Unbekannt - Die Gabe der Kritik
Gott hat den Menschen viele Fähigkeiten gegeben, doch werden sie von uns nicht alle gleich hoch bewertet und gleich dankbar anerkannt. Manche, wie die Gabe des Gesanges, der Beredsamkeit, der guten Auffassung u.a. finden schnell allgemeine Anerkennung, bei anderen Begabungen ist das nicht der Fall. Zu den letzteren gehört auch die Gabe der Kritik. Indessen ist es eine Gottesgabe, wenn ein Mensch ein gutes Unterscheidungsvermögen besitzt, wenn er mit sehenden Augen sehen und mit hörenden Ohren wirklich hören kann. Es ist eine Gottesgabe, wenn ein Mensch Fähigkeiten und Interesse hat, eine bessere Sache von der schlechten und selbst von der guten zu unterscheiden und wenn er die Freimütigkeit besitzt, eine schlechte oder zweifelhafte Handlung als eine solche zu kennzeichnen. Ein guter, edler Kritiker kann viel und vielen nützen, kann zu rechtem Streben gute Anregungen geben. Die Erfahrung beweist denn auch, daß mancher im Leben und im Reiche Gottes nichts oder Unvollkommenes nur geleistet hätte, hätte nicht das kritisierende Wort seiner Mitmenschen ihm die Augen geöffnet. Darum, besitzest du eine sogenannte „kritische Ader“, so erkenne sie dankbar als eine brauchbare Gottesgabe an.
Allein was nicht von allen Begabungen, die ein Mensch besitzen mag, gesagt werden kann, muß von der Gabe der Kritik gesagt werden: Wende sie zuerst und vorwiegend bei dir selbst an. Dein eigenes Leben stellt einen Acker das, der vor allen anderen von dir gereinigt, bestellt und fruchtbar gemacht werden soll. Daß du ein Baum zum Preise deines Herrn werdest, ist für dich entschieden wichtiger, als daß andere Bäume neben dir Früchte tragen. Mußt du doch zuerst für dich Gott Rechenschaft geben. So hast du also nicht nur ein hohes Recht, sondern auch die heilige Pflicht, deine kritische Begabung bei dir selbst in Anwendung zu bringen. Das hat auch der Apostel Paulus gemeint, wenn er an Timotheus schrieb: „Habe acht auf dich selbst.“ (1.Tim. 4,16). Doch da begegnen wir in uns einer bedenklichen Schwäche. So gut wir anderer Fehler sehen können, so schlecht sehen wir unsere eigenen. Unser Auge leidet an Weitsichtigkeit. Wir schonen uns selbst. Wir sind in unser „Ich“ und seine Weise verliebt. Unser kleiner Benjamin „Ich“ ist uns so sehr ans Herz gewachsen, daß wir an diesem Liebling nichts Sträfliches sehen können und mögen. Unsere Ungeschicktheit, unser Benehmen, unser Urteil, unsere Reizbarkeit, unsere Torheit und Sünde wissen wir mit unserem „körperlichen Befinden“, mit „momentaner Nervenabspannung“, mit „Verhältnissen“, mit der „Witterung“ usw. so zu entschuldigen, daß für die Feile der Kritik keine Angriffsfläche bleibt. Wie töricht ist das! Wie sehr schaden wir uns damit! Wie könnten wir uns nützen, wenn wir ehrlich unser Leben mit Jesu Vorbild verglichen und schonungslos jede Abweichung sofort kennzeichneten und berichtigten! Allerdings, ein Mensch muß einen starken, geheiligten Charakter haben, um fest und wahr und hart gegen sich selbst zu sein.
Ganz bedeutend besser gelingt es uns schon, die Gabe der Kritik bei unseren lieben Nächsten in Anwendung zu bringen. Manche haben sogar eine geradezu erstaunliche Fertigkeit und Ausdauer, ihre Mitmenschen zu kritisieren. Ihnen macht es keiner jemals recht, sie finden alles falsch, unzeitig, und unzweckmäßig. Sie haben ein hohes, heiliges, unfehlbares Ideal, und das ist ihre eigene Weise, das sind ihre eigenen Gedanken, Auffassungen und Erfahrungen, alles, was dem nicht gleich ist, ist falsch und muß als falsch vor möglichst vielen Hörern gekennzeichnet werden. Sie zertreten jede Blume, die nicht blüht und duftet wie die ihre, und würden jedes Haus abbrechen, das nicht in ihrem Stil gebaut ist. Welches Werk sie auch ansehen, ihr Urteil steht fest, und siehe da, es ist sehr schlecht! Ein böser Nörgelgeist hat manche unserer Mitmenschen, hat auch manche Christen gepackt. Sie meinen, es wäre ihr hoher Beruf, alles schlecht, hohl und krumm auf dieser armen Erde zu finden, und sie müßten zur Ehre Gottes einen schwarzen Mantel auf jedes frische, grüne Gräschen decken. Unter ihren rauhen und oft rohen Händen verblutete schon manch frohes, frommes Werk, und mancher jugendlich schaffenden Hand entsank für immer das Werkzeug unter dem lähmenden Griff einer erbarmungslosen Kritik. Mancher Weinberg Gottes ist auf diese Weise zerstört worden, was die Kritik mancher Judasseele angerichtet hat, die zu einer liebevoll dienenden Maria sprach: „Wozu dient diese Vergeudung?“ Wehe dem Unglücklichen, der sich vom Satan mit solchem Richt- und Tadelgeist erfüllen läßt, sein Charakter wird befleckt werden, Ungerechtigkeit und Bosheit werden in ihm die Oberhand gewinnen, und unstet und flüchtig wird seine friedlose Seele bleiben, denn im ganzen Universum wird er keinen „Himmel“ zu finden vermögen.
Da sollten wir alle auf der Hut sein. Halte deine Gedanken und Worte in Zucht. Schärfe dein Auge lieber für Schönheiten als für Häßlichkeiten. Bedenke auch, Gottes Weinberg und seine Bedürfnisse sind größer, als deine Augen sehen können. Gott hat wie die Bäume und die Blumen auch die Menschen verschieden geschaffen und sie mit verschiedenen Gaben, Ansichten und Erfahrungen ausgestattet. Jeder Vogel singt mit seiner Stimme, und weder der piepende Sperling noch die trillernde Lerche darf erwarten, daß der Rabe ihre Weise haben soll. Bewerte die einzelne Persönlichkeit. Respektiere die Originalarbeit Gottes, der auch heute noch den einzelnen Menschen werden läßt. Nicht jeder kann fliegen wie du, er ist nicht dazu berufen, aber auch nicht jeder wohnt in einem Strohnest, Gott führte ihn andere Wege. Sind deine Mitpilger wirklich alle schwach, so gebietet dir Gottes Wort: „Du sollst der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an dir selber haben.“ (Röm. 15,1). Gehören die Menschen in deiner Umgebung alle zu den Kleinen und Geringen, so sagt der Heiland: „Seht zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet“ und: „Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meere, da es am tiefsten ist.“ (Mat. 18,6-10). Darum bedenke: Bei jeder Herde Jesu auf Erden gibt es auch Lämmer, und dann urteile mit Gerechtigkeit, Liebe und Geduld.
Gerechtigkeit, Liebe, Geduld - ja, da ist eine Lösung der Frage: Wie übe ich rechte Kritik? Sei gerecht in der Beurteilung deines Mitmenschen, nimm dir Zeit, dich in seine Lage und in seine Verhältnisse hineinzuversetzen, mute ihm nicht mehr zu, als du zu tragen bereit bist. Hüte dich, einem Bruder durch derbe Kritik Schaden zu tun. Liebe ihn von seinen Fehlern hinweg. Zeige, wohin du selbst um Jesu willen strebst, und dein Beispiel wird ihn belehren. Wo es sich um Recht und Unrecht handelt - gemessen an Gottes deutlichem Wort - da magst du unter Umständen auch scharf und bestimmt sein, wo es sich aber um Ansichten, Methoden, Erfahrungen und Lebensführungen handelt, da sei mäßig und liebevoll. Die Liebe bessert, sie tut dem Nächsten kein Arg. Wirke wie ein Gärtner, der mit linder Berührung Blümlein aufrichtet und krumme Bäumchen gerade bindet. Störe nicht ungeduldig das langsame, aber stetige Wachstum mancher Mitpilger. Sie werden im nächsten Jahr können und wissen, was ihnen heute fehlt, ihr langsamer Werdegang mag die beste Art ihrer Entwicklung sein. Übe dich darin, geduldig warten zu können. Möchten wir alle unsere Gaben von Gott heiligen lassen, und möchte auch jeder „kritisch veranlagte“ Nachfolger unseres Herrn lernen: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.“
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1907