Tholuck, August - Hebr. 10,25 - Was fehlt unsern Gottesdiensten, daß sie rechte Gottesdienste seien?

Tholuck, August - Hebr. 10,25 - Was fehlt unsern Gottesdiensten, daß sie rechte Gottesdienste seien?

Wir legen, meine Andächtigen, unserer heutigen Erbauung einen Text zu Grunde, den wir im Briefe an die Hebräer im 10ten Kap. im 25sten Verse finden. „Lasset uns - heißt es daselbst - nicht verlassen unsre Versammlung, wie etliche pflegen, sondern unter einander ermahnen, und das so viel mehr, so viel ihr sehet, daß sich der Tag nahet.

Der eben verlesene Ausspruch der Schrift legt ein ungemein großes Gewicht auf die Theilnahme an dem Gottesdienste. Der apostolische Mann, von dem der Brief an die Hebräer geschrieben ist, will in jenem Abschnitte seines Schreibens die Gemeinde vor jener letzten Tiefe des Abgrundes warnen, wo die Seele den Geist der Gnade, durch den sie geheiligt worden ist, zu schmähen ansängt, vor dem Abfalle von Christo - und als ein so wesentliches Gnadenmittel stellt er die Theilnahme an den christlichen Versammlungen dar, daß das Verlassen derselben ihm als der erste Schritt erscheint zu jener letzten Tiefe des Abgrundes. In einem so ernsten Lichte habt ihr wohl die Theilnahme an unsern christlichen Gottesdiensten noch nicht angesehen; ja auch unter uns, den hier Versammelten, dürfte es vielleicht an „solchen nicht fehlen, welche ihrer gänzlich entrathen zu können glauben. Es muß also damals mit den Gottesdiensten noch ein ganz besonderer Segen verknüpft gewesen seyn, wenn der Apostel ein solches Gewicht darauf legen konnte, und für uns muß dieser Segen verloren gegangen seyn; sonst müßte ja auch uns die gottesdienstliche Versammlung etwas viel Wichtigeres und Größeres seyn, als sie ist. Lasset uns denn auf Veranlassung dieses apostolischen Ausspruches uns eine Frage auswerfen, zu welcher in den Umständen unsrer Zeit so außerordentlich viel auffordert. Lasset uns fragen: was fehlt unsern Gottesdiensten, daß sie rechte Gottesdienste seien?

Wir beantworten diese Frage 1) dahin: es fehlen die Zuhörer der Kirche, und es fehlt die Kirche den Zuhörern. Wir beantworten sie 2) dahin: es fehlt der Gemeinde die Weihe, und es fehlt den Predigern die Salbung.

1.

Ich sage zuerst: es fehlen die Zuhörer der Kirche. Die Thatsache, meine Geliebten, liegt, wenngleich nicht in den Gottesdiensten, die wir feiern, doch sonst in tausend Beispielen vor Augen. Diese Thatsache ist um so erschreckender, wenn wir bedenken, daß der einzige Ort, wo in der gegenwärtigen Zeit der Geistliche an das Herz der Gemeinde kommen kann, eben die Kirche ist. Einst waren die Geistlichen Pastoren, d. i. Hirten der Gemeinde, die sie weideten allerwege, in den Häusern und auf den Feldern; jetzt sind sie - und zwar zum Theil auch durch eure Schuld - bloße Prediger geworden. Ihre einzige Stelle ist die steinerne Kirche. Sie gehen nicht der Gemeinde nach, ,sie müssen abwarten, ob die Gemeinde zu ihnen kommt. So ist denn ein besonders erschreckendes Ereigniß die Thatsache, welche vor Augen liegt, daß die Gottesdienste in der Kirche unsers Vaterlandes an vielen Orten immer leerer werden. Hat doch schon eine Anzahl gottesdienstlicher Versammlungen ganz eingestellt werden müssen, weil es an Theilnehmern gefehlt hat! Sind es nicht oft nur Frauen und Kinder, die man im Hause des Herrn versammelt sieht? Wir wollen Gott preisen, daß in unsrer Stadt nach dem Zeugnisse Vieler seit einer Reihe von Jahren die Kirchen wieder fleißiger besucht werden, als es am Anfange dieses Jahrhunderts der Fall war; wie klein aber mag auch unter uns noch die Zahl derjenigen seyn, für welche der nächste Zweck, warum sie an diesem Tage Festkleider anlegen, der ist, daß sie in der Gemeinde des Herrn erscheinen wollen, um anzubeten! Wie klein ist die Zahl der regelmäßigen Kirchengänger! Dieser mangelhafte Besuch der Kirche ist nun aber nicht bloß ein Unsegen für die, welche wegbleiben, sondern eben so sehr für die, welche kommen. Es ist keiner von euch, der nicht fühlt, was für ein Segen eine volle andächtige Gemeinde ist. O, wie muß es gewesen seyn zu einer Zeit, wo jeder Kirchstuhl eine ganze Familie umschloß, wo allsonntäglich an bestimmter Stelle das Auge der Gemeinde die Väter und Pfleger der Stadt zur Anbetung Gottes versammelt sah, wo der Klang und der Odem des Lebens in den Gebäuden der Stadt erstorben war, weil alles Lebendige vor dem Angesicht des lebendigen Gottes in der Kirche den rechten Lebensodem suchte! Aber warum geben wir darauf etwas? Ist das etwa nur ein schönes Spiel der Phantasie? Oder ist es bloß die Volltönigkeit des Gesanges, die, wenn er in mächtigeren Strömen gen Himmel schwellt, auch mächtiger die Seele ergreift? Aber wäre es nur das: warum hat der Heiland vorzugsweise erklärt, daß er dann unter uns seyn wolle, wenn zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind? Warum gerade dann mehr, wenn mehrere sich zusammengefunden haben? So muß es denn einen besondern Segen geben, den die Gemeinschaft der Andacht mit sich bringt. Seht, Geliebte, was dieser Segen ist. Das menschliche Herz kann nicht zufrieden seyn, wenn es die Wahrheit nur allein für sich hat. Es muß eine Kirche der Wahrheit geben auf Erden. Dieses innerste Bedürfniß, das ist es, warum so mächtig die Andacht ihre Flügel gen Himmel hebt, wo der Einzelne mit Hunderten und Tausenden in demselben Glauben und Bekenntniß sich vereint weiß, und wo er das, wovon sein eignes Herz erglüht, aus ihrem Antlitze wiederstrahlen sieht. Wird das einst im Reiche Christi auf vollkommene Weise sich erfüllen, so wird das der Gipfel der Seligkeit selbst seyn. Es muß lein gewaltiges Schauspiel gewesen seyn, als dort nach dem großen Schlachttage des preußischen Königs die zwanzigtausend Krieger aus Einem Munde ihr: Nun danket alle Gott! erschallen ließen! Es war nicht bloß der hochschwellende Gesangston: es war das Bewußtseyn, daß ein und derselbige Strom des Dankes jetzt durch alle zwanzigtausend Herzen seine Wellen ergoß, daß zwanzigtausend Menschen zu gleicher Zeit, nach einer der heißesten Glaubensproben ihres Lebens, mit Innigkeit an Gott dachten. - O und wenn sie nun einst alle kommen werden vom Morgen und vom Abend, Alle von Adam Geborenen, die in den Schlachttagen des irdischen Lebens Glauben gehalten haben, um in dem Reiche ihres Herrn in Einem Geiste den unvergänglichen Lobgesang zu singen dem, der allein würdig ist zu nehmen Ehre und Preis und Herrlichkeit! Ihr fühlt die Gewalt, welche das Bewußtseyn über das einzelne Gemüth ausübt, nicht einzeln dazustehen, sondern getragen zu seyn von der Glaubenskraft einer ganzen Gemeinde! Und fühlet ihr dieses, o so begreift ihr auch, daß unserm Gottesdienste der Nerv muß abgeschnitten seyn von der Zeit an, wo die Gemeinde aufhörte, als ein ganzer Leib vor dem Prediger zu erscheinen, und nur hie und da ein traurig abgerissenes, einzelnes Glied in den Kirchensitzen sich blicken ließ. - Soll indeß die zahlreich versammelte Gemeinde durch das Bewußtseyn der Gemeinsamkeit des Glaubens und der Andacht einen so überwältigenden Einfluß auf den Einzelnen ausüben, so muß, wie ihr wohl fühlt, auch eben diese Gemeinsamkeit des Glaubens in der Andacht würklich vorhanden seyn - und ihr selber müßt den Eindruck davon haben. Mit andern Worten, wie die Zuhörer der Kirche nicht fehlen dürfen, so darf auch die Kirche den Zuhörern nicht fehlen.

Die Kirche Jesu Christi ist der Leib Jesu Christi. Wie alle Glieder unsers Leibes ein Ganzes ausmachen, das durch die Seele zusammengehalten wird, so sollen Alle, die den Namen Jesu bekennen, auch ein Leib seyn durch die Seele Eines Glaubens und Einer soll des Andern Glied seyn. Wenn ich nun sage, daß auch die Kirche nicht fehlen darf den Zuhörern, so meine ich dies: es muß das Bewußtseyn vorhanden seyn, daß man im Glauben gliedlich verbunden ist, nicht nur mit der eben versammelten Gemeinde, sondern auch mit dem ganzen, großen Körper der gläubigen Christen. Bringt ihr nun, Geliebte, ein solches Bewußtseyn mit? Ach ich fürchte, daß Mancher, Mancher von euch von diesem seligen Bewußtseyn noch nichts erfahren hat, und immer nur als Einzelner in der Mitte der Gemeinde einsam seine Gebete dargebracht hat. Es ist aber dies Bewußtseyn nicht bloß durch eure eigne Schuld euch entschwunden, es ist die Schuld der Zeit, welche den Leib unsrer evangelischen Kirche auseinander gerissen hat. Das theure Kleinod der Einheit des Glaubens hat der Sturm in Stücke gerissen. Doch, Geliebte, mag auch im Großen und Ganzen der Kirche diese Einheit fehlen, noch sind Bande genug, welche die Meisten von euch zusammenhalten. Noth können ganze Gemeinden als Ein Mann auftreten, und wissen, an wen sie glauben; noch wird das Wort des Herrn und der Apostel als das Wort der Wahrheit den Vorträgen in der Gemeinde zu Grunde gelegt, und alle Kniee der Versammelten beugen sich im Namen Jesu; noch wird das Sacrament des Altars gespendet, und das Zeichen des Leibes und Blutes unsers Herrn gläubig genossen zur Vergebung der Sünden; noch sehet ihr, während sonst Stand und Reichthum gähnende Klüfte zwischen den Menschen aufgerichtet haben, an dieser Stätte wenigstens .die Armen und die Reichen ungeschieden als Glieder Eines Leibes, und in der Hauptstadt unsers Landes könnt ihr den Königssohn neben dem Aermsten der Gemeinde am Tische des Herrn das Mahl der Versöhnung nehmen sehen. Und wenn auch würklich, wo eine Gemeinde wieder hinaustritt aus dem Hause Gottes, Trennung und Gegensatz erwachte: hier wenigstens, im Gotteshause, sind sie würklich in Andacht zusammengeflossen. Hier haben wir vergessen, was uns trennt, und wir denken nur an das, was uns einigt. Hier wissen wir uns als Kinder Eines Vaters im Himmel, und nur Ein Name ist, vor dem sich alle Kniee beugen. O liebe Christen - und das Bewußtseyn müsset ihr nähren. Daran werdet ihr wieder heraufwachsen zu dem Glauben, daß der Herr noch eine Kirche auf Erden habe, und ihr werdet stark werden in dem Gedanken, daß ihr nicht bloß abgerissene Glieder seid, sondern anbetet in dem großen, heiligen Verbande des Leibes Christi!

2.

Ich habe ferner gesagt: es fehlt der Gemeinde die Weihe, und den Predigern die Salbung.

Es fehlt der Gemeinde die Weihe. Euer Kirchenbesuch, Geliebte, steht zu abgerissen da in eurem Leben. Bis an die Schwelle der Kirchthüre nehmet ihr die Welt und ihre Sorgen mit, und wollt ihr erst dort den Abschied geben. Darum läßt sie euch nicht, und geht mit euch an die heilige Stätte. Es ist wahr, bis zu einem gewissen Grade wird man schon unfreiwillig von der Welt los durch den bloßen Eintritt in die heiligen Räume. Das wird dauern, bis die Dome, die uns glaubensschwachen Kindern unsere glaubensreichen Väter gebaut haben, in Trümmer sinken werden. Daß unsere glaubensarme Gegenwart die Kraft nicht hat, neue zu bauen, liegt am Tage; ob die Zukunft ein neues gläubiges Geschlecht von Enkeln erzeugen wird, das gern in Hütten wohnt, wenn nur zur Ehre seines Gottes Paläste sich erheben, ist vor unsern Augen verborgen. So lange indessen das Haus Gottes selbst mit seinen himmelanstrebenden Pfeilern in Verbindung mit dem Anblick der betenden Gemeinde das Gemüth von der irdischen Sorge loswinden hilft, so lange wird allerdings schon der bloße Eintritt in diese geheiligten Hallen euch eine Art von Weihe geben. Aber Freunde, die Weihe, die euch der bloße Anblick des Gotteshauses gewährt, sie ist ein Sprühregen, der nur die Oberfläche feuchtet, worunter das Herz trocken und hart bleibt, wie vorher. Sollst du innerhalb der Kirche des Sonntags den vollen Segen finden, so mußt du schon vor der Kirche die Weihe empfangen haben. O Theure, nur wer den Gottesdienst am Wochentage kennt, kann von dem am Sonntage den rechten Segen haben; nur wer im Kämmerlein beten kann, kann vom Gebet in der Kirche den rechten Segen haben. O wo ist die Zeit, wo schon mit dem frühen Morgenroth des Sonntags der laute Lobgesang aus der Brust des Hausvaters aufstieg, wo die Familie ihr Evangelium las, bevor sie zum Gotteshause ging, und alle Herzen einen reichen und gesegneten Kirchgang erbaten, noch ehe sie über die Schwelle des Gotteshauses gingen? Das war eine Zeit, wo man nicht in die Kirche kam, um auf- und einzunehmen, sondern um auszuströmen. Und daß wir dieses Bedürfniß so wenig kennen, das ist ein Zeichen, daß uns die Weihe fehlt. Etwas, meine Andächtigen, von dem Wesen des Gottesdienstes der ersten Christen muß doch auch unser Gottesdienst noch behalten. Wie war es nun damals? - Wie ihr bei Paulus leset (1 Kor. 14, 26.): „Wie ist ihm denn nun, liebe Brüder? - wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeglicher entweder einen Lobgesang, oder etwas zu lehren, oder die Gabe in Zungen zu reden, oder Offenbarung, oder Auslegung - lasset es alles geschehen zur Besserung.“ Seht, um auszuströmen, wovon schon das Herz voll war, gingen jene Christen in die Versammlung. Und wenn nun die verschiedenen Saiten, von des Herrn Geist angeregt, allzumal zu klingen begannen, jede im eigenen Ton, da kam unter dem Walten desselbigen Geistes des Herrn eine Harmonie heraus, auf deren Flügeln die Herzen zum Himmel getragen wurden. Auch bei uns hat der Gottesdienst noch einen Theil, der mit jener ersten Art der christlichen Andacht eine Aehnlichkeit hat, einen gemeinsamen Theil, da Alle mitwürken; das ist der liturgische Theil. Da empfangt ihr nicht bloß vom Prediger, da empfangt ihr Einer vom Andern, indem ihr gemeinsam aussprecht, was euer Herz bewegt. Wenn der Prediger als euer Wortführer in eurem Namen ausspricht: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, und an seinen eingebornen Sohn, Jesus Christus,“ und wenn aus tausend Herzen das laute „Amen!“ schallt: o wie das wechselseitig die Herzen ermuntert und stärkt! Da giebt der Prediger nicht bloß euch, da gebt ihr auch dem Prediger. Wenn er euch zugerufen hat aus voller Seele: „Der Herr sei mit euch!“ - o, welche Kraft fließt ihm dann zu, wenn aus dem Munde der ganzen versammelten Gemeinde ihm entgegentönt: „Und mit deinem Geiste!“ - Aber warum läßt dieser liturgische Theil des Gottesdienstes so Viele von euch so kalt, warum harret ihr allein auf das belehrende Wort des Predigers? Aus keinem andern Grunde, als weil ihr nichts auszuströmen habt in der versammelten Gemeinde, als weil ihr den Gebetsdrang nicht kennt, weil ihr ohne Weihe des Herrn zum Tempel kommt.

Je ausschließlicher nun aber in unsrer Kirche in dem Worte des Predigers der gesammte Gottesdienst sich zusammengezogen hat, desto mehr ist denn auch Noth, daß uns Predigern nicht fehle die Salbung. Das Wort Salbung ist hergenommen von den Priestern des alten Bundes, welche durch geheiligtes Salböhl zu ihrem Amte eingeweiht wurden. Auch der christliche Prediger bedarf einer Salbung, die zu seinem Amte ihn weihe, und diese Salbung, sie verleiht ihm die Gewalt über die Gemüther. Wenn ihr seht, wie dort, nachdem der Herr die Rede auf dem Berge beendet hat, das Volk in das Wort ausbricht: „er hat gewaltig geredet, und nicht wie die Schriftgelehrten!“ - das war die Salbung, die ihm diese Gewalt über die Gemüther verliehen; das war die Salbung von außen, der Beruf, den der Vater im Himmel ihm gegeben, das war die Salbung von innen, die Gottesfülle, die aus ihm redete. So hat auch der christliche Prediger eine äußere Salbung, das ist der Berits, mit dem ihn die Kirche im Namen Christi zu seinem heiligen Amte ruft. Er hat eine innere Salbung, das ist die Kraft des heiligen Geistes, welche die Wahrheit seiner Predigt in seinem Herzen versiegelt. O wenn wir bedenken, was so viele Predigten sind und was sie würken, möchte man nicht sagen: das Geschäft des Predigers unter uns hat aufgehört, eine Gewalt über die Gemüther zu seyn? Nichts anderes ist davon die Ursache, als daß die Diener des Worts die Salbung nicht gehabt haben. Da sind gar Manche von uns hingetreten auf den Predigtstuhl, statt im Namen Gottes in ihrem eignen Namen, und haben in diesem ihren eignen Namen statt Gottes Offenbarungen die Meinungen ihres eignen Herzens verkündigt. Gewiß, ihr seid es innegeworden, meine Geliebten, von dieser Stätte herab wollt ihr nicht bloß uns hören, uns arme sündige Menschen mit unsern zufälligen Gedanken, die sich über Nacht ändern; ihr wollt Einen hören, der höher ist, als wir, und zu dem wir selbst in die Schule gegangen sind. Aber wie viele haben das vergessen! Da haben sie sich denn auch so schwach gefühlt gegenüber der Gemeinde, haben die Erinnerung an ihre eigenen Gebrechen, die Erinnerung an ihre eigenen Zweifel und Bedenken alle mitgebracht auf den Predigtstuhl, und wenn sie dann ein offenes und frisches Zeugniß vor der Gemeinde ablegen sollten, da waren die Flügel geknickt, und die Zunge war gelähmt. O wie sich dagegen der Verkündig“ des göttlichen Wortes so froh fühlt auf der Kanzel, wenn er getrost aller seiner eigenen Gebrechlichkeit vergessen kann, und weiß: „Ich stehe hier ja nicht in meinem, sondern in meines Herrn Namen - ich sage euch nicht meine Gedanken, sondern die ewigen Gedanken Gottes.“ Das giebt auch jene Freimütigkeit, ohne die keine Predigt eine Gewalt über die Gemüther üben kann. Wo jene Salbung nicht ist, da bleibt immer und ewig ein armseliges Messen an der Gunst und Ungunst der Gemeinde. Nur ein Prediger, der die Salbung hat, ist auf der Kanzel ein Mann der Wahrheit, der wie Paulus vor einem Felix von der Keuschheit reden kann und von der Gerechtigkeit und vom Gericht, und der vor König Herodes treten kann wie der Täufer und ihn ins Angesicht strafen: „Es ist nicht recht, daß du deines Bruders Weib habest!“ Und jene innere Salbung des heiligen Geistes, sie darf auch nicht blos ein für allemal vorgegangen seyn außerhalb der Kirche, sie muß mit jeder Predigt neu werden auf der Kanzel selbst. Dort am Altare, hier auf der Kanzel hat der Prediger bei jeder neuen Predigt zu stehen: „O Geist des Lebens und der Wahrheit, hauche mich auf's Neue an, und laß das Zeugniß der Wahrheit deines Wortes aufs Neue in mir geboren werden!“ Ihr müßt es dem Prediger anmerken können, daß er nicht spricht, ohne gebetet zu haben, und daß er nicht gebetet hat, ohne empfangen zu haben. Was ich hiermit meine, ist nicht das, was ihr gewöhnlich Begeisterung nennt; das ist eine bloße Steigerung der menschlichen Kräfte, da muß der Mensch sich selbst anstrengen und erregen. Jenes Geisteswehen, das die Salbung giebt, kommt gerade, wenn die Seele ruhig ist und zum Empfangen bereit. Bei dem, was ihr gewöhnlich Begeisterung nennt, kann euch daher auch leicht der Eindruck von etwas Erzwungenem, Unnatürlichem kommen; wo aber das Wehen des Geistes waltet, das die Salbung giebt, da fühlt ihr die Wahrheit. Und gerade dies, meine Geliebten, daß der Prediger so viel beten muß, wenn er recht predigen will, das ist es, was dem fleischlichen Menschen das Predigtamt so sauer macht. Du hast vernommen, andächtige Gemeinde, was zu einem rechten Gottesdienst gehört; wir haben beide, wenn er zu Stande kommen soll, ein ernstes Werk vor dem Herrn. Ihr sehet, der Prediger kann euch nicht allein zur Andacht helfen, auch durch die beste Predigt nicht. O es glüht in unsern Herzen die Sehnsucht, daß es unter uns wieder werde, wie in den Tagen vor Alters, wo die Gottesdienste die Freudentage der Gemeinde waren, die Glanzstellen des Lebens, auf die das Auge in allem Geräusch und in aller Noth der Wochentage wie nach einer frischen Quelle hinblickte. So laßt uns denn vor dem Herrn uns verbinden, daß ein Jeglicher thue, was an ihm ist. Lernet ihr aufs Neue kennen, Geliebte, den Segen eines regelmäßigen Kirchganges, durch welchen einem erst heimisch wird im Gotteshause, wie am Familienheerde; lernet i h r aufs Neue kennen den Segen einer Andacht, wo der Einzelne nicht als Einsamer betet, sondern als ein Glied der ganzen großen Gemeinde Jesu Christi; lernet ihr aufs Neue den Segen eines Gemüths kennen, welches schon geweiht und auszuströmen verlangend an die heilige Stätte tritt - und wir. eure und des Herrn Diener am Wort, wollen auch aufs Neue lernen unser Amt zu führen nicht in unserem, sondern in seinem Namen, um zu euch zu reden Worte, auf welche jeden Sonntag aufs Neue der Geist in unseren Herzen das Siegel der Wahrheit gedrückt hat; wir wollen suchen, für die Wahrheit, die wir euch predigen, das Zeugniß des Geistes zu empfangen, wollen jeden Sonntag beten, daß es jeden Sonntag uns aufs Neue gegeben werde. Betet ihr für uns, und wir wollen für euch beten - nun das soll keine bloße Redensart seyn, sondern unser Bund vor Gott! -

Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/t/tholuck/hauptstuecke/tholuck_hauptstuecke_7.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain