Tholuck, August - Vaterunser - Allgemeine Betrachtungen über dasselbe.
Wir haben in unserer letzten Andacht von dem gesprochen, was unserer gottesdienstlichen Gemeinschaft und unserer kirchlichen Verbindung Noth thut; wir haben gesehen, daß viel Schein unter uns ist ohne Seyn, viel Form ohne lebendigen Geist. Auch solche todte Formen müßt ihr indessen nicht verachten, so lange nur die Hoffnung da ist, daß noch einmal ein Auferstehungstag komme, wo die Seele wieder einzieht. O laßt es euch allen gesagt seyn, ihr zukünftigen Diener der Kirche, ihr Lehrer der Jugend, ihr Familienväter: zerschlaget heilige Formen, welche dem Tode anheimzufallen ansangen, nicht zu früh, sondern betet vielmehr um den Geist über sie. So ist es mir denn auch allezeit als eine der schönsten Aufgaben für den Prediger in den Gemeinden erschienen, das, was wir in unsern gottesdienstlichen Gebräuchen und in unserm Familienleben noch von alten heiligen Formen besitzen, auch dadurch wieder zu beleben, daß von ihrer Bedeutung gepredigt wird. Die Ausübung unserer Sacramente, der Taufe und des heiligen Abendmahls, und Alles, was sie begleitet, die Taufzeugen, das Taufgelübde, die Beichte, die Absolution - für wie unzählig viele unter uns sind das bloß unverstandene Gebräuche geworden, die man mitmacht, weil man sie von den Vätern geerbt hat! O ihr zukünftigen Diener der Kirche, daß ihr keine dieser Formen zerschlaget; aber daß ihr in heiliger und geweihter Rede aufs Neue beginnen möget, der Gemeinde das Wesen von dem zu zeigen, wovon sie nur noch die Zeichen hat, und Klang und Seele einzuhauchen dem Schalle, dem das Leben ausgegangen ist. Das gilt von den heiligen Handlungen der Kirche. Aber gilt es nicht ebenso sehr von jenen heiligen Worten, welche in unsern gottesdienstlichen Versammlungen allsonntäglich sich wiederholen? O wenn es nicht blos Form, wenn es Geist und Leben wäre in euch und in dem Prediger, was wir im liturgischen Theile unseres Gottesdienstes beten und bekennen von dem ersten Satze an: „Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ bis zu dem letzten Amen; wenn es nicht blos Form, sondern Geist wäre, wenn der apostolische Gruß an euch Alle von dem Predigtstuhle herabschallt: „Die Gnade Gottes des Vaters, die Liebe Gottes des Sohnes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“; wenn es nicht blos Form, sondern Geist wäre, wenn der Prediger euch zuruft: „Und was wir alle noch auf dem Herzen tragen, das laßt uns zusammenfassen in das Gebet, welches uns der Herr selbst gelehrt hat!“; wenn es nicht bloß Form, sondern Geist wäre, wenn er beim Scheiden euch zuruft, den Segen des Herrn zu empfangen, und ihr Alle euch erhebet als Ein Mann, und jene Worte, die, nachdem sie vor dreißig Jahrhunderten zuerst aus Moses und Aarons Munde in der Arabischen Wüste über das Volk Gottes hallten, seitdem jeden christlichen Gottesdienst beschlossen haben, auch über euch erschallen: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr erhebe sein Angesicht auf dich, und sei dir gnädig; der Herr erleuchte sein Angesicht über dir, und gebe dir Frieden!“ wenn das alles Leben wäre und Geist: was für ein Trost wäre das an jedem Sonntage für den Geistlichen und für euch! - Für euch: denn ihr wüßtet, so oft ihr zur Kirche ginget, daß, wenn ihr auch in der Predigt keine Predigt fändet, doch der Gottesdienst euch eine halten würde; für den Prediger: denn er wüßte, auch wenn der Geist ihm einmal die Kraft versagte, euch im Geiste zu predigen, daß Geist und Erbauung euch noch aus vielen andern Quellen zufließen würden, als aus seiner Predigt. Aber der wievielste in der Gemeinde weiß, was er dabei thut! Nun so dünkt es uns denn auch ein heiliges Geschäft des Predigers, diese Worte zu deuten, dem kalten Schalle die Seele einzuhauchen. Und so wollen denn auch wir, geliebt es Gott, in nächster Zukunft manchem von diesen Worten unsere Gedanken und unser Herz zuwenden, ob es uns gelingen möge, dem todten Leichnam das Leben wieder einzuhauchen. O wie wird der Segen dieser Betrachtungen so viel reicher seyn, als der von anderen; denn wo sie irgendwie wieder an unser Ohr klingen werden, jene heiligen, gewohnten Klänge, da werden sie uns eine Mahnung an diese Stunden seyn, die wir in ihrer Betrachtung zugebracht haben. O Geist des Vaters und des Sohnes, gehe mit einem lebendigen Wehen durch unser Aller Herzen, damit kein todtes Glied mehr unter uns bleibe!
Der nächste Gegenstand unserer Betrachtung soll das Gebet des Herrn seyn, wie wir es aufgezeichnet finden Matth. 6.: „Unser Vater in dem Himmel! Dein Name werde geheiliget! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel! Unser täglich Brot gieb uns heute, und vergieb uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel; denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!“
Was das schon für ein erhebender Gedanke ist, ein Gebet mit einander zu betrachten, welches, seitdem es dort zuerst auf dem Berge der Seligkeiten aus dem heiligen Munde ging„ von so vielen Millionen als das erste ihres Lebens gelernt worden ist, wenn treue, mütterliche Liebe die kindlichen Hände falten lehrte, und nachher bei jedem ihrer Kirchgänge wiederholt worden ist, in Erhebung und in Angst, am Taufstein, vor dem Traualtar, am Sterbebette, in den größten Stunden ihres Lebens. Wohl ist es millionenmal über die Lippen der Menschen geglitten, ohne die Seele zu entzünden; aber wie viele Herzen mögen doch auch schon andrerseits all' ihr besonderes Wünschen und Verlangen in den weiten Umfang dieser Worte hineingelegt und darin ausgehaucht haben! Denn ich sage euch, diese Worte sind würklich unendlich umfassend, so daß, wenn man dieses Gebet ein Leben lang mit Verstand und mit dem Herze n gebetet hat, man findet, daß sein geistiger Umfang so groß ist, wie die Sehnsucht des menschlichen Herzens. Und das will viel sagen! Die Hindeutung auf diesen reichen Inhalt ist auch schon darin ausgedrückt, daß den vielen Worten, mit denen die Heiden beten, diese wenigen Worte gegenübergestellt werden als solche, die alles das umfassen, was sonst mit vielen Worten gebetet wird.
O lasset uns unser Herz recht sammeln zu dieser Betrachtung! Wir werden dies nicht besser thun können, als indem wir uns einerseits vergegenwärtigen, was wir Menschen wären, wenn wir nicht beten dürften, und andererseits, was wir nun sind, da wir im Namen des geliebten Sohnes Gottes und eingehüllt in sein großes Verdienst, zu dem Throne der Gnade hinzunahen dürfen, ja indem wir Worte gebrauchen dürfen, die unser theurer, hochgelobter Heiland uns selbst in den Mund gelegt. O ihr, die ihr so glücklich seid, eure ersten Gebete von mütterlichen Lippen genommen zu haben, und durch die Andacht einer frommen Mutter gelernt zu haben, was beten heißt: nicht wahr, mit doppelter Zuversicht laßt ihr diese Gebete eurer zarten Kindheit über eure Lippen gehen? Es ist euch zu Muthe, als müßte ein besonderer Segen daran haften, und man hat wohl erlebt, daß Greise, denen für alles Andere das Gedächtnis; geschwunden war, gerade der Gebete sich noch erinnerten, die sie auf mütterlichem Schooße hatten stammeln lernen. Sind euch nun die Worte so theuer, welche die mütterliche Liebe der Erde auf eure Lippen gelegt, und in euer Herz gedrückt hat: o wie vielmehr werden es nicht diejenigen seyn, welche die mütterliche Liebe, die vom Himmel stammt, welche der Gottessohn seinen schwachen irdischen Brüdern in den Mund gelegt hat! - Es ist wahr, es giebt bewegte Stunden, wo dem Herzen keine andern Worte Genüge thun, als die aus der Fluth der eignen Brust herausgequollen sind; aber es ist auch andrerseits wahr, daß es Stunden giebt, wo es einem ein wahrer Trost ist, daß man in Worten beten kann, die uns Gott selbst durch seinen Sohn gelehrt hat. Das sind nämlich jene Stunden, wo der Fluß lebendiger Gefühle auf eine Zeitlang stockt, und wo man sich so recht arm und nackend fühlt. Alle unsere eigenen Worte scheinen uns dann so unzureichend. Kann man aber des Herzens innerstes Sehnen in die Worte des Sohnes Gottes hüllen, das thut so wohl, da ist es, als ob sie so viel leichter zum Himmel emporschwebten. So manchem von uns wird es vielleicht noch nicht begegnet seyn, daß gerade beim Vaterunser sein Herz bewegt worden wäre. Es verhält sich damit gerade so, wie mit dem Lesen der Bibel. Wie viele werden von vielen andern Erbauungsbüchern weit tiefer bewegt! Dies dauert eine Zeit lang, so lange als man noch nicht tief in die Nöthe und Kämpfe des innern Lebens hineingeführt ist. Je länger aber ein Leben in Christo geführt wird, desto ausschließlicher klammert sich die Seele an jedes Wort, das der Mund Gottes geredet; denn es ist ihr, als ob alle Menschenworte zu eng und zu beschränkt dagegen wären. Es liegt eine ganz besondere Gnade des innern Lebens darin, wenn ein Christ dahin kommt, bei den nüchternen Worten der Bibel oder bei dem nüchternen Gebete des Herrn Thränen zu vergießen.
Es ist ein Uebelstand für unsere Erbauung, Geliebte in dem Herrn, daß wir uns, wo einmal unsere Herzen durch diese vorläufigen Betrachtungen weit und offen geworden sind, nicht sofort hintereinander von Spruch zu Spruch die Herrlichkeiten und Gnaden aufschließen können, welche in dem Gebete liegen, daß ich den herrlichen Wunderbau euch nicht in Einem Blicke zeigen kann. Es ist zu viel, als daß wir es in dieser einen Stunde der Erbauung ganz umfassen könnten. Lasset uns daher am heutigen Tage nur noch zwei allgemeinere Betrachtungen über die Beschaffenheit desselben anstellen: die eine, wie dieses Gebet die zwei Grundrichtungen des betenden Gemüthes ausspricht; die andere, wie es den Christen anweist, nicht als Einsamer, sondern sammt der ganzen Gemeinde und für die ganze Gemeinde Jesu Christi zu beten.
Es ist unglaublich, meine Geliebten, wie sehr eine längere und demüthige Beschäftigung mit der heiligen Schrift dem betrachtenden Geiste auf allen Seiten neue Tiefen aufschließt, und auch in dem, was anfangs als bedeutungslos und zufällig erschien, Weisheit und Endzweck erkennen läßt. Es geht in dieser Hinsicht mit der Offenbarung Gottes in der Schrift, wie mit der Offenbarung Gottes in der Natur. Wie viele Zufälligkeit, wie vieles Zwecklose bietet das Buch der Natur dem Betrachter auf den ersten Blick dar! Ganze Seiten möchte man aus demselben ausstreichen, ganze Blätter ausreißen, die dem menschlichen Unverstande zwecklos erscheinen wollen. Du mußt glauben, willst du schauen! O wie sich dann bei einer beharrlichen gläubigen Betrachtung erstaunlicher und immer erstaunlicher der Wunderbau, den der Herr der Schöpfung in der Natur sich erbaut hat, vor unsern Blicken erhebt! Auch die Schrift ist ein solcher Wunderbau, wie im Ganzen, so in den kleineren Theilen, und vielleicht wird schon die Betrachtung des Gebetes des Herrn euch davon einen Eindruck geben. Zwei Grundrichtungen der menschlichen Seele giebt es beim Gebet: die Richtung auf Gott, und die Richtung auf uns. - „Wie kommt es, so fragte einst ein Knabe, daß, wenn ich bete, es so ist, als wäre Niemand in der Welt, als Gott und ich?“ Ja! für die betende Seele giebt es in den ernstesten Stunden des Gebets Niemanden weiter in der Welt, als Gott. Das Gebet ist ein lichter Strahl, auf dem die Seele zu Gott geht und wieder zu sich zurück. So nimmt denn nun auch alles Gebet den Ausgang entweder von ihm, oder von uns. Hoch und hehr fällt das Licht seiner Majestät in unsere Seele, und wir knieen nieder und rufen: „Geheiligt werde dein Name!“ Schwarz und verderblich greift nach uns die Hand der Versuchung, und wir fallen nieder, und rufen: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Als die reine Güte tritt sein gnädiger Gotteswille vor unsere Seele, und wir rufen: „Wie unter deinen heiligen Engeln, so geschehe dein guter Gotteswille auch unter den Menschen auf Erden!“ „Du aber bist schuldig!“, schreit das Gewissen mir zu, und ich sinke auf das Knie und bete: „Vergieb uns unsere Schuld!“ So nimmt das Gebet vom Himmel seinen Ausgang, und will seine Ströme auf die Erde herniederfließen lassen, oder es nimmt von der Erde seinen Ausgang und will sie mit dem Himmel zusammenknüpfen. Beides aber ist im innersten Wesen keine verschiedene, sondern eine und dieselbige Sehnsucht; denn wo die Versuchung überwunden, und die Sünde vergeben ist, .da hält Gott seinen Einzug, und wo Gott seinen Einzug hält, da muß die Versuchung überwunden und die Sünde vergeben werden. Auch im Gebete des Herrn findet ihr den Ausdruck dieser zwiefachen Seelenrichtung: mit dem Blicke zum Himmel fängt die Seele zu beten an; nicht von ihrem eigenen Dunkel, sondern vom Vater alles Lichts nimmt sie den Ausgang, und dreimal ruft sie: „Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe!“ Dann aber wendet das Auge sich zurück auf die Roch und den Druck des Lebens hienieden, und dreimal ruft sie: „gieb uns unser tägliches Brot! Vergieb uns unsere Schuld! Führe uns nicht in Versuchung!“
Ich habe gesagt, daß dem Blicke des Beters alles Andere verschwindet, was außer ihm selbst und seinem Gott in der Welt ist. Das Gegentheil scheint sich in diesem Gebete des Herrn darzustellen. Nicht ein einsames, einzelnes Herz ist es, was in diesem Gebete laut wird, sondern ein Herz das mit der ganzen Christenheit, mit der ganzen Menschheit zusammenbetet: „Zu uns komme dein Reich; unser täglich Brot gieb uns heute!“ Es führt uns dieses auf die wichtige Betrachtung des Verhältnisses, in welchem das Gebet für uns als Einzelne zu dem für die Gesammtheit steht.
Allerdings, Geliebte, giebt es Gebete, welche ein Mensch nur für sich beten kann, so wie es Schmerzen und Freuden giebt, die jedweder mit sich allein verlebt. Und gerade, wo wir diese unsere allerheiligsten Schmerzen und Freuden vor dem Ewigen ausschütten, da werden auch die Gebete aus dem tiefsten Innern quellen: denn es werden dieses eben die Momente der innersten Bewegung seyn; ja es giebt Stunden, wo wir einzig und allein für unsere eigenste Verschuldung, die nur Gott kennt, um Vergebung zu schreien haben, wo es einen ganz ausschließlich für uns bestimmten bittern Kelch gab, von dem wir erlöst zu seyn flehen, oder auch eine heilige Freude, welche ausschließlich in die Geschichte unsers eigenen Gemüthes verwebt ist. Von der Art war die Stunde, wo im tiefsten Gefühle der Buße über seinen tiefen Fall David vor Gott stand, und rief: „Entsündige mich mit Ysop, daß ich rein werde, wasche mich, daß ich schneeweiß werde. Laß mich hören Freude und Wonne, daß die Gebeine wieder fröhlich werden, die du zerschlagen hast. Verwirf mich nicht vor deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!“ und als er abermals vor Gott stand, der ihm vergeben hatte, und beten konnte: „Wohl dem, dem die Uebertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedecket ist, wohl dem Menschen, dem der Herr die Missethat nicht zurechnet, in deß Geist kein Falsch ist; denn da ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine, als ich aber sprach: ich will dem Herrn meine Uebertretung bekennen, da vergabst du mir die Missethat meiner Sünde. Sela.“ Solcher Art war das Gebet des Sohnes Gottes, als er m jenem Garten in die Stille der Nacht hinein, rief: „Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch vorüber!“; solcher Art das Gebet eines Paulus, als er dreimal zum Herrn schrie, daß er den Stachel der Versuchung hinwegnehmen möchte, den er ihm in sein Fleisch gegeben. Das sind denn auch die Gebete, wo es am meisten eintrifft, daß Alles um uns her vergeht, und daß wir allein sind mit Gott. Und er, den aller Himmel Himmel nicht fassen, ihm ist ein zagendes, aber glaubensvolles Menschenherz nicht zu klein, daß er nicht herabkommen, und darin Wohnung nehmen sollte, und seinen Hader stillen. Er, der in der Brust seiner Kinder durch seinen heiligen Geist die Herzen barmherzig macht, daß der Betrübte Trost findet schon unter den Menschenkindern; er hat selber ein fühlendes Herz, daran der Mensch sich legen kann mit allen seinen kleinen Sorgen.
Du zählst, wie oft ein Christe wein',
Und was sein Kummer sei;
Kein Zähr‘ und Thränlein ist so klein,
Du nimmst und legst es bei.
So hat ein Mann gesagt, der zu beten verstand; er heißt Paul Gerhard. Was ist denn aber überhaupt eine kleine Sorge und eine kleine Freude? Es ist wohl schon manchmal ein Menschenherz durch eine Freude, die Andern gar klein dünkte, selig geworden, daß es, wie der Dichter sagt, in Sprüngen hätte gehn mögen und ist schon manches Menschenherz gebrochen über dem, was Andere einen kleinen Schmerz nennen würden.
Das sind die Gebete der bewegteren Lebensstunden, wo wir nur um das zu bitten, oder für das zu danken haben, was unser eigenstes Ich angeht. Unendlich zahlreicher sind ja aber die ruhigen Stunden des Lebens, und so sind auch die Gebete, mit denen der gläubige Christ unendlich öfter vor Gott tritt, keine andern, als die auch die ganze Christenheit, die ganze Menschheit beten sollte. Beten sie nun diese Gebete nicht für sich selbst: o ihr Geliebten und Heiligen Gottes, so lasset uns dieselben für sie beten. So ist es nun auch in dem Gebete des Herrn. Die Bitte, die der einzelne Christ für sich thun soll, ist darin erweitert zu einer Bitte für die gesammte Gemeinde. Brüder, eine große Prüfung, wie es mit unserer Bruderliebe steht, ist die Frage: ob wir auch Einer für den Andern beten; die Frage: ob wir auch die Gesammtheit der Kirche des Herrn, und alle ihre Leiden und Freuden auf dem Herzen tragen. Für unsere nächsten Anverwandten und Angehörigen beten wir nun ja wohl zuweilen, wenn es auch gleich in den meisten Fällen nur ein Gebet für das Heil in dieser Welt ist. Aber wie steht es, wenn ich die Fragen an euch richte, erstens: tragen wir auch Einer des Andern geistige Noth in unsern Gebeten dem Herrn vor? zweitens: tragen wir all' den Nothstand sammt der Freude der christlichen Kirche also auf unserem Herzen, daß unsere Gebete, auch wenn sie von uns selber ausgegangen sind, unwillkürlich weiter und weiter werden, bis sie die ganze Christenheit,, ja die ganze Welt umfassen? es wird keiner seyn, der nicht an sein Herz zu schlagen und zu klagen hätte, daß er so noch gar nicht, oder nur gar selten zu beten vermag. Und doch, was das Gebet für die geistliche Noth unserer Brüder betrifft, vergesset ihr, daß fünf Bitten in des Herrn Gebet die Noth der Seele angehen, und nur eine die Noth des Leibes?, Wollen wir aber einen Eindruck erhalten von der Gluth der die Welt umfassenden Liebe, die ein Christenherz in seinem Gebet aushauchen kann und soll, so lasset uns die Episteln Pauli lesen. Hilf Himmel, welch' eine Kraft der Fürbitte! Man sieht es, dem Manne ist das Gebet eine Macht, mit der er den Himmel auf die Erde herabbeugt, die Welt erobert, und den Satan mit Füßen tritt. Aber nimmer will er allein beten“ Als gälte es eine Schlacht, die nur gemeinsam gekämpft werden kann, so fordert er stets seine Brüder auf, im Gebete mit ihm zu kämpfen, und versichert sie wiederum seinerseits, daß er ringe mit ihnen. „Haltet an am Gebet - so schreibt er an die Colosser - und wachet in demselbigen mit Danksagung. Und betet zugleich auch für uns, auf daß Gott uns die Thür des Wortes aufthue!“ „Ich ermahne euch aber, lieben Brüder - schreibt er an die Römer - durch unfern Herrn Jesum Christum und durch die Liebe des Geistes, daß ihr mir helfet kämpfen mit Beten für mich zu Gott!“
„Weiter, liebe Brüder - schreibt er an die von Thessalonich - betet für uns, daß das Wort Gottes laufe und gepriesen werde, wie bei euch.“ „Ich danke meinem Gott- schreibt er an die Philipper - so oft ich für euch bete, welches ich allezeit thue in allem meinem Gebet für euch Alle, und thue das Gebet mit Freuden.“ „Gott ist mein Zeuge - so schreibt er an die Romer - welchem ich diene in meinem Geiste am Evangelio, daß ich ohne Unterlaß eurer gedenke.“ „Nachdem ich gehört habe - schreibt er an die Epheser - von dem Glauben bei euch an den Herrn Jesum und von eurer Liebe zu allen Heiligen, höre ich nicht auf, zu danken für euch, und gedenke eurer in meinem Gebet.“
Soll wieder eine schöne und große kirchliche Gemeinschaft unter uns entstehen, Brüder, so ist es nöthig, daß unsere Gebete auch wiederum Gebete für die Gemeinde werden, und könnt ihr die Flügel eurer Seele noch nicht so hoch schwingen, und euer Herz noch nicht so weit ausdehnen, o so betet für die Familie, fanget damit an, Einer für den Andern zu beten, die Mutter für die Kinder, der Gatte für die Gattin - Gebete um geistliches Heil, der Bruder für die Schwester, der Freund für den Freund. Glaubt mir, eine solche Liebesgemeinschaft wird den Lebensodem weiter und immer weiter verbreiten. Habt ihr wohl die Vorstellung von einer Familie, von welcher jeder, wenn man sich am Morgen versammelt, das Bewußtseyn hat, daß der Andere für ihn gebetet habe? Kann ich gegen einen Menschen, für den ich am Morgen gebetet habe, am Nachmittage lieblos seyn? Dieser Mensch betet für mich - er denkt an mich, wenn er allein vor seinem Gott steht - welch' eine Kraft hat der Gedanke! ich kann nicht umhin, bei dieser Veranlassung euch Jünglingen eine Erfahrung von der Kraft mitzutheilen, welche dieser Gedanke hat. Ein Jüngling, der auf einer Vergnügungsreise leichten Sinnes hinausgezogen war in die Welt, kam in ein Haus, in dem man die Kraft des Gebetes kannte, und fand gastliche Aufnahme. Leicht und fröhlich erging sich das jugendliche Gemüth auch hier in seinen Mittheilungen, golden lagen die ersten Reisetage hinter ihm, eine goldene Zukunft winkte, wie sollte er nicht fröhlich seyn? Spät am Abende führt ihn der Zufall noch einmal vor dem Zimmer des Hausherrn vorüber, er vernimmt eine laute Stimme. Sie halten den Abendgottesdienst, der Hausvater betet! Das Ungewohnte fesselt den Jüngling, er hört, wie das Gebet mit weitem Flügelschwunge sich erhebt, die Christenheit umfaßt und alle Arbeiter Gottes, und wie es in immer engere Kreise sich zusammenzieht, jetzt für die Stadt, jetzt für das eigene Haus, und - jetzt für den Fremdling, der unter dem gastlichen Dache wohnt, daß der Allgegenwärtige den unerfahrnen Jüngling begleite und schirme, daß ihm über der Schöne der Natur noch eine andere Schöne aufgehe! Da, Freunde, ist dieses Jünglings Herz weich geworden - dieser Mann, hat er gedacht, den du nie in deinem Leben gesehen, betet für dich, und du betest nicht für dich selbst? - Der Tag ist der Anbruch eines neuen Lebens für den Jüngling gewesen.
Ja, Theure, die Fürbitte ist eine Kraft, die, wenn sie auch nicht auf Andere würkt, auf uns selber würkt. Ist es denkbar, daß ich alle Tage für das Heil eines Menschen beten könnte, ohne daß dieses Gebet mir selbst zu einer treibenden Kraft würde, so daß ich auch durch die That sein Heil zu schaffen suche? Wahrlich, das Gebet für die Brüder ist ein Wort, aus dem Thaten quellen; ja es ist nicht bloß ein Wort, es ist in sich selbst eine That. - So lange ihr euch aber noch nicht so hoch emporschwingen könnt, in wahrem Ernste die Gemeinde Gottes im Ganzen zum Gegenstande eurer Gebete zu machen, o so laßt das wenigstens euch am Herzen liegen, daß jedes Gebet in Bezug auf eure eigene innere Noth zugleich ein Gebet für die geistliche Noth eurer Freunde und Brüder werde!
Zu allen diesen Gedanken erweckt uns das Gebet des Herrn, wenn wir es zunächst ganz im Allgemeinen betrachten. Gehet hin, ihr Jünger Jesu Christi, und betet es im Geiste! -