Trenkle, Georg Hermann - Predigt über Psalm 90, 10
bei dem Trauergottesdienste
für weiland Sr. Majestät König Ludwig I. von Bayern
in der prot. Pfarrkirche zu St. Anna den 13. März 1868
Dem Gott, der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnt in einem Lichte, da Niemand zukommen kann, welchen kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann, dem sei Ehre und ewiges Reich. Amen.
Psalm 90, 10.
Es ist ein Psalm Mosis, des Knechtes Gottes, welchem die soeben verlesenen Textesworte entnommen sind. Moses hat diesen Psalm ohne Zweifel in einer Zeit gedichtet, in welcher er selbst schon nahe dem Ziele seiner Laufbahn rückwärts blickte und die Geschichte der vierzig Jahre, die er mit seinem Volke in der Wüste zugebracht hatte, sich vergegenwärtigte. Er mit noch zwei Männern war von Allen, die über zwanzig Jahre alt mit ihm aus Ägypten ausgezogen, allein übrig geblieben. Eine ganze Generation ist inzwischen zu Grabe gegangen, ein anderes Geschlecht herangewachsen. Er sieht in diesem Strome der Vergänglichkeit, der ihn umrauscht, nur Einen festen Punkt, an den er sich halten, nur Einen Felsengrund, auf den er sich stellen kann, den Herrn, seinen Gott, der, über allem Wechsel der Zeit und allen Schrecken der Vergänglichkeit erhaben, bleibt wie er ist, und dessen Jahre kein Ende nehmen. Zu ihm wendet er sich im Gebete: Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für, ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, der. du die Menschen lässt sterben und sprichst: kehret wieder Menschenkinder. Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Aber was ist dem ewigen Gott gegenüber der Mensch? Du lässt sie dahin fahren wie einen Strom, und sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blühet und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret. Doch Moses klagt hierüber nicht als über ein unverschuldetes Verhängnis; er sieht darin nur ein gerechtes Gericht Gottes, eine natürliche Folge der Sünde. Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen, denn unsere Missetat stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde in das Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn, wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Moses weiß, dass Moses weiß, dass er selbst unter diesem Gesetze der Sünde und des Todes steht; der Herrscher und Führer des Volkes teilt mit diesem das gleiche Los, er denkt an sich und wendet auf sich an, was er als eine für Alle gültige Wahrheit ausspricht: unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. An dieses Wort eines Fürsten in Israel werden wir heute aufs neue erinnert. Unser Volk und Land feiert in diesen Tagen in ernster Trauer das Andenken seines vormaligen Herrschers. König Ludwig I. von Bayern ist am 29. vorigen Monats nach kurzem Krankenlager gestorben und zu seinen Vätern gesammelt worden. Abgeschlossen liegt sein Leben vor unseren Augen. So bedeutend, so hervorragend vor andern es gewesen ist, so unterlag' es doch demselben Gesetze, dem aller Menschen Leben unterworfen ist, denn der Fürsten Los ist kein anderes als das der übrigen Menschen.
Es ist ja 1) ihres Lebens Dauer ebenso gemessen, 2) ihres Lebens Aufgabe ebenso mühevoll, 3) ihres Lebens Erfahrungen ebenso schmerzlich, 4) ihres Lebens Verantwortung ebenso groß.
1. ihres Lebens Dauer ebenso gemessen
Moses sagt: unser Leben währt siebzig Jahre und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre. Er selbst zwar überschritt dieses Ziel des menschlichen Lebens, und wo Andere aufhören zu wirken, da begann erst sein hoher Beruf; und seine Augen waren nicht dunkel geworden, seine Kraft war nicht verfallen, obschon er 120 Jahre alt geworden. Aber er zieht den Durchschnitt und setzt als äußerste Grenze des Lebens das siebzigste und achtzigste Jahr. Auch für Fürsten gibt es kein anderes Maß der Lebensdauer. König Ludwig hat es erreicht. Doch ist ihm damit nichts widerfahren, was nicht auch andern Menschenkindern widerführe.
Aber reich an großen Ereignissen ist sein Leben gewesen, an Ereignissen, die an ihm nicht als einem müßigen Zuschauer vorübergingen, an denen er vielmehr als Fürst ratend und handelnd teilzunehmen berufen war.
Schon die Wiege des Neugeborenen war von den Stürmen der französischen Revolution umtobt; als Knabe sah er den Vater den kurfürstlichen Thron Bayerns besteigen, als Jüngling dieses Land zu einem Königreiche sich erheben und dessen Grenzen sich erweitern, als Mann aus heißen Kämpfen durch die Zusammenfassung deutscher Kraft die deutsche Freiheit erstehen. Bayerns Geschicke waren durch den Lauf der Ereignisse mit denen Frankreichs verkettet. Unter dem Drucke der damaligen Verhältnisse bildete sich in dem Herzen des fürstlichen Thronerben jener deutsche Sinn aus, der ihm eigen geblieben ist, und den er auch bei jeder Gelegenheit unverhohlen an den Tag gelegt hat. Nach dem Tode des Vaters bestieg er den Thron; dreiundzwanzig Jahre hindurch hat er im Frieden regiert. Als aber das Jahr 1848 mit seinen welterschütternden Ereignissen hereinbrach, zog er es vor, die Krone niederzulegen. Er tat es, weil eine neue Zeit angebrochen sei, deren Forderungen er mit den bisher von ihm befolgten Grundsätzen nicht vereinbaren zu können glaubte. Seitdem lebte er als Privatmann, der für alles, was in der politischen Welt, auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst, wie des sozialen Lebens um ihn her vorging, ein offenes Auge und warme Teilnahme sich bewahrte, ohne einen unmittelbaren Einfluss irgendwo bemerklich und geltend zu machen. Auch das Jahr 1866 mit seinen tiefeingreifenden Veränderungen ist an ihm vorübergegangen. Es wird ihn nach verschiedenen Richtungen hin schmerzlich berührt haben; doch hat nie etwas darüber verlautet, wie er zu den dadurch angeregten Fragen sich gestellt hat. Anfangs vorigen Winters ging er nach Italien. In dem Lande, in das der begeisterte Jüngling schon gewandert, das der hochgebildete Mann zu wiederholten Malen aufgesucht, wohin der Greis mit nie alternder Liebe gepilgert, in dem jetzt französisch gewordenen, aber italienischen Nizza ist er nach kurzer Krankheit gestorben. Man darf wohl fragen, wo konnte König Ludwig anders sterben, als in dem Lande, wohin ihn eine gewisse Wahlverwandtschaft zog? Er ist dahin. Ein vielbewegtes Leben, das fast drei Menschenalter überdauert und an all' den Kämpfen teilgenommen hat, aus denen eine Neugestalt der Dinge hervorgegangen, ist geendigt. Das Los aller Menschen war auch das seinige. Keine Ausnahme gab es für ihn. Dieselbe Lebensdauer war ihm wie dem Bettler zugemessen. Denn unser Leben währt siebzig, und wenn es hochkommt, achtzig Jahre.
Aber auch insofern ist das Los der Fürsten dem aller Menschen gleich, als
2. ihres Lebens Aufgabe ebenso mühevoll,
ihres Lebens Aufgabe ebenso mühevoll ist. Moses sagt: unser Leben, wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. Man pflegt in der Regel nur das als Mühe und Arbeit anzusehen, was körperlich ermüdet und anstrengt, jede andere Art von Beschäftigung aber, namentlich solche, welche mehr die geistigen Kräfte in Anspruch nimmt, gering anzuschlagen. Indessen dürfte gerade das Gegenteil richtig, und je höher, je geistiger die Tätigkeit ist, umso größer auch die Mühe und Arbeit sein. Moses hatte keine Tagelöhnerarbeit, und doch nennt ihn die Schrift den Geplagtesten unter allen Menschen. Auch Könige haben ihre Mühe und Arbeit. Freilich scheint es oft so, als wüssten sie nichts davon, als gäbe es für sie nur Kurzweil, Freude und Genuss, als erführen sie nichts von Sorge, Kummer, Plage. Nun wohl; ums tägliche Brot brauchen Fürsten nicht im Schweiße ihres Angesichtes zu arbeiten. Aber auch sie müssen inne werden, was das heiße: unser Leben, wenn es köstlich gewesen, ist Mühe und Arbeit gewesen. Denn Kronen sind keine leichte Last und Regierungssorgen schwerer als andere.
Unser verewigter König war sich der Pflichten seines Regentenberufes bewusst und bemüht, sie mit rastlosem Eifer zu erfüllen. Ein Mann voll Geistes und Witzes, voll hoher Bildung und feinem Verständnis für alles Schöne, scharfen Blickes in die Zeit- und Weltverhältnisse und eisernen Willens, jeder Zoll ein König, wie ein großer Dichter sagt, so haben wir ihn kennen gelernt. Er war ein Herrscher in vollem Sinne des Wortes, eifersüchtig auf seine Herrscherrechte, empfindlich gegen alles, was dieselben einzuengen und zu beschränken auch nur den Anschein hatte. Aus dem Mittelalter holte er seine Ideale und suchte sie auf dem Gebiete des Staates, der Kunst, der Kirche zu verwirklichen. Man wird ihn den Romantiker auf dem Throne nennen dürfen. Er verstand es aber auch zu herrschen, allenthalben anregend und fördernd zu wirken. Im Rate der Fürsten hat seine Stimme gegolten, er hat Mittel und Wege gefunden, die äußere Wohlfahrt seines Landes zu heben, seine Hauptstadt namentlich verdankt ihm ihre jetzige Bedeutung. An der Gründung des Zollvereins, dieser Lebensbedingung der materiellen Wohlfahrt des deutschen Volkes, dieses starken Einheitsbandes seiner Stämme, hat er hervorragenden Anteil genommen. Was er für die Kunst getan, welch' großartige Schöpfungen er hervorgerufen, welche Talente er geweckt und gehoben, wie viel er dadurch zur Veredelung des Geschmackes und des Sinnes für das Schöne, zur Hebung des Gewerbes und der Industrie beigetragen, das ist allgemein bekannt und hat seinen Namen auch über die engeren Grenzen unseres Vaterlandes hinausgetragen.
König Ludwig war ein treuer Sohn seiner Kirche. Für sie hat er mit fürstlicher Freigebigkeit gesorgt, ihr hat sich seines Zepters Spitze mit besonderer Gunst zugeneigt. Hat dieser sich auch zu Zeiten an der unsrigen als Stab „Wehe“ fühlbar gemacht, so sei dessen heute nicht mehr gedacht, obschon es gestattet sein muss, auch in eines Fürsten Leben einen Schatten einzuzeichnen, soll dessen Bild ein wahres sein. Wir wollen es vielmehr rühmen und dankbar erkennen, dass er für das Regiment unserer Kirche Männer bestellt hat, welche auf dem Boden des Glaubens stehend und hervorragend durch Bildung ihr ungleich mehr genügt, als einzelne Maßnahmen seiner Regierung ihr geschadet haben. Unermüdlich war er im Wohltun; die Armen im ganzen Lande hin und her verlieren an ihm einen Freund. So sparsam an sich, so freigebig war er, wo es galt zu helfen und Unglück zu mindern.
Man kann dem verewigten König nicht nachsagen, dass er es sich im Leben bequem gemacht hat. Bis in das höchste Alter, bis in die letzten Tage seines Lebens sahen wir ihn rüstig, strebsam, tätig. Sein Leben, ob es auch köstlich gewesen, ist doch wie das aller Menschen Mühe und Arbeit gewesen.
Fürsten haben dasselbe Los wie alle Menschen; denn
3 ihres Lebens Erfahrungen ebenso schmerzlich
ihres Lebens Erfahrungen sind ebenso schmerzlich. Moses sagt von unserem Leben: wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. Nicht aller Menschen Leben ist köstlich; es ist vielmehr ein elend jämmerlich Ding, von Mutterleibe bis dass sie wieder zur Erde werden. Der Fürsten Leben freilich dünkt uns köstlich zu sein, denn es fehlt ihnen meist nicht an dem, was dasselbe erheitert und angenehm macht. Aber werden sie ihnen erspart die Leiden, Schmerzen, Tränen dieser Zeit, die herben Geschicke und die ernsten Heimsuchungen Gottes?
Auch unser König ist nicht davon verschont geblieben.
Oder sind sie verwirklicht worden die Plane, die der Jüngling für das Wohl des deutschen Vaterlandes gehegt? sind sie hinausgegangen die hochherzigen Gedanken, die er für Befreiung eines unglücklichen Volkes aus langjährigem Drucke gefasst? Sind sie erfüllt worden, die kühnen Hoffnungen, einen Spross des alten Wittelsbacher Stammes auf dem klassischen Boden von Hellas aufblühen zu sehen? Hat er überall Dank geerntet, wo er solchen zu empfangen berechtigt war? Ist er nie durch Menschen getäuscht und missbraucht worden? Hat er nichts von dem erfahren, was König Salomo in seinem Prediger sagt: Da ich ansah alle meine Werke, die meine Hand getan hatte und Mühe, die ich gehabt hatte, siehe da war alles eitel und Jammer und nichts mehr unter der Sonne? Ist es ihm nicht oft recht nahe getreten, was der Prophet spricht: alles Fleisch ist heu und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde? Hat er nicht manchen Gliedern seines Hauses in das Grab nachblicken müssen: der treuen, ihm ergebenen Gemahlin, dem Erben seiner Thrones, dem unvergesslichen Könige Mar, dem edlen Könige Otto, bald nachdem er von seinem Volke treulos verlassen in die Stille des Privatlebens zurückgekehrt war, erlauchten Töchtern und so Manchen, die dem königlichen Hause verwandt und zugetan waren? Ein glückliches Alter war ihm wohl beschieden, es wurde ihm erfüllt das Wort: ich will euch tragen bis in das Alter und bis ihr grau werdet, ich will es tun, ich will heben, tragen und erretten. Aber hat er mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die letzten, schweren Stunden der Zeit, die letzten Schmerzen, unter denen die Hütte seines Leibes brach, abzuwenden vermocht?
Fürsten sind Menschen, vom Weib geboren,
Und kehren um zu ihrem Staub;
Ihre Anschläg' sind auch verloren,
Wenn nun das Grab nimmt seinen Raub.1)
Gleich ist ihr Los dem aller Menschen, denn es ist
4. ihres Lebens Verantwortung ebenso groß
ihres Lebens Verantwortung ebenso groß. Moses sagt am Schlusse unseres Textes von unserem Leben: es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Ja schnell! Sehen wir auf die Strecke von 70 und 80 Jahren hinaus, so dünkt sie uns unermesslich lang, sehen wir zurück, so scheint sie uns wie ein Schritt zwischen uns und dem Grabe zu sein. Die Schrift sagt, es gleiche der Menschen Leben dem Grase, das am Morgen blühet, am Abend aber abgehauen wird und verdorret, dem Schatten, welcher fleucht und nicht bleibt, dem Dampfe, der eine kleine Zeit währt, danach aber verschwindet. Aber es hat noch eine andere Seite. Es verwelkt nicht wie das Gras des Feldes, um danach in den Ofen geworfen zu werden, es flieht nicht wie der Schatten, um nimmer wiederzukehren; es verschwindet nicht wie der Dampf, um sich ins Nichts aufzulösen; es ist vielmehr der Sonne ähnlich, die am Abend an einem Ende des Himmels untergeht, um am Morgen an dem anderen Ende wieder aufzugehen. Der Menschen Leben hat eine Zukunft, eine Ewigkeit vor sich, und in der Ewigkeit einen Richter, eine Verantwortung. Auch Könige haben keinen andern Weg, als den aus der Zeit in die Ewigkeit und vor den ewigen Richter. Auf Erden gibt es für sie keinen Richterstuhl, der sie zur Verantwortung ziehen könnte. Aber vor dem Richterstuhle Christi müssen sie mit Allen ihres Geschlechtes offenbar werden, um Rechenschaft zu geben darüber, wie sie gehandelt haben bei Leibes Leben, es sei gut oder böse. Vor diesem Richter gilt kein Ansehen der Person. Da ist keine andere Waage und kein anderes Maß und Gewicht für die Großen und die Gewaltigen als für die Kleinen und Ohnmächtigen. Da werden sich gar vielfach die irdischen Verhältnisse umkehren, und die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten werden, denn welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, und welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern. So ist auch nur Ein Weg Allen vorgezeichnet, auf dem sie dem künftigen Gericht entrinnen und vor dem Richter bestehen können: es ist der Weg des Glaubens an Den, der gekommen ist, die Sünder selig zu machen, und nur Ein Mittel, das sie rettet und selig macht: die Gnade, die im Evangelium von Christo uns offenbart und dargeboten wird. Diese Gnade schenke der barmherzige Gott auch unserem entschlafenen Könige und helfe ihm vom Tode zum ewigen Leben. Amen.