Vinet, Alexandre - Die Mysterien des Christentums.

Vinet, Alexandre - Die Mysterien des Christentums.

1. Kor. II, 9.
Das in keines Menschen Herz gekommen ist.

Diese Worte haben uns vor einigen Tagen einen Gegenstand der Demütigung und der Dankbarkeit geliefert. Sie haben uns gelehrt, dass wir außer Stand sind, uns selbst eine Religion zu geben, und dass Gott in seiner Güte sich herabgelassen hat, unsrer Ohnmacht zu Hülfe zu kommen. Aber diese nämlichen Worte, welche ein Gegenstand des Lobes und eine Quelle zur Erbauung für die einen sind, bilden einen Gegenstand des Ärgernisses und eine Gelegenheit zum Murren für die andern. Die Vernunft des Menschen lässt sich nicht gerne ihrer Ohnmacht überführen; sie leidet nicht gerne, dass man ihr Grenzen vorschreibt; sie fühlt sich mächtig versucht, Ideen zurück zu stoßen, welche sie nicht gefasst, Wahrheiten, welche sie nicht erraten, eine Religion, welche sie nicht erfunden hat, und wenn die Lehren, welche man ihr vorschlägt, ihrer Natur nach mysteriös und unbegreiflich sind, so geht dieses Gefühl der Unzufriedenheit bis zur Empörung, und löst sich bei einigen in einen hartnäckigen Unglauben auf.

„Ich verstehe nicht, mithin glaube ich nicht, das Evangelium ist voll von Mysterien, mithin kann ich das Evangelium nicht annehmen:“ das ist eines der beliebten Argumente des Unglaubens. Wenn man sieht, welches Wesen davon gemacht wird und welches Vertrauen es einflößt, sollte man es für gediegen, oder doch wenigstens für wahrscheinlich halten, und dennoch ist es weder das eine, noch das andere; und wenn es sich noch einiger Gunst in der Welt erfreut, so ist das nur ein Beweis, mit welcher Leichtfertigkeit wir über die einer ernsten Aufmerksamkeit würdigsten Dinge urteilen.

Worauf beruht in der Tat dieses Argument? Auf der Prätention alles zu verstehen in der Religion, welche uns Gott angeboten hat, oder welche er uns noch anbieten kann. Dass diese Prätention gleich ungerecht, unvernünftig und müßig ist, wollen wir entwickeln.

I.

Es ist zuerst eine ungerechte Prätention, denn sie besteht darin, von Gott etwas zu verlangen, was er uns nicht schuldig ist. Ihm das zu beweisen, wollen wir einmal voraussetzen, dass Gott wirklich dem Menschen eine Religion gegeben habe, und ferner annehmen, dass diese Religion das Evangelium sei; denn dies ändert durchaus nichts an unserem Raisonnement. Wir können glauben, dass Gott wenigstens in Beziehung zu uns frei war, uns eine Religion zu geben oder nicht; aber man muss zugestehen, dass er, indem er sie uns gibt, Verbindlichkeiten gegen uns eingeht, und dass diese erste Wohltat ihn zu andern Wohltaten verpflichtet; da es eine geschriebene Offenbarung ist, durch welche er und seine Absichten rücksichtlich unserer kund gibt, so musste er diese Offenbarung mit aller Autorität versehen, welche uns bestimmen konnte, sie anzunehmen; er musste uns in den Stand setzen, selbst zu beurteilen, ob die Männer, welche zu uns in seinem Namen reden, wirklich durch ihn gesandt sind, er musste uns mit einem Worte, in den Stand setzen, uns die Gewissheit zu verschaffen, dass die Bibel wirklich Gottes Wort ist.

Übrigens war es nicht nötig, dass uns die Überzeugung eines jeden durch dieselbe Art des Beweises gewonnen würde. Die einen werden durch historische oder äußere Argumente zum Christentum geführt; sie werden sich die Wahrheit der Bibel beweisen, wie man sich die einer jeden andern Geschichte beweist; sie werden sich vergewissern, dass die Bücher, aus welchen sie besteht, wirklich den Zeiten und den Autoren angehören, welchen man sie zuschreibt. Dies festgestellt, werden sie die in diesen alten Dokumenten enthaltenen Prophezeiungen mit den in späteren Jahrhunderten geschehenen Begebenheiten vergleichen; sie werden sich die Gewissheit verschaffen, dass die Wunder, von welchen diese Bücher berichten, wirklich stattgefunden haben und werden hieraus auf ein notwendiges Eingreifen der göttlichen Macht schließen, welche, allein über die Kräfte der Natur verfügend, auch nur allein das Wirken dieser Kräfte hat unterbrechen oder modifizieren können. - Andere Menschen, die sich weniger zu diesen Forschungen eignen, werden mehr von der inneren Gewissheit der heiligen Schrift ergriffen sein. Indem sie darin den Zustand ihrer Seele vollkommen geschildert, die Bedürfnisse derselben vollkommen ausgedrückt, die Mittel zur Heilung der Krankheiten genau angegeben finden, indem sie erstaunt sind über einen Charakter von Wahrheit und von Einfalt, den nichts hätte nachahmen können; endlich, indem sie sich in ihrem Innern durch den geheimnisvollen Einfluss der heiligen Schrift bewegt, verändert, erneuert fühlen, werden sie auf diesem Wege eine Überzeugung erlangt haben, von der sie vielleicht nicht immer andern Rechenschaft geben können, aber die deshalb nicht weniger rechtmäßig, unwiderstehlich und unerschütterlich ist. Das ist der doppelte Weg, auf welchem man in das Asyl des Glaubens dringt. Und es kam der Weisheit Gottes, seiner Gerechtigkeit und, wir wagen es zu sagen, der Ehre seiner Herrschaft zu, dem Menschen diesen doppelten Weg zu öffnen; denn, weil er gewollt hat, dass der Mensch durch die Erkenntnis gerettet würde, verpflichtete er sich eben dadurch, ihm die Mittel des Erkennens zu liefern.

Das ist, meine Brüder, der Punkt, bis zu welchem die Verpflichtungen Gottes rücksichtlich unserer gehen; und er hat sie erfüllt. Betretet diesen doppelten Weg des Beweises; befragt die Geschichte, die Zeit und die Orte über die Authentizität der heiligen Schrift; befasst Euch mit allen Schwierigkeiten; ergründet alle Einwendungen; lasst Euch nicht wohlfeilen Kaufs überzeugen; seid um so strenger für dies Buch, als es behauptet, die oberste Richtschnur Eures Lebens, das Vermächtnis Eurer Zukunft zu enthalten; man erlaubt es Euch, was noch mehr ist, man ermahnt Euch dazu, vorausgesetzt, dass Ihr zu dieser Prüfung mit den erforderlichen Fähigkeiten und mit reinen Absichten versehen schreitet. Oder, wenn Ihr einen andern Weg vorzieht, prüft mit einem aufrichtigen Herzen den Inhalt der Schrift; untersucht, indem Ihr die Worte Jesu durchgeht, ob je ein Mensch geredet hat wie dieser Mensch; untersucht, ob die lang getäuschten Bedürfnisse Eurer Seele, die lang umsonst gehegte Unruhe Eures Geistes in der Lehre und in dem Werk Christi die Befriedigung und die Besänftigung finden, welche seine Weisheit Euch hätte verschaffen können; atmet, wenn ich mich so ausdrücken darf, den Wohlgeruch der Wahrheit, der Einfalt und der Reinheit ein, welcher von dem ganzen Evangelium ausgeht; seht zu, ob es nicht in allen seinen Theilen das unleugbarste Siegel der Inspiration und der Göttlichkeit trägt; versucht endlich; und wenn das Evangelium eine entgegengesetzte Wirkung auf Euch hervorbringt, so kehrt zu den Büchern und der Weisheit der Menschen zurück, und verlangt von ihnen, was Christus Euch nicht hat geben können. Aber wenn, diese beiden Wege vernachlässigend, welche Euch eröffnet sind und welche Euch die Jahrhunderte weit geebnet haben, Ihr vor Allem wollt, dass die christliche Religion sich in jedem Punkte Eurer Intelligenz verständlich mache, und dass sie sich gefällig aller ihrer Mysterien entäußere; wenn Ihr bis jenseits des Schleiers durchdringen wollt, um dort, nicht die Speise, welche die Seele leben macht, sondern eine Nahrung für Eure unruhige Neugierde zu finden; dann, sage ich, erhebt Ihr gegen Gott die rücksichtsloseste, die verwegendste und die ungerechteste Forderung, denn er hat sich nicht anheischig gemacht, weder stillschweigend, noch ausdrücklich, Euch die Geheimnisse zu entdecken, auf die Euer Auge begierig ist; Eure anmaßende Zudringlichkeit ist nur geeignet, seinen Unwillen zu erregen. Er hat Euch gegeben, was er Euch schuldig war: das Übrige gehört ihm allein. - Wenn eine so ungerechte Prätention zugelassen werden könnte, wo wäre, ich bitte Euch, die Grenze Eurer Zudringlichkeit? Schon verlangt Ihr von Gott mehr, als er den Engeln bewilligt hat; denn diese ewigen Geheimnisse, um die Ihr Euch beunruhigt, die Vereinbarung der Voraussicht Gottes und der menschlichen Freiheit, der Ursprung des Übels und sein unaussprechliches Heilmittel, die Fleischwerdung des ewigen Wortes, die Beziehungen des Gottmenschen zu seinem Vater, die sühnende Kraft seines Opfers, die erneuende Wirksamkeit des heiligen Geistes, alle diese Dinge sind Geheimnisse, deren Verständnis den Engeln selbst verweigert ist, welche, nach dem Worte des Apostels, sich neigen, um den Grund derselben zu sehen und es nicht können. Wenn Ihr dem Ewigen vorwerft, die Kenntnis dieser göttlichen Mysterien für sich behalten zu haben, warum werft Ihr ihm nicht vor, dass er Euch tausend andere Grenzen vorgezeichnet hat; warum werft Ihr ihm nicht vor, dass er Euch keine Flügel gegeben hat wie dem Vogel, damit Ihr Regionen besuchen könnt, welche bis jetzt Eure Blicke allein durchstreift haben? Warum werft Ihr ihm nicht vor, dass er Euch außer den fünf Sinnen, mit welchen Ihr versehen seid, nicht noch zehn andere gegeben hat, welche er vielleicht andern Kreaturen bewilligte, und welche diesen Wahrnehmungen verschaffen, von denen Ihr keinen Begriff habt? Warum, endlich, werft Ihr ihm nicht vor, dass er auf der Erde unveränderlich auf die Klarheit des Tages die Dunkelheit der Nacht folgen lässt? Ach, dies ist es nicht, was Ihr ihm vorwerfen werdet. Ihr liebt die Nacht, welche für so viele ermüdete Körper und Geister die Ruhe herbeiführt; welche für so viele Unglückliche das Gefühl des Schmerzes unterbricht; diese Nacht, während welcher es weder Waisen, noch Unterdrückte, noch Leidende gibt, weil sie auf alle Verluste und alle Leiden, mit den Fittichen des Schlafes, den dichten Schleier des Vergessens deckt; Ihr liebt diese Nacht, die, indem sie die Decke der Himmel mit tausend Sternen, die der Tag nicht kannte, bevölkert, Eurer entzückten Phantasie das Unendliche offenbart. Wohlan denn! Warum solltet Ihr nicht eben so die Nacht der göttlichen Geheimnisse lieben; günstige und heilsame Nacht, wo die Vernunft sich demütigt, sich besänftigt, ausruht, wo die Dunkelheit selbst eine Offenbarung ist, wo eines der vorzüglichsten Attribute Gottes, die Unermesslichkeit, sich unserm Gedanken desto besser entdeckt, endlich, wo der zärtliche Umgang, in welchem er uns erlaubt hat, mit ihm zu stehen, sicher gestellt ist vor jeder Beimischung von Vertraulichkeit durch den Gedanken, dass dieses Wesen, welches sich bis zu uns herabgelassen hat, dieser selbe unbegreifliche Gott ist, welcher vor allen Jahrhunderten regiert, welcher jegliches Dasein, jede Bedingung des Daseins in sich schließt, der Mittelpunkt jeder Idee, das Gesetz jedes Gesetzes, die letzte und höchste Ursache jedes Dinges? So dass Ihr, wenn Ihr gerecht seid, anstatt ihm die Mysterien seiner Religion vorzuwerfen, ihn vielmehr segnen werdet, dass er Euch damit umgeben hat.

II.

Aber diese Prätention, meine Brüder, ist nicht allein ungerecht in Bezug auf Gott, sie ist in sich selbst außerordentlich unvernünftig.

Was ist die Religion? Die Verbindung, in welche sich Gott selbst mit dem Menschen, der Schöpfer mit dem Geschöpf, das Unendliche mit dem Endlichen setzt. Dies schon, ohne weiter zu gehen, ist ein Mysterium, ein Mysterium, welches jeder Religion gemein, in jeder Religion undurchdringlich ist. Wenn also Alles, was Mysterium ist, Euch ein Ärgernis gibt, so seid Ihr damit auf der Schwelle, ich werde nicht sagen, des Christentums, nein, einer jeden Religion angehalten, sogar der, welche man die natürliche nennt, weil sie die Offenbarungen und die Wunder verwirft; denn im aller Mindesten muss sie irgend eine Beziehung, irgend eine Verbindung zwischen Gott und dem Menschen voraussetzen, da das Gegenteil dem Atheismus gleichkommt. Eure Prätention hält Euch daher diesseits jedes Glaubens zurück, und weil Ihr nicht habt Christen sein wollen, wird es Euch nicht erlaubt sein, Deisten zu sein.

„Es kommt nicht darauf an,“ sagt Ihr, „wir setzen uns über diese erste Schwierigkeit hinweg; wir setzen zwischen Gott und uns Beziehungen voraus, welche wir nicht begreifen; wir lassen sie zu, weil wir ihrer bedürfen. Aber dies ist der einzige Schritt, welchen wir tun wollen; wir haben schon zu viel zugestanden, um mehr zuzugestehen.“ Sagt besser: sagt, dass Ihr zu viel zugestanden habt, um nicht noch viel mehr, um nicht das zuzugestehen. Ihr habt gelten lassen, ohne es zu verstehen, dass Beziehungen, Verbindungen bestehen können, von Gott zu Euch, und von Euch zu Gott. Nun, habt wohl Acht auf Alles, was diese Voraussetzung nach sich zieht. Sie zieht nach sich, dass Ihr abhängig und doch frei seid, und das versteht Ihr nicht; sie zieht nach sich, dass Gottes Geist sich Eurem Geiste verständlich machen kann und das versteht Ihr nicht; sie zieht nach sich, dass Euer Gebet auf den Willen Gottes einen Einfluss ausüben kann, und das versteht Ihr nicht. Alle diese Mysterien habt Ihr hinnehmen müssen, um sehr unbestimmte, sehr oberflächliche Beziehungen zu Gott aufzustellen, und unmittelbar vor denselben nimmt der Atheismus seinen Platz. Und wenn Ihr durch eine große Anstrengung so viel über Euch selbst gewonnen habt, dass Ihr diese Mysterien zugebt, dann weicht Ihr vor denen des Christentums zurück. Ihr habt die Basis angenommen, und Ihr weigert Euch darauf zu bauen! Ihr habt die Hauptsache angenommen und Ihr weist die Einzelheiten zurück! Ihr habt ohne Zweifel Recht, sobald man Euch wird bewiesen haben, dass die Religion, welche diese Mysterien in sich schließt, nicht von Gott kommt, oder auch noch, wenn diese Mysterien wiedersprechende Ideen in sich schließen. Aber Ihr habt durchaus keinen Grund, diese Mysterien aus der alleinigen Ursache zu leugnen, dass Ihr sie nicht versteht; und die Annahme der ersteren macht Euch die Annahme der letzteren zum Gesetz.

Das ist nicht Alles, meine Brüder; die Mysterien sind nicht allein ein unzertrennlicher Theil und die Substanz selbst einer jeden Religion, sondern es ist auch unmöglich, dass die wahre Religion nicht eine große Anzahl von Mysterien darbiete. Wenn sie wahr ist, so muss sie uns über Gott und über die göttlichen Dinge mehr Wahrheiten, als irgend eine andere und selbst als alle anderen zusammen lehren; aber eine jede dieser Wahrheiten steht mit dem Unendlichen in Verbindung und läuft mithin in ein Mysterium aus. Wie sollte es anders damit in der Religion sein, wenn es sich damit so in der Natur selbst verhält? Sehet Gott in der Natur. Je mehr er uns zu betrachten gibt, je mehr gibt er uns, worüber wir erstaunen müssen; an jede Kreatur knüpft sich irgend ein Rätsel, jedes Sandkörnchen ist ein Geheimnis. Nun, wenn die Offenbarung, welche Gott von sich selbst in der Natur gegeben hat, den Beobachter zu tausend Fragen veranlasst, welche keine Antwort haben, was wird es sein, wenn zu dieser ersten Offenbarung eine andere hinzukommt? wenn der schaffende und erhaltende Gott sich noch unter neuen Beziehungen betätigen wird, als der versöhnende und der rettende Gott? Werden sich die Mysterien nicht mit den Entdeckungen vermehren? werden wir nicht mit jedem neuen Tage sich eine neue Nacht verbinden sehen? und werden wir nicht jede neue Kenntnis mit einer neuen Unkenntnis erkaufen? Die einzige Lehre von der Gnade, welche so notwendig, so tröstend, und welche man die eigentliche Grundlage des Evangeliums nennen kann, hat sie nicht einen tiefen Abgrund erzeugt, in welchen sich, seit achtzehn Jahrhunderten, täglich unruhige und verwegene Geister stürzen?

Es muss daher das Christentum wohl mysteriös sein, ja es muss es mehr sein, wie jede andere Religion, eben weil es wahr ist. Gleich den Bergen, welche, je höher sie sind, desto mächtigere Schatten werfen, ist das Evangelium dunkel und mysteriös im Verhältnis seiner Erhabenheit. Wollt Ihr hiernach noch unwillig sein, dass Ihr nicht alles im Evangelium versteht? Es wäre wirklich sehr erstaunenswert, wenn der Ozean nicht in die Höhlung Eurer Hand hineinginge, noch die ungeschaffene Weisheit in die Grenzen Eures Verstandes! Es wäre sehr unglücklich, wenn ein endliches Wesen das Unendliche nicht umfassen könnte, und wenn es in dem Zusammenhange der Dinge irgend eine für Euch zu hohe Idee gäbe! Mit andern Worten, es wäre sehr unglücklich, wenn Gott etwas wüsste, was der Mensch nicht weiß! Erkennen wir daher an, wie unsinnig eine solche Prätention ist, wenn es sich um Religion handelt.

Aber erkennen wir auch an, meine teuren Zuhörer, wie sehr wir, indem wir sie erheben, im Widerspruche mit uns selbst sein würden; denn die Unterwerfung, welche wir in der Religion nicht haben wollen, wir haben sie in tausend andern Dingen. Es begegnet uns alle Tage, dass wir Dinge zugeben, die wir nicht verstehen, und wir tun es ohne das geringste Widerstreben. Die Dinge, deren Verständnis uns verweigert ist, sind weit zahlreicher, als wir es vielleicht selbst denken. Es gibt wenig vollkommen reine Diamanten, es gibt noch weniger vollkommen klare Wahrheiten. Die Verbindung unsrer Seele mit unserm Körper ist ein Mysterium; unsere gewöhnlichsten Gefühle, unsere Zuneigungen sind ein Mysterium; die Tätigkeit des Gedankens und des Willens ist ein Mysterium, unser Dasein selbst ist ein Mysterium. Warum geben wir alle diese verschiedenen Tatsachen zu? Geschieht es, weil wir sie verstehen? Nein, gewiss nicht, sondern weil sie uns klar, augenscheinlich an sich selbst sind, und weil wir durch diese Wahrheiten leben. In der Religion haben wir keiner andern Methode zu folgen. Man muss wissen, ob die Religion wahr, ob sie notwendig ist, und, einmal überzeugt von diesen beiden Punkten, müssen wir uns, wie die Engel, der Notwendigkeit, etwas nicht zu wissen, unterwerfen.

III.

Und warum sich nicht gutwillig einer Entbehrung unterwerfen, welche keine ist? Das Verständnis der Mysterien wünschen, heißt etwas Unnützes wünschen, heißt, wie ich gesagt habe, die eitelste und müßigste Prätention erheben.

Welches ist der Zweck des Evangeliums in Bezug auf uns? Augenscheinlich uns zu erneuen, uns zu retten. Nun, diesen Zweck erreicht es ganz und gar durch die Dinge, welche es uns offenbart: und was würde es uns nützen, noch die zu kennen, welche es uns verbirgt? Wir besitzen die Kenntnisse, welche unsere Gewissen erleuchten, unsere Neigungen berichtigen, unser Herz erneuern können: und was würden wir gewinnen, besäßen wir auch die andern? Es ist unendlich wichtig für uns zu wissen, dass die Bibel Gottes Wort ist: ist es uns eben so wichtig zu wissen, auf welche Art die heiligen Männer, welche sie geschrieben, durch den himmlischen Geist umgewandelt worden sind? Es ist unendlich wichtig für uns zu wissen, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist: haben wir nötig genau zu wissen, auf welche Weise die göttliche und die menschliche Natur in seiner anbetungswürdigen Person vereinigt sind? Es ist unendlich wichtig für uns zu wissen, dass, insofern wir nicht neugeboren sind, wir nicht in das Reich Gottes eingehen können, und dass der heilige Geist der Urheber dieser Wiedergeburt ist: würden wir weiter sein, wenn wir das göttliche Verfahren kennten, durch welches dieses Wunder geschieht? Genügt es uns nicht die Wahrheiten zu kennen, welche erretten? und müssen wir noch die kennen, welche nicht den geringsten Einfluss auf unsere Seligkeit haben können? Wenn ich alle Geheimnisse kennte, sagt St. Paulus, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. St. Paulus also konnte diese Kenntnis entbehren, vorausgesetzt dass er der Liebe hätte und können wir, nach seinem Beispiel, nicht auch ihrer entbehren, vorausgesetzt, dass wir, wie er, die Liebe, das heißt, das Leben haben?

Aber, wird jemand sagen, wenn die Verständnis dieser Mysterien wirklich ohne Einfluss auf unsere Seligkeit ist, warum sind sie uns denn gezeigt worden? Und wenn es nur geschehen wäre, um uns zu lehren, mit den warum nicht so verschwenderisch umzugehen? wenn es geschehen wäre, um als Prüfung für unsern Glauben, als Probe für unsere Unterwerfung zu dienen! Aber wir wollen es nicht bei dieser Antwort bewenden lassen.

Bemerkt, ich bitte Euch, in welcher Art diese Mysterien, über die Ihr Euch beklagt, in der Religion Platz gefunden haben. Ihr werdet leicht sehen, dass sie darin nicht für sich selbst sind, sondern dass sie im Gefolge der Wahrheiten hineingekommen, welche einen direkten Einfluss auf Eure Seligkeit haben. Sie enthalten diese Wahrheiten, sie dienen ihnen als Umgebung; aber sie sind nicht selbst die Wahrheiten, welche erretten. Es ist mit diesen Mysterien, wie mit einem Gefäß, welches ein medizinisches Getränk enthält: es ist nicht das Gefäß, was Euch heilen wird, es ist das Getränk; aber das Getränk konnte Euch nur in einem Gefäß dargeboten werden. Also ist jede Wahrheit, welche errettet, eingeschlossen, enthalten in einem Mysterium, welches an und für sich nicht die Kraft zu erretten hat. So knüpft sich das große Werk der Versöhnung notwendig an die Fleischwerdung des Sohnes Gottes, welche ein Mysterium ist; so knüpfen sich die heiligenden Gnadenbezeugungen des neuen Bundes notwendig an die Ausgießung des heiligen Geistes, welche ein Mysterium ist; so findet die Göttlichkeit der Religion eine Besiegelung und eine Garantie in den Wundern, welche Mysterien sind. Überall entsteht das Licht aus der Dunkelheit, und die Dunkelheit begleitet das Licht. Diese beiden Ordnungen von Wahrheiten sind dergestalt verbunden, dergestalt in einander gewunden, dass man die eine nicht entfernen kann, ohne nicht auch die andere zu entfernen; und jedes der Mysterien, welches Ihr versucht sein könntet dem Systeme der Religion zu entreißen, würde mit sich irgend eine der Wahrheiten fortnehmen, bei welchen Eure Wiedergeburt und Eure Seligkeit direkt beteiligt sind. Nehmt also diese Mysterien an, nicht wie Wahrheiten, welche Euch erretten können, sondern wie das notwendige Zubehör des barmherzigen Werkes des Herrn rücksichtlich Eurer.

Bei der Religion ist die wahre Frage diese: Was tut die Religion, welche man uns vorschlägt, ändert sie das Herz, vereinigt sie es mit Gott, bereitet sie es für den Himmel vor? Wenn das Christentum diese Wirkung hervorbringt, lassen wir die Feinde des Christentums sich nach Wohlgefallen gegen diese Mysterien auflehnen und sie sogar der Absurdität zeihen. Das Evangelium, werden wir ihnen sagen, ist also eine Absurdität, Ihr habt es entdeckt. Nun sicher das ist eine ganz neue Art von Absurdität, eine Absurdität, welche den Menschen an alle seine Pflichten bindet, welche das menschliche Leben besser regelt, als alle Lehren der Weisen, welche in das Innere des Menschen das Gleichgewicht, die Ordnung und den Frieden bringt, welche ihn freudig alle Obliegenheiten des bürgerlichen Lebens erfüllen lässt, ihn geeigneter zu leben und geeigneter zu sterben macht, und welche, wäre sie allgemein angenommen, der Schutz und die Stütze der menschlichen Gesellschaft sein würde! Führt uns unter den menschlichen Absurditäten eine einzige an, welche diese Wirkungen hervorbringe. Wenn diese Torheit, welche wir Euch predigen, dergleichen hervorbringt, ist es dann nicht natürlich daraus zu schließen, dass sie die Wahrheit selbst ist, und dass diese Dinge dem Menschen nicht in das Herz gekommen sind, nicht, weil sie absurd, sondern weil sie göttlich sind.

Stellt, meine teuren Brüder, eine einzige Betrachtung an. Ihr seid gezwungen einzugestehen, dass keine der Religionen, welche der Mensch erfinden kann, seinen Bedürfnissen genügt und ihn zu erretten im Stande ist. In Bezug hierauf habt Ihr eine Wahl zu treffen. Entweder Ihr verwerft sie alle, als ungenügend und trügerisch, und sucht nichts Besseres, weil der Mensch nichts Besseres zu erfinden weiß, und dann überlasst Ihr dem Zufall, der Laune des Temperaments oder der Meinung Euer moralisches Leben und Euer zukünftiges Schicksal; oder Ihr nehmt diese andere Religion an, welche Einige als Torheit behandeln: und sie wird Euch heilig und rein machen, untadelhaft inmitten einer gottlosen Generation, verbunden mit Gott durch die Liebe, mit den Menschen durch die Menschenfreundlichkeit, unermüdlich für das Gute, bereit zum Leben, bereit zum Sterben. Hierauf findet es sich, dass diese Religion falsch ist; aber einstweilen hat sie in Euch das Ebenbild Gottes, Eure ersten Beziehungen mit diesem großen Wesen wieder hergestellt, sie hat Euch in den Stand gesetzt das Leben und das Glück des Himmels zu genießen. Durch sie seid Ihr so geworden, dass es unmöglich ist, dass Euch Gott nicht am jüngsten Tage wie seine Kinder empfange; und dass er Euch nicht zu Teilnehmern seines Ruhmes mache. Ihr seid gemacht für das Paradies, das Paradies hat für Euch schon hier unten begonnen, denn Ihr liebt. Diese Religion hat also getan, was jede Religion beabsichtigt, und was keine andere verwirklicht hat. Und doch war sie falsch! Und was würde sie mehr tun, wenn sie wahr wäre? ober vielmehr seht Ihr nicht, dass dies ein glänzender Beweis ihrer Wahrheit ist? Seht Ihr nicht, dass es unmöglich ist, dass eine Religion, die zu Gott führt, nicht auch von Gott komme, und dass die Absurdität gerade darin besteht, vorauszusetzen, dass Ihr durch eine Lüge wiedergeboren werden könnt?

Nach wie vor werdet Ihr nicht alles in den Lehren des Evangeliums verstehen. Es ist dies so, weil Ihr wahrscheinlich durch Dinge errettet werden musstet, die Ihr nicht versteht. Ist dies ein Unglück? Seid Ihr deshalb weniger gerettet? Ziemt es Euch von Gott Rechenschaft über einen Rest von Dunkelheit zu fordern, der Euch nicht schadet, während für Alles, welches wesentlich für Euch ist, er Euch das Licht verschwenderisch gewährt? Die ersten Schüler Jesu, Männer ohne Bildung und ohne Kenntnisse, haben Wahrheiten angenommen, die sie nicht verstanden, und haben sie in der Welt verbreitet. Eine Menge von Weisen und von Genies haben von der Hand dieser armen Leute Wahrheiten angenommen, von denen sie nicht mehr verstanden. Die Unwissenheit der Einen und die Weisheit der Andern sind gleich gelehrig gewesen. Tut wie die Unwissenden und wie die Gelehrten. Ergreift mit Liebe diese Wahrheiten, welche niemals in Euer Herz gekommen wären, und welche Euch erretten werden. Verliert nicht in eitlen Diskussionen eine Zeit, die verfließt, und die Euch in das tröstende oder schreckliche Licht der Ewigkeit mit sich fortzieht. Beeilt Euch heilig und errettet zu werden. Liebt zunächst, ihr werdet einst erkennen. Möge der Herr Jesus Christus Euch für diese Zeit der Klarheit, der Ruhe und des Glücks vorbereiten.

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