Brüder, Gott lieben, wenn man sein Herz der flüchtigen Bewegung öffnet, welche der Anblick seiner in der ganzen Natur verbreiteten Wohltaten erweckt? Liebt man ihn, wenn, je nach dem Grade der Empfindsamkeit, mit welcher man begabt ist, man sich bis zu einer unwillkürlichen Rührung gehen lässt, bei dem Gedanken an diese unermessliche Vaterschaft, welche alle belebten Wesen vom Seraph bis zum Wurm hinab umfasst? Man kann diese Art Liebe empfinden und nicht im mindesten umgewandelt sein. Wenn irgend etwas erwiesen ist, so ist es dies, dass solche Empfindsamkeit, welche sich leicht durch Tränen ausschüttet, oft im Herzen dem Egoismus einen weiten Platz einräumt, und dass unsere Mitmenschen nicht immer bei der Rührung gewinnen, welche wir fern von ihnen empfunden haben. Die Liebe, die wahre Liebe Gottes, ist die Liebe seiner Wahrheit, seiner Heiligkeit, seines ganzen Willens; die wahre Liebe ist die, welche sich in dem Gehorsam abspiegelt; die wahre Liebe ist die, welche das Gewissen anregt und es reinigt.
Dies führt uns zu der vierten der Religionen, welche der Mensch sich selbst macht, zu der des Gewissens. Hier ist ganz die Gelegenheit, wo die Reihe an uns wäre, zu sagen: das ist die rechte. Denn was ist das Gewissen, wo nicht der Anstoß, welcher uns treibt, den Willen Gottes zu tun, ihm ähnlich zu werden? und was fehlt uns, wenn wir auf diesem Punkte angelangt sind? Wünschen wir denen Glück, welche bei der Religion des Gewissens stehen geblieben sind, und bedauern wir, dass ihre Zahl so gering ist. Was habe ich gesagt, ihnen Glück wünschen? Ist das unser Ernst? Haben wir recht nachgedacht über die Laufbahn, welche sich vor ihren Füßen eröffnet? Die Religion des Gewissens! Ist das nicht die, welche vorschreibt, für Gott zu leben, nichts zu tun, als für Gott? uns mit Leib und Seele ihm ganz zu weihen? Ist das nicht die, welche uns lehrt, dass ihm etwas verweigern, ihn dessen berauben heißt, weil ihm, von höchsten Rechtswegen, alles gehört, was in uns und was außer uns ist? Ist das nicht die, welche uns lehrt, dass wir nicht zu viel für ihn tun können, und dass mithin alle Bemühungen der Zukunft, von unserer Seite, nicht eine Lücke der Vergangenheit ausfüllen können? Ist das also nicht die, welche unbedingt und unwiderruflich unser Leben verdammt, und welche uns ihm gegenüber stellt, nicht wie Kinder, nicht einmal wie Bittende, sondern wie Verdammte und wie Schlachtopfer ? Jetzt sagt noch, dass die Religion des Gewissens die rechte ist! Ja, für die weiten und gegen sich selbst nachsichtigen Gewissen, ohne Zartgefühl und ohne Reinheit. Aber je mehr Ihr an Euren Pflichten hängen, je besorgter ihr sein werdet, sie ganz zu erfüllen, desto strenger und vollständiger wird Euch das göttliche Gesetz erscheinen, desto schrecklicher wird diese Religion für Euch sein; und weit entfernt, Euch Tröstungen zu bieten, wird sie Euch, eine nach der andern, alle die entreißen, welche Ihr aus Euch selbst schöpfen möchtet. Verlasst, meine Brüder, für einen Augenblick die Szenen der Gegenwart und den Umkreis der Christenheit; betrachtet mit einem Blick die Religionen der Völker, tretet in alle Tempel, blickt auf alle Altäre, was seht ihr dort? Blut! Blut, um die Gottheit zu ehren! Ach! man muss es Euch sagen, dies Blut ist da für tausend vernachlässigte Tugenden, für tausend verletzte Pflichten, für tausend begangene Frevel; dies Blut ist der Ausruf von tausend Gewissen, welche von der ganzen Natur eine unmögliche Ausgleichung verlangen; dies Blut ist das feierliche und schreckliche Geständnis der Wahrheiten, welche ich Euch vorhalte. Und wollt Ihr Euch einen Begriff von dem Verlangen nach Abbüßung machen? Wisset denn, dass die Unmöglichkeit das Problem zu lösen, die Angst sich ewig in einem Kreise ohne Ausweg zu drehen, den Menschen zur Verzweiflung getrieben hat, und dass diese Verzweiflung barbarisch geworden ist! Immer nach einem würdigeren Opfer suchend, ist der Mensch bis zum Menschen gekommen; das menschliche Blut ist in den Heiligtümern geflossen … und die Qual hat nicht aufgehört, und das Blut hat nichts ausgelöscht! An welches Opfer hätte sich der Mensch alsdann noch wenden können? An einen Gott. Aber hätte das in das Herz des Menschen kommen können?
Meine Brüder, wir sind die religiösen Systeme durchgegangen, welche außerhalb des Christentums allein noch möglich sind. Wir glauben sie treu dargestellt zu haben; wir haben ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, wir haben ihnen nichts genommen. Wir hätten von ihnen Rechenschaft über das fordern können, was sie dem Christentum verdanken, und dieser heiligen Religion die Ehre geben können, für einen großen Theil dessen, was sie Wahrscheinliches, Gutes und Interessantes besitzen, wir haben uns dessen enthalten, wir haben uns bemüht, ohne eine andere Prüfung Euch die Stärke und die Schwäche dieser Systeme zu zeigen. Ihr seid jetzt im Stande zu entscheiden. Was uns anlangt, so ziehen wir diesen Schluss: Vergebens hat der Mensch, zur Erforschung des höchsten Gutes, seine Vernunft, seine Einbildungskraft, sein Herz und sein Gewissen vereinigt, vergebens hat er alle seine Tätigkeiten in Anspruch genommen; vergebens hat er seinerseits alles getan, was der Mensch tun kann: überall sind weite und tiefe Lücken geblieben. Der dreifache Zweck jeder Religion, zu erleuchten, zu trösten und zu erneuen ist weder durch die eine noch durch die andere dieser Religionen erfüllt worden, noch durch alle gemeinschaftlich. Handelt es sich um die Religion der Einbildungskraft? Es ist der Reiz einiger flüchtigen Augenblicke, es ist weder das Licht, noch die Stütze, noch die Heiligung der Seele. Versuchen wir es mit der Religion des Gedankens? Sie erfüllt ihre einzige vernünftige Prätention, welche darin besteht, aufzuklären, so wenig, dass sie eigentlich unsere Finsternis in Bezug auf Religion nur undurchdringlicher macht. Wenden wir uns an die Religion des Gefühls: sie streift über die Seele hin; sie erreicht nicht ihre Tiefen, sie erneuet sie nicht. Endlich die beste von all diesen Religionen, die des Gewissens, hat uns durch ihre Vortrefflichkeit selbst die Ohnmacht des Menschen bewiesen, sich selbst mit einer Religion zu versehen. Sie hat uns nur den Abgrund zeigen können, welchen die Sünde zwischen uns und Gott ausgehöhlt hat; sie hat ihn nicht ausgefüllt. Sie hat uns gelehrt, dass, um mit Gott vereint zu sein, wir zweier Dinge bedürfen, welche sie nicht gibt und welche keine unserer Tätigkeiten zu geben im Stande ist: Vergebung und Wiedergeburt. Behauptet der Mensch durch sich selbst das Werk seines Heils zu vollbringen, so ist zuerst nötig, dass er sich vergebe und hernach, dass er wieder geboren werde. Er muss seine früheren Sünden bis auf die letzte Spur vertilgen, das heißt, er muss machen, dass das, was ist, nicht sei. Darauf muss er, indem er seiner Natur den Krieg erklärt, dieselbe zwingen, Gott zu lieben, das Gute zu lieben, das Böse zu hassen; er muss seine Neigungen von Grund auf erneuen, mit einem Worte, er muss den alten Menschen in sich töten und den neuen Menschen in sich erschaffen. Ihr fragt, ob ihr diese Dinge machen könnt, das heißt Euch fragen, ob ein Verbrecher, allein in der Tiefe seines Kerkers, sich selbst sein Begnadigungsschreiben übergeben, und ob ein Kämpfer, an Händen und Füßen geschlossen, sich den Sieg versprechen kann. Euch fragen, ob ihr überhaupt einmal können werdet, was ihr heute nicht könnt; heißt Euch fragen, ob es Euch je möglich sein wird, mit den Kräften Eurer Natur allein, Eure Natur umzuschaffen. Und inzwischen gibt es ohne dieses keine vollständige und befriedigende Religion - sagen wir besser keine Religion. Und ohne dieses habt ihr Recht, Euch von Gott verlassen zu glauben. Und wie! Ihr wolltet dann nicht Eure Blicke zu diesem Evangelium wenden, welches alle Geheimnisse Eurer Natur erraten zu haben scheint und welches allen Bedürfnissen Eurer Seele entgegen kommt. Wie! der Anblick des Kreuzes, wo Eure Vergebung geschrieben steht, das Versprechen des heiligen Geistes, die Quelle der Wiedergeburt, sollten Euer Herz nicht erbeben machen! Wie! Ihr solltet nicht innig wünschen, dass diese Lehre, welche für Alles hilft, welche Alles versöhnt, welche Alles befriedigt, eben so wahr wäre, als sie schön ist! Wie! Ihr könntet einen Augenblick der Ruhe haben, bevor Ihr Euch darüber durch alle Mittel, die Euch zu Gebote stehen, aufgeklärt hättet! Meine Freunde, wenn eine solche Religion dem Menschen nicht gegeben worden wäre, so müsste man sterben, ja sterben vor Schmerz darüber, dass man verdammt worden ist, zu leben; sterben vor Schmerz darüber, dass man mit einem unersättlichen Verlangen nach Vervollkommnung, mit einem brennenden Durste nach Gott gebildet worden ist; und dass man fühlt, wie dieser Durst und dieses Verlangen nur eine grausame Täuschung sind, ein unheilvolles Spiel der unbekannten Macht, welche uns erschaffen hat.
Aber was tue ich, meine Brüder? Vergesse ich, dass ich zu Christen spreche? Erwarte ich aus ihrem Munde, statt der freudigen Laute einer überzeugten Seele, die ängstlichen Wünsche eines Herzens, welches noch zweifelt? Nein, begrüßen wir gemeinschaftlich mit unsern Segnungen diese Religion, die einzig vollständige, welche allen Bedürfnissen des Menschen entspricht, indem sie jeder seiner Tätigkeiten eine unerschöpfliche Nahrung bietet: Religion der Einbildungskraft, welcher sie herrliche Aussichten eröffnet: Religion des Herzens, welches sie erweicht durch die Offenbarung einer Liebe, die höher denn jede Liebe: Religion des Gedankens, welchen sie an die Betrachtung des weitesten und geordnetsten Systems fesselt: Religion des Gewissens, welches sie gleichzeitig zarter und ruhiger macht; aber über Alles, Religion der Gnade und der Liebe Gottes; denn sie ist notwendiger Weise alles dies zusammen. Wie sollte die ganze Wahrheit nicht den ganzen Menschen befriedigen? Begrüßen wir mit Bewunderung diese Religion, welche alle Kontraste versöhnt, Religion der Gerechtigkeit und der Gnade, der Furcht und der Liebe, des Gehorsams und der Freiheit, der Tätigkeit und der Ruhe, des Glaubens und der Vernunft; denn wenn der Irrtum Alles im Menschen gespalten, geteilt, wenn er aus seiner Seele ein weites Feld von Widersprüchen gemacht hat; die Wahrheit muss Alles zur Einheit zurückführen. Das ist die Religion, welche niemals in das Herz des Menschen gekommen war, selbst nicht in der höchsten Kultur seines moralischen Sinnes und in der weitesten Entwickelung seiner Intelligenz, oder, wie der Apostel sich ausdrückt, welche keiner von den Obersten dieser Welt erkannt hat. Was den Philosophen und Weisen in den glänzendsten Perioden des menschlichen Geistes verborgen blieb, zwölf arme Fischer der Seen von Judäa haben ihre Netze verlassen, um es der Welt anzukündigen. Gewiss, sie hatten nicht mehr Einbildungskraft, nicht mehr Vernunft, nicht mehr Herz, selbst nicht mehr Gewissen, als die übrigen Menschen. Nichts desto weniger machten sie, dass die Weisheit der Jahrhunderte schwieg, dass die Schulen der Philosophen leer wurden, dass sich die Thore aller Tempel schlossen, dass die Feuer auf allen Altären erloschen. Sie zeigten der Welt ihren gekreuzigten Herrn und die Welt erkannte den, welchen ihre Ungeduld seit dreitausend Jahren vergeblich suchte. Und eine neue Moral, und neue gesellige Beziehungen und eine neue Welt nahmen ihre Entstehung bei der Stimme dieser armen Leute, die unbekannt waren mit allen Wissenschaften und aller Philosophie. Es bleibt dem Urteil Eures gesunden Sinnes zu entscheiden überlassen, ob diese zwölf Fischer ihre eigene Weisheit oder die Weisheit von oben gebracht haben. Ein anderes Mal, meine Brüder, kommen wir, wenn es Gott gefällt, auf diesen Gegenstand zurück, welchen wir nicht erschöpft haben. Bleiben wir bei diesem Punkte stehen: der Mensch ist außer Stande gewesen, sich eine Religion zu machen, und Gott ist seiner Ohnmacht zu Hülfe gekommen. Segnet daher Euren Gott aus dem tiefsten Grunde Eures Herzens, Ihr, die Ihr nach langem Suchen endlich eine Zufluchtsstätte gefunden habt. Und Ihr, die Ihr noch auf dem weiten Meere der menschlichen Meinungen umherschwimmt, Ihr, die Ihr, von einem Systeme zum andern geschleudert, Eure Angst immer mehr zunehmen und Euer Herz immer mehr verschmachten seht, Ihr, die Ihr bis zu diesem Tage nicht mit Gott und nicht ohne Gott leben gekonnt habt…. kommt und seht, ob das Evangelium, über welches Eure zerstreuten Blicke kaum hinstreift, nicht vielleicht das ist, was Ihr durch so viele unnütze Seufzer herbeiruft. Und Du, Gott des Evangeliums, Gott der Völker, unendliche Liebe, offenbare Dich selbst den verwundeten Herzen; beweise Dich selbst den entmutigten Geistern, und lass sie erkennen die Freude, den Frieden und die wahrhafte Tugend.