Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 30
Von der Anrufung der göttlichen Hülfe und dem Vertrauen, die Gnade wieder zu erlangen.
1. Sohn, ich bin der Herr, der dich stärkt am Tage der Trübsal.
Komm zu mir, wenn dir bange ist!
Das ist es, was am meisten den himmlischen Trost verhindert, daß du dich erst spät zum Gebet entschließest.
Denn ehe du mich ernstlich anrufest, suchest du vielerlei Trost und meinst in äußeren Dingen Erquickung zu finden.
Und so geschieht es, daß Alles wenig nützt, bis du erkennest, daß ich es bin, der da errettet, die auf mich hoffen und daß außer mir keine kräftige Hülfe, kein guter Rath und kein wirksames Heilmittel ist.
Aber nun, da der Geist nach dem Wetter wieder gesammelt ist, erhole dich im Lichte meiner Erbarmungen; denn ich bin nahe, spricht der Herr, daß ich Alles ersetze, nicht allein vollständig, sondern auch in überfließender Fülle.
2. Ist mir wohl irgend etwas zu schwer? oder werde ich sein wie Einer, der verspricht, aber sein Wort nicht hält?
Wo ist dein Glaube? Steh fest und beharrlich.
Verliere den Muth nicht und sei ein tapferer Mann; und es wird dir Trost kommen zu seiner Zeit.
Harre auf mich, harre; ich werde kommen und dich heilen.
Versuchung ist’s, was dich plagt; und eitle Furcht, was dich erschreckt.
Was fruchtet die Sorge um das, was künftig einmal geschehen kann, anders, als daß du Traurigkeit über Traurigkeit hast? „Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ (Mth. 6,31.)
Es ist eitel und unnütz, sich über zukünftige Dinge ängstigen oder freuen, die vielleicht niemals wirklich geschehen.
3. Aber es widerfährt dem Menschen gar leicht, daß er sich von solchen Einbildungen täuschen läßt und es verräth noch ein schwaches Gemüth, daß man zu den Eingebunden des bösen Feindes so leicht hingezogen wird.
Denn diesem gilt es gleich, ob er mit wahren oder falschen Vorstellungen täusche und betrüge; ob er durch Liebe zum Gegenwärtigen oder durch Furcht vor dem Zukünftigen zum Fall bringe.
„Dein Herz also erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Joh. 14,27.)
Glaube an mich und habe Vertrauen auf meine Barmherzigkeit.
Wenn du meinst, du seiest fern von mir, bin ich oft um so näher.
Wenn du fast Alles für verloren hältst, dann ist oft die Zeit, großen Lohn zu verdienen.
Es ist nicht Alles verloren, wenn etwas in’s Gegentheil umschlägt. – Du darfst nicht nach der gegenwärtigen Empfindung urtheilen, noch einer Beschwerniß woher sie auch kommen mag, so nachhängen und sie so aufnehmen, als sei alle Hoffnung, wieder herauszukommen, dahin.
4. Wähne dich nicht für gänzlich verlassen, ob ich dir gleich eine Zeitlang Trübsale schicke oder auch den gewünschten Trost dir entziehe; denn das ist der Weg zum Himmelreich.
Und das nützet dir und allen meinen Knechten ohne Zweifel mehr, daß ihr durch Widerwärtigkeiten geprüft werdet, als wenn ihr Alles nach Wunsch hättet.
Ich kenne die verborgenen Gedanken, und darum weiß ich, wie es für dein Heil sehr förderlich ist, daß du zuweilen schmachtest; damit du dich des glücklichen Fortganges nicht überhebest und dir selbst gefallest in dem, was du nicht bist.
Was ich gegeben, kann ich nehmen, und wieder geben, wenn es mir gefällt.
5. Wenn ich’s gebe, so ist es mein; wenn ich’s nehme, so habe ich nicht das Deine genommen; „denn von mir kommt alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe.“ (Jac. 1,17.)
Schicke ich Trübsal oder irgend eine Widerwärtigkeit über dich; so werde nicht unwillig, noch verzage dein Herz; denn ich kann schnell helfen und alle Last in Freude verwandeln.
Dennoch bin ich gerecht und hoch zu preisen, wenn ich so mit dir verfahre.
6. Wenn du es recht verstehest und Alles im Lichte der Wahrheit betrachtest, so darfst du niemals einer Widerwärtigkeit halber so verzagt trauern, sondern mußt dich vielmehr freuen und Dank sagen: ja, du sollst sogar darüber auf das Höchste erfreut sein, daß ich dich nicht mit Leiden verschone.
„Gleichwie mich mein Vater liebet, also liebe ich euch auch“, (Joh. 15,9.), sprach ich zu meinen geliebten Jüngern, die ich nicht ausgesendet zu zeitlichen Freuden, sondern zu harten Kämpfen; nicht zu Ehren, sondern zu Schmach; nicht zur Unthäthigkeit, sondern zur Arbeit; nicht zur Ruhe, sondern um viel Frucht in Geduld zu bringen.
Dieser Worte sei eingedenk, mein Sohn!