Tholuck, August - Vaterunser - Die vierte und fünfte Bitte.

Tholuck, August - Vaterunser - Die vierte und fünfte Bitte.

Wir hatten uns betend in die Tiefen der Gottheit versenkt; wir hatten, Ihn in seinem fleckenlosen Lichte anschauend, gefleht, daß dieses Licht herniederfließen möchte auf unsere dunkle Erde, damit wir ihn heiligten, damit wir ihm gehorchten, damit die Gebote seines Willens unsere Freude würden. Wir hatten zum Himmel aufgeblickt, und was dort uns entzückt, war zum Gebet geworden; es soll heut zum Gebet werden, was hier auf Erden uns drückt. Zur Erde wendet sich nunmehr unser Blick. Wir schauen auf die Nothdurft des irdischen Lebens, auf die Schuld, die hinter uns liegt, auf die Versuchung, die um uns ist, auf das Uebel, das vor uns liegt, und in der Sehnsucht unseres Herzens beten wir, wie geschrieben steht: „Unser tägliches Brot gieb uns heute! Vergieb uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben! Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel!

Aus der Tiefe steigen diese Bitten in die Höhe, bis sie wieder in der höchsten Höhe, in dem Reich und der Macht und der Herrlichkeit des Himmels verklingen. - Wir bitten um die tägliche Nothdurft. Nur Eine Bitte ist es, welche sie angeht, aber auch diese Eine Bitte haben Einige in eine geistige Bitte verwandeln wollen, und haben gemeint, daß hier von jenem geistlichen Brote die Rede sei, von welchem der Heiland sagt, daß es „vom Himmel kommt, und der Welt das Leben giebt,“ von jenem innern Manna, mit dem die Seele alle Tage im verborgenen Umgange mit Gott gespeiset werden muß, wenn sie wachsen soll. Wäre indessen dieses der Sinn der Worte: würde nicht vielmehr der Herr eben ausdrücklich von dem geistlichen oder himmlischen Brote geredet haben, während das tägliche Brot uns nur an das unumgängliche Nothwendige denken läßt, dessen wir an jeglichem Tage bedürfen? Und hat würklich der Herr mit den wenigen Worten dieses Gebetes den Umfang aller unserer Noth und Sehnsucht umspannen wollen, sollte denn die irdische Noth des Lebens gänzlich vergessen seyn? Allerdings giebt es nun auch Christen, welche vor den Thron der ewigen Majestät nicht zu treten wagen, wofern sie nicht Ewiges auszuschütten haben, für welche beten nichts anders heißt, als aufathmen in Gott, und die darum auch keine andere Freude und keine andere Sorge, als die um göttliche Dinge an das Herz des Ewigen legen wollen. Ja, es könnte scheinen, als ob auch der Herr selbst jedes Gebet anderer Art ausgeschlossen habe, wenn wir bald darauf lesen: „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was werden wir essen? was werden wir trinken? womit werden wir uns kleiden? Nach solchem Allen trachten die Heiden. Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches Alles zufallen!“ Aber Geliebte, wie sehr auch auf den ersten Augenblick es scheinen möge, als sei auch das Gebet um das tägliche Brod verwehrt: ist denn sorgen und beten einerlei? Heißt nicht vielmehr beten: abwerfen alle Sorge von unserm eigenen Herzen auf das Herz deß, der uns gemacht hat? Warum steht geschrieben: „Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch“? Da ist nicht bloß die Rede von dieser Art der Sorge oder von jener, nein, alle deine Sorge magst du auf deinen Herrn werfen, Er will sorgen. Und wer, der diesen Glauben hat, hätte nicht erfahren, wie das Herz ledig geworden ist aller Sorge nach einem herzlichen Gebete? Auch von einer andern Seite aus die Sache angesehen könnt ihr das erkennen, daß jenes nicht-sorgen-Sollen für das irdische Gut noch nicht das Beten darum verbietet. Was der Mensch ausschließen muß aus seinen Gebeten, kann das etwas Heiliges seyn? Hieße es also nicht die Natur mit aller ihrer Gabe verdammen, wenn du sie ausschließen müßtest aus deinen Gebeten? Mußt du das ganze irdische Leben mit allen seinen Wohlthaten von deinen Gebeten ausschließen, gleich als wäre es etwas Unreines vor Gottes heiligem Auge, wie kannst du dich noch in Unschuld dessen freuen? Nein, Geliebte Gottes, das gerade ist auch eine von den herrlichen Seiten dieses unseres Glaubens, daß für den Gläubigen auch die ganze irdische Welt mit ihren Wohlthaten und Gütern durch seinen Glauben geweiht ist, wie es schon in dem Ausspruche angedeutet ist, daß „der Himmel Gottes Thron ist, und die Erde der Schemel seiner Füße,“ d. h. daß der Himmel, wie die Erde zu ihm in Beziehung steht. Die Schrift sagt: „Himmel und Erde sind seiner Ehre voll.“ Alle Gaben, welche die Erde sprossen läßt, sind sie nicht eben so viele Zeugnisse, daß ein Gott ist, der um die Menschen sich bekümmert, ja selbst um die unvernünftige Kreatur? Wie so tief menschlich sagt daher der Psalmist, daß es in jedem Herzen wiederklingt: „Der den Himmel mit Wolken bedeckt, und giebt Regen auf Erden, der Gras auf den Bergen wachsen läßt, der dem Vieh sein Futter giebt, den jungen Raben, die ihn anrufen!“ Wollten wir nun um irdische Gaben nicht bitten, und für sie nicht danken, wäre es nicht, als ob vom Vater des Lichts allein die geistlichen Gaben herniederkämen, die leiblichen aber von selbst uns zufielen, und mit der eigenen Hände Kraft erarbeitet würden? Dagegen, wenn wir alle Tage auch um das leibliche Brot als um eine Gabe seiner Hand bitten, und ihm dafür Dank sagen als für eine Gabe seiner Hand: bekommt nicht das irdische Gut dadurch erst seine rechte Weihe? - wie der Apostel sagt: „Alle Kreatur Gottes ist gut, und nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird!“ Wollt ihr sie euch anschaulich machen, diese Weihe, welche erst das Gebet über Gottes irdische Gaben austheilt: denkt euch den Hausvater, der in Schweiß und Mühe mit den Seinigen den Tag über gearbeitet, wie sie nun um das bescheidene Mahl sich herumstellen, indem vorher zum Himmel das Auge sich hebt mit dem Bekenntniß, daß der Schweiß und die Mühe es wahrlich nicht allein gethan haben. - Ja, Freunde, das Gebet ist eine Weihe für das irdische Gut, und gerade indem man dafür betet, wird man sich erst recht bewußt, wozu man es brauchen und anwenden soll, daß es wahrlich nicht blos dazu dient, dem Gaumen eine Lust zu machen, daß man es vielmehr sammt dem zeitlichen Leben nur begehrt, weil der Tempel, den wir dem Herrn in unserm Herzen erbauen wollen, doch eine Grundlage haben muß. Zum Zeichen, daß das Herz sich nicht daran hängt, bitten wir ja ausdrücklich um nicht mehr als um das tägliche Brot. Schätze sammeln wollen wir nicht, wollen auch nicht sorgen für den andern Tag, wie das der Heiland verboten hat; nur für den heutigen Tag bitten wir, womit wir denn auch aussprechen, daß wir alle Tage mit unserm Gebete wiederkommen wollen, und daß die Noth jedes einzelnen Tages ihr eigenes Vaterunser haben soll.

So legt diese Bitte zuerst auf der Erde den Grund, den untersten Grund zu jenem in den Himmel und in die Ewigkeit hineinragenden Gottestempel, den der Glaube und die Liebe Christi baut, und nachdem dieser Grund gelegt ist, schwingt das Gebet sich höher hinauf. Wohl drückt die Noth des vergänglichen Lebens oft hart. Ach, es ist herzzerreißend, einen Menschen nach Brot weinen zu sehen; aber, o daß sie Alle, die das irdische Brot haben, und die danach schreien, noch eine andere Angst und Noth kennten, die der Mensch mit viel lauterem Geschrei vor den Vater des Lebens bringen soll: es ist die Seelennoth. O hat dies Wort für euch Wahrheit, Seelennoth? Es ist ein veraltetes Wort. Einst war es auf Vieler Lippen, weil die Sache in Vieler Herzen war. Ist es euch fremd geworden, o lernt das Wort wieder sammt der Sache zugleich, indem ihr das Vaterunser betet. Wie versetzt es uns in das Bewußtseyn unserer Noth: hinter mir die Schuld, um mich und vor mir die Versuchung und das Uebel! O seht, wie der, welcher von keiner Sünde wußte, und in dessen Munde kein Betrug erfunden wurde, seht, wie er sich in unseres Lebens Elend hineinversetzt hat, wie er aus unserm Herzen gebetet hat als ein barmherziger Hoherpriester und Stellvertreter.

„Vergieb uns unsere Schuld!“ Wir sahen, daß das Gebet selbst darauf hinweist, daß seine Bitten nicht bloß dann und wann einmal erschallen sollen, wenn etwa gerade einmal die Seele den Schlaf von den Augen schüttelt; wenigstens täglich sollen sie erschallen, denn nur für den heutigen Tag war des Lebens Nothdurft erbeten. So soll denn auch in jedem Christenherzen eine fortgehende und tägliche Sehnsucht wohnen, welcher der Seufzer entquillt: Vergieb mir meine Schuld! Menschenkind, und wenn du diesen Augenblick dein Herz in der Gnade Jesu gebadet hättest, wie in einem großen Meer, und es wäre wieder weiß geworden wie der Schnee - die Stunde rollt, und wie in der Sanduhr das Sandkorn fällt, so fällt Augenblick um Augenblick Befleckung wieder auf das Herz, und es wird auf das Buch deines Lebens wieder niedergezeichnet: Schuldig, schuldig! Seid ihr euch dessen bewußt? O wären wir lebendig uns dessen bewußt, wie müßte die Bitte fortwährend zum Himmel aufsteigen: Vergieb uns unsere Schuld! Wie müßte sie wenigstens, wenn alle andern Stimmen um uns her am Abend still werden, erschallen und zum Himmel schreien, bis das Herz wieder Frieden gefunden hätte vor Gott! Wenn nach des Tages Hitze der kühlende Strom sich um unsere Glieder legt, so thut es uns wohl - o wie viel wohler thut jenes geistige Bad der von der Angst der Schuld gepreßten Seele, wenn sie sich rein waschen kann in dem Gnadenmeere, das von Jesu Christo ausgeht. Da ruft einer wohl auch aus:

Meiner Seel' ist nirgend wohl,
Als wenn ich im Meere bade,
Das von unverdienter Gnade
Und von Gottes Liebe voll.
Gehet ihr den Fluren nach,
Wo viel bunte Blumen sprießen,
Und wo große Ströme fließen.
Angeschwellt von manchem Bach.
Mein Geist hat nur seine Lust
An des Meers endloser Weite:
Wo die Tiefe wie die Weite,
Da nur athmet frei die Brust!

Ladet doch die abendliche Stille so ganz natürlicherweise zu einem Vaterunser ein. Wenn nach des Tages Arbeit und Zerstreuung der Abend seine Schatten über uns legt, o wen mahnt dies nicht an den Abschluß, den wir zu halten haben, wenn am Ende des Lebenstages der Tod mit seinen Schatten uns umziehen wird! Christen, haltet an jedem Abend einen Abschluß mit Gott, wie ihr dann ihn gehalten zu haben wünschen werdet. - Und wie so leicht es uns in unserm evangelisch-biblischen Glauben gemacht ist, zu jener Herzensruhe wieder zu gelangen, welche das Wort Schuld verjagt hat! Buße muß da seyn, tiefe, innige Buße; dann aber - Ein Vaterunser im Glauben an den gebetet, der unser Fürsprecher bei Gott ist, und die Versöhnung unserer Sünde, und die Ruhe ist im Herzen wieder da, wenngleich mit tiefer und ernster Beschämung, aus welcher die Früchte der Buße hervorgehen. O erinnert euch der Zeiten, wo es dem geängsteten Sünder schwerer wurde; erinnert euch der Zeiten des Heidenthums, wo nicht blos die Heerden ihrer Felder, sondern die Kinder ihres Herzens auf den Altären bluten mußten, um dem Herzen die Ruhe wiederzugeben. Ihre Seelennoth war so groß, daß sie sie bluten ließen, und eure Seelennoth ist so Nein, daß ihr nicht einmal ein bußfertiges Vaterunser betet! O gleichgültige Christen, die Hekatomben der Heiden werden euch richten! erinnert euch jener Zeiten, die minder fern hinter uns liegen, wo Tausende, Mann und Weib, durch die Länder Europas zogen, über den entblößten Leib die Geißel schwingend, während in halber Verzweiflung der Mund rief: Vergieß uns unsere Schuld! Und mit Rührung gedenke ich jener frühen Morgenstunden während meines Aufenthaltes in der Hauptstadt der katholischen Welt, wo die Stimmen der Schaaren von den Straßen heraufschallten, welche mit entblößtem Fuß, das Kreuz in der Hand, daherziehend, mit jammernder Stimme zum Himmel schrieen: Vergieb uns unsere Schuld! - Mag immerhin bei gar manchen von ihnen nur die Lippe gerufen haben und nicht das Herz; bei Manchen hat doch auch gewiß das Herz gerufen. Darum denke ich mit Rührung daran zurück, mit der Rührung der Beschämung, mit der Rührung der Dankbarkeit - mit der Rührung der Beschämung: denn wenn auch nicht mit gleicher äußerer Gebärde, doch mit der Gesinnung, von der sie das Zeichen ist, sollte auch unter uns das: Vergieb uns unsere Schuld! allenthalben zum Himmel dringen; mit der Rührung der Dankbarkeit: dieweil wir wissen, in wessen Namen alle unsere Gebete, und also auch diese Bitte beim Vater Erhörung findet, so daß unsre Thränen milder fließen können.

Ja, es liegt viel in diesem Einen Worte: Vergieb uns unsere Schuld! und vielleicht, daß wir Alle es erst recht inne werden, wenn wir erwägen, was der Heiland dazu setzt: „wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Wißt ihr, warum der Heiland diesen Zusatz gemacht hat? Darum, daß kein Mensch gedankenlos bete das schwere Wort: Vergieb uns unsere Schuld! Damit wir es inne werden, was an diesem Einen Worte hängt, darum verlangt der Heiland, daß wir, so oft wir diese Bitte sprechen, dabei uns selber prüfen, ob jeder Flecken von Zorn, Rachsucht und Feindschaft gegen Alle, die auf Erden wohnen, aus unserm Herzen hinweggewischt ist. Wenn das nicht würklich der Fall ist, sagt mir: ist dann nicht unser Gebet eine Verspottung Gottes? Wie mögen wir von Gott im Himmel erstehen, was wir unser n Brüdern auf Erden verweigern? Ja, damit wir gewiß seien, daß es lauterer und heiliger Ernst mit jenem Zusatze sei, fügt der Herr noch ausdrücklich in einem der folgenden Verse hinzu: „Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben!“ - So ernst ist es also damit gemeint! So kann denn also diese Bitte statt Segen Fluch über dein Haupt herabrufen! Hilf Himmel, wer kann diese Bitte mit ruhigem Gewissen beten? Der Christ, welcher ein Rebe an Christo ist, kann es. Bedenken wir nämlich, wie es dem natürlichen Menschen so überaus schwer ist, in voller Liebe zu Allem zu stehen, was Mensch heisst, so erkennen wir in diesem Zusatze des Herrn abermals ein Kennzeichen, daß im vollen Sinne nur von seinen Jüngern das Gebet gebetet werden kann. Diese Bitte setzt nämlich schon voraus, daß das Herz des Betenden ein lauterer Spiegel sei, und daß er, wie Paulus sagt, „heilige Hände aufhebt sonder Furcht und Zweifel.“ Wie wir bei Lukas die Worte des Gebetes lesen, so heißt es: „denn auch wir vergeben denen, die uns schuldig sind“, und dasselbige ist auch hier der Sinn bei Matthäus. Es wird also vorausgesetzt, daß die völlige Vergebung schon im Herzen wohne. Ein Christ nämlich ist ein solcher Mensch, der ohne Heuchelei in Wahrheit sagen kann: ich habe keinen Feind auf Erden, ich wünsche Jedem ohne Unterschied aus ganzer Seele Gnade und Leben. Damit ist nun zwar nicht ausgeschlossen, daß man im heiligen Zorn gegen die Frevler entbrenne; aber eben weil es ein heiliger Zorn ist, so bleibt dabei, wie das eine frühere Betrachtung uns gelehrt hat, im innersten Herzensgrunde die Liebe wohnen. Wollt ihr nun wissen,, wie solcher himmlische Sinn in ein Menschenherz einziehet? Dadurch ziehet er ein, daß, „da wir noch ferne von ihm waren, unser gnädiger Gott uns nahegekommen ist in seinem Sohne“; daß, „da wir ihn nicht zuerst geliebt haben, er uns zuerst geliebt hat, und alle unsere Sünden uns vergeben in Christo, und geheilet alle unsere Gebrechen.“ Auf diese Barmherzigkeit gründet der Apostel seine Ermahnung, wenn er Ephes. 4, 32. sagt: „Seid aber unter einander freundlich, herzlich, und vergebet einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christo.“ Ja, nur ein Mensch, der da weiß, daß ohne Verdienst und Würden ihm Barmherzigkeit widerfahren ist, kann diese Bitte des Vaterunsers in Wahrheit bitten, wie dieses auch der Herr in jenem schönen Gleichnisse im 18ten Kap. Matthäi lehrt: „Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und Alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder, und betete ihn an, und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen! da jammerte den Herrn desselbigen Knechts, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging derselbige Knecht hinaus, und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an, und würgte ihn, und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder, und bat ihn, und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen! Er wollte aber nicht, sondern ging hin, und warf ihn ins Gefängniß, bis daß er bezahlete, was er schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt, und kamen, und brachten vor ihren Herrn Alles, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich, und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe? Und sein Herr ward zornig, und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlete Alles, was er ihm schuldig war. Also wird euch mein himmlischer Vater auch thun, so ihr nicht vergebet von euren Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.“ Hundert Groschen, das sind zwölf Thaler - das ist die Schuld unseres Mitknechts an uns; und unsere an Gott? - Zehntausend Pfund, das sind vierzehn Millionen Thaler, und wir, denen vergeben ist, sollten nicht vergeben? O Christen, wenn das euch einfällt in dem Augenblicke, wo ein Zorn über den Beleidiger aufwallt, wenn das euch einfällt in euren Gesellschaftskreisen, während die Zungen wie Schwerter die Ehre und den Namen eurer Mitbrüder durchbohren - zehntausend Pfund sind mir erlassen, und ich? - Wir nehmen es zu leicht mit dem Vergeben, wir bereden uns, wir hätten aller Welt vergeben; aber woher dann noch der Leumund, woher die Afterrede, woher die Leidenschaft und der Spott, der fast alle geselligen Kreise befleckt? Sind das die Früchte eines mit Gott und der Welt versöhnten Herzens? -

Doch nicht vermögen wir heut, unsere Betrachtung weiter zu verfolgen. Lasset uns anbetend staunen, welche Geheimnisse der Gottseligkeit sich uns in jenen wenigen, schlichten Worten erschlossen haben.

Vater unsers Herrn Jesu Christi, wir wollen im Geist und in der Wahrheit das Gebet beten, das du uns gelehrt hast. Auch das irdische Gut, so gering es sei, von deiner Hand wollen wir es uns schenken lassen, und dir wollen wir Preis dafür darbringen. O auch die kleinste Gabe, wie sie so groß wird, wenn man sie als ein Unterpfand deiner unverdienten Güte ansehen darf! Vater unsers Herrn Jesu Christi, im Glauben an den, der zu uns gesagt hat: „So ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er es euch geben,“ treten wir vor dich, und bitten: „Vergieb uns unsere Schuld!“ Du blickst in unser Herz, wie in ein aufgeschlagenes Buch! Seitdem dein Sohn, da wir noch Feinde waren, für uns gestorben ist, und uns mit dir versöhnet hat, haben wir keine Feinde mehr auf Erden, und können denn auch getrost beten: „Vergieb uns unsere Schuld!“ Schenke deinen Geist, damit je mehr und mehr solche hinzugethan werden, die im Geist und in der Wahrheit dein Vaterunser beten können!

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