Vadian, Joachim - Aus dem Vorwort der "Heilige Geographie des Neuen Testaments"
Unsere Zeit zählt nicht wenige fromme und eifrige Diener des Evangeliums, welche aus übermäßiger Verehrung der Schrift auf den Abweg gerathen, zu wähnen, es zieme den Geistlichen, welche die Heerden des Herrn weiden sollen, nicht, außer der h. Schrift irgend einen Abschnitt der Philosophie zu lesen oder zu behandeln; diese befasse sich ja mit Nichts, was zu unserem Heile diene, und es gebühre sich nicht, daß die Menschenfündlein bei jener himmlischen und von Gott geoffenbarten Philosophie angewendet werden; ein Geistlicher solle nicht spekuliren, sondern habe auf nichts sein Augenmerk zu richten als darauf, daß das Heil Vieler durch jene Lehre, welche der Apostel gesund nennt, befördert werde. Dieses Heil komme nicht von Menschengedanken noch aus der Natur, sondern allein aus jener einzigen unerschöpflichen Quelle ins ewige Leben fließenden Lebenswassers, welche als in einem weiten Behälter in den Schriften der Propheten und Apostel gefaßt sei. Diese Ansicht vertheidigten auch die von der Genügsamkeit der inneren Berufung überzeugten Wiedertäufer des Oefteren bei uns und schrieen gegen alle Sprachkenntniß und jedes Studium der Beredtsamkeit. Ihr Irrthum ist aber nicht minder verderblich, als der Jener war, welche sagten, die h. Bücher können ohne Beihülfe der Philosophie nie recht gelehrt oder verstanden werden. Ja, hätte ich zwischen beiden nur die Wahl, so möchte ich eher zu denen halten, welche den Mißbraucch menschlichen Wissens zulassen, als zu denen, welche die Wissenschaften gänzlich von der Kirche ferne halten wollen.
Quelle: Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der reformirten Kirche - Band IX