Viebahn, Georg von - Der Brief an Philemon
Einleitung
Der Brief an Philemon ist der einzige Privatbrief von Person zu Person, der uns von Paulus aufbewahrt ist. Er ist im Jahr 63 von Rom aus geschrieben, ungefähr in derselben Zeit wie der Epheser- und der Kolosserbrief, kurz vor dem Ende der ersten Gefangenschaft des Paulus. Offenbar war Onesimus, um den es sich in diesem Brief handelt, der Überbringer.
Philemon, Verse 1-3
Paulus, ein Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, Philemon, dem Geliebten und unserem Mitarbeiter, 2 und Apphia, der Schwester, und Archippus, unserem Mitkämpfer, und der Versammlung in deinem Haus: 3 Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
Philemon hatte - wie es scheint - die Gemeinde der Gläubigen in seinem Haus aufgenommen. Zweifellos war er ein wohlangesehener und wohlhabender Christ in Kolossä, Apphia war seine gläubige Frau und Archippus war im Werke des Herrn tätig; denn wir lesen in Kol. 4,17: „ sagt Archippus: Sieh auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast, dass du ihn erfüllst. “ Wir blicken also hier in ein Christenhaus hinein, das in jenen Tagen ein Mittelpunkt des Zeugnisses für den Herrn war. Da in diesem Haus die Gläubigen sich versammelten und die Gnade Gottes für verlorene Sünder bezeugt wurde, so war es überaus wichtig, dass die häuslichen Verhältnisse zur Ehre des Herrn geordnet waren, um so mehr, als auch Philemon selbst im Werke des Herrn tätig war. Paulus nennt ihn seinen Mitarbeiter. Die Schrift erwähnt noch eine Anzahl anderer Christenhäuser aus den apostolischen Tagen, die dem Dienst des Herrn geweiht waren, z. B. das des Stephanas zu Korinth (1. Kor. 1, 16), das Haus der Lydia und das Haus des Kerkermeisters zu Philippi (Apg 16,15.32), das Haus des Kornelius zu Cäsarea (Apg 10, 1.2), des Haus des Gajus zu Korinth (Röm. 16, 23), das Haus des Aquila und der Priszilla zu Ephesus. (Apg 18,26.) „Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“ hatten alle Hausgenossen des Philemon nötig wie auch wir, um in all unserem Tun den Herrn zu verherrlichen inmitten einer bösen Welt.
Philemon, Verse 4-7
Ich danke meinem Gott, indem ich allezeit deiner erwähne in meinen Gebeten, 5 da ich höre von deiner Liebe und von dem Glauben, den du an den Herrn Jesus und die du zu allen Heiligen hast, 6 dass die Gemeinschaft deines Glaubens wirksam werde in der Anerkennung alles Guten, das in uns ist gegen Christus Jesus. 7 Denn ich hatte große Freude und großen Trost durch deine Liebe, weil die Herzen der Heiligen durch dich, Bruder, erquickt worden sind.
Paulus war ein Mann des Gebets und besonders der Fürbitte. (Vergl. Eph. 1, 16.) Auch das geht aus diesen Worten hervor, dass er fortlaufende Nachrichten empfing über den Zustand der einzelnen Gläubigen und besonders derer, die in den Versammlungen dienten. Philemon scheint die besondere Gabe besessen zu haben, die Gläubigen in Tagen der Anfechtung und der Schwierigkeiten zu erquicken und aufzurichten - vielleicht bezieht sich Vers 7 auch auf solche Heilige Gottes, die auf der Durchreise in seinem Hause Aufnahme gefunden hatten. Das zu vernehmen, brachte dem Paulus in seiner Gefangenschaft Freude und großen Trost. - Haben wir ein Herz für die Schmerzen, Nöte, Bedrängnisse der Kinder Gottes, die mit uns an demselben Orte wohnen? Sie sind es doch, auf die das Wort des Herrn Anwendung findet: „insofern ihr es einem der Geringsten dieser meiner Brüder getan habt, habt ihr es mir getan.“ (Matth. 25, 40.) Steht unser Herz und Haus denen offen, die wir als wahre Kinder Gottes erkannt habend Oder leben wir noch ein solches Leben, in dem uns die Kinder Gottes gleichgültig sind? (Lies 1. Joh. 3, 14.) Möchten die Gläubigen diese Frage nicht als gering beiseite schieben; auf diesem Gebiete liegt für manches Kind Gottes und für manches Christenhaus der Verlust großer Segnungen. Wir haben viel eingebüßt von dem Begriff der Einheit des Volkes Gottes, darum auch von dem Bewusstsein unserer Verantwortung für das Wohlergehen unserer Brüder und Schwestern. Paulus erbat für den Philemon, dass die Gemeinschaft seines Glaubens mit den anderen Gläubigen zu Kolossä wirksam werde für die Sache des Herrn.
Die Welt und die Gläubigen sollten alles Gute anerkennen, das in ihren Brüdern und Schwestern ist - gewirkt durch den Heiligen Geist - damit dem Herrn Ehre und Freude zuteil wird. Deshalb ist es wichtig, dass unser Leben für den Herrn und mit dem Herrn vor Freund und Feind, vor den Kindern Gottes und den Kindern der Welt untadelig ist,
Philemon, Verse 8-12
Deshalb, obgleich ich große Freimütigkeit in Christus habe, dir das zu gebieten, was sich geziemt, 9 so bitte ich doch vielmehr um der Liebe willen, da ich nun ein solcher bin wie Paulus, der Alte, jetzt aber auch ein Gefangener Christi Jesu. 10 Ich bitte dich für mein Kind, das ich gezeugt habe in den Fesseln, Onesimus, 11 der dir einst unnütz war, jetzt aber dir und mir nützlich ist, 12 den ich zu dir zurückgesandt habe - ihn, das ist mein Herz;
Paulus hätte volle Freimütigkeit gehabt, die Sache, wegen der er hier schreibt, mit apostolischer Machtvollkommenheit dem Philemon zu gebieten. Das hätte jedoch nicht seinem Herzensverhältnis zu diesem Bruder und nicht der Liebe des Philemon zu dem alternden Apostel entsprochen. Es war viel schöner für alle Beteiligten und viel mehr zur Ehre des Herrn, dass die Sache aus freiwilliger Liebe den Wünschen des Paulus gemäß geordnet wurde. Es handelt sich um den Sklaven Onesimus, der dem Philemon entlaufen und nach Rom gegangen war. Dorthin wandten sich viele Verbrecher aus allen Provinzen, um unter dem Gesindel der Weltstadt einen sicheren Schlupfwinkel zu finden. Ein entlaufener Sklave hatte das Leben verwirkt. Onesimus kam in Rom durch die Gnade Gottes in Berührung mit Paulus und wurde bekehrt. Paulus fasste eine große Zuneigung zu ihm, er nennt ihn „mein Herz“; man darf annehmen, dass er, seit er gerettet war, dem Herrn mit Hingebung diente, denn Paulus nennt ihn „den treuen und geliebten Bruder“. (Kol. 4, 9.) - „Onesimus“ heißt „nützlich“; darauf bezieht sich das Wortspiel in Vers 11. Es war selbstverständlich, dass Onesimus, nachdem er ein Christ geworden war, dahin zurückkehren musste, wo er entlaufen war. Das bot für ihn eine gesegnete Gelegenheit, mit der Tat zu beweisen, dass es ein Neues mit ihm geworden war! Es unterliegt keinem Zweifel, dass es die Pflicht ist, das Unrecht, das vor der Bekehrung geschehen war, zu bekennen und in Ordnung zu bringen, soweit es in der Macht eines Neubekehrten steht. Wird dieser Pflicht nicht genügt, so wird das Herz nicht zur vollen Freude und zum vollen Frieden kommen!
Philemon, Verse 13-16
den ich bei mir behalten wollte, damit er statt deiner mir diene in den Fesseln des Evangeliums. 14 Aber ohne dein Einverständnis wollte ich nichts tun, damit deine Wohltat nicht wie gezwungen, sondern freiwillig sei. 15 Denn vielleicht ist er deswegen für eine Zeit von dir getrennt gewesen, damit du ihn für immer besitzen mögest, 16 nicht länger als einen Sklaven, sondern - mehr als einen Sklaven - als einen geliebten Bruder, besonders für mich, wie viel mehr aber für dich, sowohl im Fleisch als auch im Herrn.
Paulus hätte den Onesimus gern bei sich behalten zum Dienst während seiner Gefangenschaft. Er durfte wohl sagen: Da doch Philemon mir jeden Liebesdienst erweisen würde, den er vermag, wie sollte es ihm nicht recht sein, dass mir statt dessen sein entlaufener Sklave Liebesdienste erweist D och der Apostel wollte solche Wohltat nicht erzwingen. Er achtete das tatsächlich bestehende Rechts- und Eigentumsverhältnis, das durch die Flucht des Onesimus gebrochen war und göttlich gerechter Herstellung bedurfte. Die Rechtsansprüche, die geschäftlichen Pflichten und Verpflichtungen sollten unter gläubigen Christen nicht als gering missachtet werden; im Gegenteil, sie müssen um der Ehre des Herrn und um der Liebe willen genau und pünktlich eingehalten werden. W as dann die brüderliche Liebe tut, um eine Forderung zu erlassen oder eine Verpflichtung zu ermäßigen, einen Lieferungstermin aufzuschieben, eine Zinszahlung zu stunden und dergleichen, ist eine andere Sache. In diesem Sinn handelte Paulus hier! Er sandte zunächst den entlaufenen Sklaven zurück und erinnerte nur an die große Verwandlung, die Onesimus erlebt hatte. Er war jetzt nicht nur der Sklave des Philemon, sondern ein geliebter Bruder, ein Begnadigter Gottes, dem der Herr alle Schuld vergeben hatte; wieviel mehr musste Philemon ihm vergeben und für seine Errettung danken!
Philemon, Verse 17-19
Wenn du mich nun für deinen Genossen hältst, so nimm ihn auf wie mich. 18 Wenn er dir aber irgendein Unrecht getan hat oder dir etwas schuldig ist, so rechne dies mir an. 19 Ich, Paulus, habe es mit meiner Hand geschrieben, ich will bezahlen; dass ich dir nicht sage, dass du auch dich selbst mir schuldig bist.
Paulus sendet den Onesimus gewissermaßen als seinen Stellvertreter in das Haus des Philemon zurück: „Nimm ihn auf wie mich!“ Es kommt vielleicht manchem vor, als wäre das zu weit gegangen. Sollte wirklich Philemon den Onesimus so aufnehmen wie den Paulus? Es mag sich dies nicht darauf beziehen, dass Onesimus in demselben Zimmer wohnen und in demselben Bett schlafen sollte wie Paulus, wenn er in dies Haus käme, wohl aber sollte ihm nach Paulus Wunsch auch dieselbe Liebe und Freude des Empfanges zuteil werden. Es mochte sein, dass Onesimus vor seiner Flucht etwas unterschlagen, zerbrochen oder mitgenommen hatte - Paulus erklärt sich für haftpflichtig. Jedenfalls wollte er, dass nicht irgend ein Schaden an Geld oder Gut die Willigkeit des Philemon und seines Hauses zu voller Begnadigung des Onesimus hindere. Aber Paulus kann doch nicht umhin, den Philemon daran zu erinnern, dass er sich selbst dem Paulus schuldete - woraus zu schließen ist, dass auch Philemon durch den Dienst des Paulus das ewige Leben gefunden hatte! So räumte der Apostel in zarter Liebe und großer Weisheit alles aus dem Wege, was den Philemon irgendwie hätte hindern können, seinem entlaufenen Sklaven, der nun ein Bruder im Herrn war, mit herzlicher, vergebender und bereitwillig aufnehmender Liebe entgegenzukommen. Der natürliche Mensch würde einem entlaufenen Sklaven um so mehr mit Strenge begegnen, je mehr Güte dieser genossen und je mehr Undank er offenbart hatte. Diese Empfindungen gewinnen auch im Herren eines Gläubigen leicht noch Macht; dem trug der Apostel Rechnung. Auch wir haben hier zu lernen, dass wir solche Empfindungen schonen und nicht herausfordern sollen, welche Bitterkeit, Verstimmung, Zorn im natürlichen Herren wecken müssten. Paulus lehrt uns hier, wie zart fühlend die durch den Heiligen Geist gewirkte Liebe ist, und wie sehr Brüder untereinander ihre gegenseitigen Rechte achten sollen! Eines anderen Recht soll ich respektieren, auf mein eigenes Recht aber als Christ in vielen Fällen gern verzichten um Jesu willen!
Philemon, Verse 20-25
Ja, Bruder, ich möchte Nutzen an dir haben im Herrn; erquicke mein Herz in Christus. 21 Da ich deinem Gehorsam vertraue, so habe ich dir geschrieben, und ich weiß, dass du auch mehr tun wirst, als ich sage. 22 Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge, denn ich hoffe, dass ich durch eure Gebete euch werde geschenkt werden. 23 Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, 24 Markus, Aristarchus, Demas, Lukas, meine Mitarbeiter. 25 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist! Amen.
Was Recht und Pflicht war, hatte Paulus nunmehr berücksichtigt. Jede Verpflichtung war an ihren Platz gestellt worden. Nun spricht am Schluss des Briefes ungehemmt das liebende Herz eines Vaters in Christus zu dem Bruder, dessen willigen Gehorsam er kannte. Paulus ist völlig unbesorgt: Philemon wird mehr tun, als Paulus von ihm erbittet. Die Ansage, dass Paulus selbst hofft, bald befreit zu werden und nach Kolossä zu kommen, brachte gewiss große Freude in Philemons Haus. Das Wort: „Ich hoffe, dass ich durch eure Gebete euch werde geschenkt werden“, war jedenfalls ein mächtiger Antrieb, um täglich neue Glaubensgebete zum Herrn empor zu senden, um diese bestimmte Gabe: die Befreiung des Paulus aus seiner Gefangenschaft. Nimmt man die Grüße des Epaphras, Markus, Aristarchus, Demas und Lukas zu dem Inhalt des Briefes hinzu, so empfängt man einen starken Eindruck davon, wie die Gläubigen jener Tage sich als die Familie Gottes miteinander verbunden und füreinander verantwortlich fühlten. Der göttliche Gegensatz zwischen der kleinen Schar der Kinder Gottes und den Millionen der unbekehrten Welt war noch unverwischt. Aber wie ernst klingt in diese Brüdergrüße das Wort hinein, das wenige Jahre später geschrieben wurde: „Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat!“ (2. Tim. 4, 10.) Hier steht Demas noch als Mitarbeiter des Paulus verzeichnet, und doch ist es der List des Feindes gelungen, ihn von dem gesegneten Pfade eines Dieners Jesu Christi zurückzuziehen auf den breiten Weg der Welt. Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!