Tholuck, August - Joh. 4, 31-34. "Die Pflicht im Lichte des Evangeliums betrachtet."
Es giebt ein Wort, das, so oft es in unser Leben hineinklingt, bewürkt, daß die ernster Gesinnten in sich gehen, das für Viele unter uns das Heiligste ist, und dessen Namen ihr dennoch in der Schrift nicht findet. Es ist das Wort Pflicht. Ist dieses aber mit den heiligsten Gefühlen eurer Seele verwoben, steht es so tief in euren Herzen, so muß es auch in der Schrift stehen, wenngleich mit andern Namen. Denn das ist jenes große, wechselseitige Zeugniß, welches die Schrift und das Menschenherz für einander ablegen, daß, was in der Schrift bezeugt ist, auch in geheiligten Menschenherzen als Wahrheit laut wird, und was die innere Stimme als heilig bezeugt, auch wieder sein Zeugniß in der Schrift findet. So wird denn auch würklich von der Pflicht in der Schrift geredet unter andern Namen; denn von was Anderem, als von der Heiligkeit der Pflicht redet die Schrift, wenn sie die Heiligkeit des Gesetzes verkündigt? Und untersucht ihr in solchen Fällen die Verschiedenheit der Namen, so wird in der Regel auch offenbar werden, daß der Name der Schrift noch inhaltsvoller ist, als der, den ihr zu geben pflegt. So zeigt es sich, wenn ihr vergleicht, was Manche von euch Besserung nennen, die Schrift aber Wiedergeburt, was Manche von euch Tugend nennen, die Schrift aber Heiligung. So geschieht es denn nur auch zu leicht, daß wir das Wort Pflicht gedankenlos gebrauchen, ohne uns zu fragen, wer uns die Pflicht geflochten, wer sie uns geordnet hat? Spricht nun die Schrift vom Willen Gottes, da tritt es gleich vor das Bewußtseyn, wer uns die Pflicht geordnet hat, da sehen wir ihr inneres Wesen.
Dasselbige ist auch bei dem Worte Gesetz der Fall, denn das kann man doch nicht aussprechen, ohne sofort an den Gesetzgeber zu denken. Weiß also auch unser christliche Glaube von der Pflicht, so lasset uns die Pflicht nunmehr im Lichte des Evangeliums betrachten. Und zwar soll dies Licht uns durch das Wort gewährt werden, das der Herr Joh. 4, 31 -34. spricht: „Indeß aber ermahnten ihn die Jünger und sprachen: Rabbi, iß. Er aber sprach zu ihnen: Ich habe eine Speise zu essen, da wisset ihr nicht von. Da sprachen die Jünger unter einander: Hat ihm jemand zu essen gebracht? Jesus spricht zu ihnen: Meine Speise ist die, daß ich thue den Willen deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.“
Es enthält der Abschnitt, aus dem diese Worte genommen sind, die Erzählung von dem Gespräche des Herrn mit der Samariterin. Eben hatte er eine der sauersten Pflichten erfüllt. Ihr wißt, wie umnachtet das Herz des Weibes war, wie todt für himmlische Dinge! - Aus diesem Herzen hatte „ einen Lebensfunken herausgeschlagen. Sinnend ist er in Gedanken verloren, wie aus der Nacht dieses finstern Herzens endlich, endlich doch der Funke herausgelockt worden sei, wie endlich die Funken, die himmlischen Flammen doch noch einmal hervorbrechen werden aus dem großen Herzen der Menschheit. In dem Augenblicke kommen seine Jünger und bringen Speise. Da spricht er jene Worte. Sie enthalten ein Zwiefaches: sie enthalten die Erklärung, daß dem Herrn die Pflicht, die er eben erfüllt hat, heilig ist, aber auch, daß sie ihm leicht ist. Meine Speise, sagt er, ist, daß ich den Willen thue deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.“ Er erkennt an, daß er eine Aufgabe hat, eine bestimmte Aufgabe für sein Leben, und die muß er thun, die ist ihm heilig; er sagt aber auch, daß seine Aufgabe seine Speise ist, daß sie ihm ein Genuß ist, und bekennt hiemit, daß sie ihm leicht ist. So werden wir denn auch, wenn wir die Pflicht im Lichte des Evangeliums betrachten, Alles erschöpfen, wenn wir nach dem Worte des Herrn einmal sagen: das Evangelium macht sie uns heilig, sodann: das Evangelium macht sie uns leicht. Ehe wir aber diese Wahrheiten näher betrachten, laßt mich noch von einer Dunkelheit zu euch sprechen, die in jenem Worte des Herrn für Manchen von euch liegen könnte. Der Herr spricht hier von dem Willen des Vaters, den er zu erfüllen habe, und wenn er so seinen eignen Willen dem des Vaters gegenüberstellt, so scheint hierin ein Zwiespalt zu liegen, so scheint es, als ob ein Streit zweier Willen in seiner Seele gewesen wäre. In der Sprache der Schule kann ich hierüber nicht zu euch reden: so laßt mich euch auf das verweisen, was Jeder von euch in seiner eigenen Brust wahrnimmt. Denkt euch einen recht vollendeten, frommen Christen; der wird vor dem Ausspruche seines Gewissens als vor dem Willen seines Gottes sich in heiliger Ehrfurcht beugen, und dennoch wird er auch zugleich seinen eigenen, innersten Willen darin erkennen. Sein Gewissen wird ihm Gottes Ausspruch und seinen eignen zugleich sagen. So seht ihr, daß der Wille Gottes und der Wille der menschlichen Person als solcher nicht nothwendig einen Zwiespalt bilden.
Das Evangelium, sagte ich, macht uns die Pflicht heilig. Jesus hatte ein Werk auf Erden zu vollbringen; das ist seine Pflicht, und diese Pflicht ist ihm heilig; er hatte so eben ein saures Theil derselben vollendet, und auch das war ihm heilig gewesen. Warum? Seine Pflicht ist der Wille deß, der ihn gesandt hat, Gottes, seines Vaters. So wird denn auch uns unsere Pflicht heilig, wenn wir uns bewußt werden, daß sie Gottes Wille ist. Einer der größten Gedanken, den der Mensch denken kann, ist der, daß, wie an unserm Leibe Jedes auf Jedes berechnet ist, so auch in dem großen Leibe der Menschheit Alles auf Alles berechnet ist, und jedwedes Glied zu dem andern in einer nothwendigen und von Gott berechneten Beziehung steht. O welche Welt voll schlummernder Keime in einer Anzahl Jünglinge in der Blüthe der Jahre! Wie werden alle diese Kräfte, die hier versammelt sind, einst dazu dienen, die Welt umzugestalten! Und ein göttliches Auge hat von Ewigkeit her gesehn, was alle diese Kräfte winken sollen, und was sie würken werden, und hat sie berechnet in dem ganzen Getriebe der Welt. Du reich begabter Jünglingsgeist, aus dem einst befruchtende Ideen und große Thaten wie elektrische Schläge ausgehn werden, die bis an das Ende der Welt würken: als du noch an deiner Mutter Brust die ersten Worte lalltest, ja ehe noch die Erde und der Himmel geschaffen wurden, ist schon auf dich gerechnet worden! Mit allen deinen Kräften, mit allen deinen Neigungen bist du nicht dein, sondern gehörst dem großen Leibe der Menschheit an, dem du mit Allem, was du besitzest, dienen sollst in der Liebe nach dem Willen Gottes. Du, der du über einige kleine Funken der Kraft hauszuhalten gesetzt bist, und der du dir kaum eine Würkung zutrauest auf den nächsten Freund, auf Weib und Kind: auch auf dich ist gerechnet in dem großen Ganzen der Welt, du bist nicht dein; noch ehe du an der Mutter Brust stammeln lerntest, ja noch ehe die Erde und der Himmel geschaffen wurden, ist auch deiner Kräfte Würkung und Ziel für die Menschheit geordnet worden. Welch' ein ungeheurer Gedanke, daß in dem großen Ganzen der Menschheit Alles ineinandergreift, wie die Glieder des Leibes! Bei dem menschlichen Leibe gebt ihr es zu, daß auch der geringste Theil nicht überflüssig sei; nehmt dem Auge seine Wimper, nehmt dem Haupte sein Haar, und ihr habt das Bild entstellt - ihr gebt es zu, denn ihr könnt den Leib übersehn; bei dem großen Leibe der Menschheit müßt ihr es glauben. Mit wie unzähligen Banden ist nun der Mensch an die Menschheit geknüpft! - und jedwedes Band ist eine Pflicht; du bist angeknüpft an Vater, Mutter, Bruder, du bist angeknüpft an Lehrer, Schüler, Freunde, du bist geknüpft an Obrigkeit und Dienerschaft, du bist an sie geknüpft, indem das Gebot lautet: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ - nur sechs Wörter, aber wer zählt die Unendlichkeit der Beziehungen, die sich daraus entwickeln! Es klingt auch so alltäglich nüchtern, das Wort: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Es ist wahr, es ist ein bekanntes Wort, ihr habt es von Kindheit an mit dem Katechismus eingelernt; aber geht es uns nicht oft so, daß wir gerade die Worte am wenigsten in ihrer tiefsten Bedeutung verstehn, die wir am öftesten hören? Denke dir einmal lebhaft, was das heißt: Mit derselben Hingebung, mit welcher du deine eigene Freude, dein eigenes geistiges und leibliches Wohl suchest, sollst du auch ihrer Aller Wohl befördern. Freilich nur auf deine Weise, wie du es eben kannst; denn wenn eben jeder ein eigenes Glied ist/ so hat er auch einen eigenen Pflichtenkreis. Das Auge hat nicht die Pflicht, zu greifen, die Hand nicht die Pflicht, zu sehen; aber was irgend du an deiner Stelle deinen Brüdern seyn kannst, das sollst du auch ganz und durchaus seyn. Und jedwedes deiner Bande soll dir heilig seyn, und über jedwedes dieser Bande sollst du Rechenschaft geben; denn welches ist die Hand, die alle diese Bande geschlossen? Es ist die Hand Gottes; es ist die Hand dessen, der gesagt hat: „Ich bin heilig, und ihr sollt auch heilig seyn;“ die Hand dessen, der selig machen kann und verdammen. Schreibt es tief in euer Herz, so oft ihr irgend einem Menschen ins Angesicht blicket, mit dem ihr durch irgend welche Bande verknüpft seid! Gottes Hand ist es, die auch dieses Band gebunden hat. Unauslöschlich stehe es vor eurem Auge, so oft ihr das Wort Pflicht aussprechet: Gottes Wille über mich ist es, der in dem Worte liegt. Da fühlen wir uns in der Betrachtung wie ein Mensch, der gleichsam an jedem seiner Glieder nicht einen, nein, unzählige Fäden hat, die ihn nach allen Seiten hin binden, und es wird uns sehr beklommen. Und doch haben wir den Kreis der Wichten noch gar nicht erschöpft - bloß in den Vorhof habe ich euch geführt, wenn ich von den Pflichten gegen eure Brüder sprach. Lasset uns in das Heiligthum treten. Auch die Selbstliebe ist uns geboten; sollen wir den Nächsten lieben wie uns selbst, so sollen wir auch uns selber lieben. Das nun, meint ihr, ist der leichteste Theil; für so leicht haltet ihr ihn, daß er sich von selbst verstehe. Ja, sich selbst lieben, ist leicht, ach nur zu leicht, wenn ich mich eben so liebe, wie ich bin! Aber Brüder, warum hat der Heiland gesagt: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren!“ „Will mir jemand nachfolgen, der verläugne sich selbst?“ - So muß ja in uns selbst etwas seyn, das wir nicht lieben, das wir hassen müssen. Dünkt uns die Selbstliebe so leicht: ist es am Ende bloß deshalb, weil ich eben dasjenige selbst liebe, das ich hassen soll? Das ist ein ernster Gedanke, daß wir, wahrend wir meinen, uns selber zu speisen und zu nähren, am Ende tagtäglich beschäftigt sind, in uns selber einem Ungeheuer Nahrung zu reichen, das unser wahres Selbst am Ende aufzehrt! Da kann der ernst gesinnte Mensch wohl wehklagend ausrufen: Wo finde ich nun in meinem Selbst mein wahres Selbst? - O Brüder, um dieses unser wahres Selbst zu finden, und um es zu lieben, müssen wir in das Allerheiligste eintreten: nur die Liebe zu Gott giebt uns ein Auge für das, was in uns selbst Liebe verdient. Sonst geht aus dem Vorhofe der Weg in das Heiligthum, hier geht der Weg aus dem Allerheiligsten erst in den Vorhof. Nur wer sich selbst recht liebt, kann die Brüder recht lieben, nur wer Gott recht liebt, kann sich selbst recht lieben. Nur wer den Heiligen liebt, liebt auch, was in ihm selber heilig ist. Nur wer das ewige Licht liebt, liebt auch in sich selber, was aus dem Lichte stammt. Brüder, die Kraft, in uns selber zu verdammen, was nicht aus Gott ist, können wir erst erlangen, wenn wir Gott lieben. So entfalte sich denn vor euren Augen aufs Neue auch diese unabsehbare Reihe der Pflichten, die in das Allerheiligste hineinreicht. - Nicht bloß an eure Brüder, sondern auch an euch selbst und an euren Gott knüpfen euch Bande der Pflichten ohne Zahl, und sie alle sind heilig; denn die Hand Gottes hat sie geknüpft, des Gottes, der gesagt hat: „Ich bin heilig, und ihr sollt auch heilig seyn!“ die Hand Gottes, die selig machen kann und verdammen. Und nun der Blick auf einen Tag aus eurem Leben, und nun der Blick auf Herz, Kopf und Hand, auf Gefühl, Gedanke und Werk! Und nun tönt noch einmal das Wort Pflicht vor eurem Ohr! Wer aufrichtig gegen sich selbst ist, der ist vor gerechtem Schrecken erstarrt! Ja, es liegt etwas Beklemmendes in dieser Anzahl von Pflichten, mit denen wir umflochten sind. Es giebt dämonische Stunden im Menschenleben - Manche unter euch werden sie kennen - wo der Mensch ganz erzürnt werden kann über dieses Geflechte, und es mit einem Risse zerreißen möchte. O Freunde, wenn der natürliche Mensch dasteht, die schwellende Kraft der Leidenschaft und der Lust in seinen Adern, und die ganze Welt mit ihren Genüssen sich vor ihm öffnet, und die Menschheit bereit ist, ihm zu dienen, und nun aus jeder seiner Pflichten das ernste Wort schreit: Verläugnung! - was Wunder, wenn er rufen möchte, wie es dort im Psalm heißt: „Lasset uns zerreißen seine Bande und von uns werfen seine Seile!“ Aber es ist der Vater Jesu Christi, dem wir gehorchen sollen; und wenn der Mensch diesen Gedanken denkt, wenn er ihn versteht, wenn er ihn glaubt - da faltet er seine Hände und spricht: „Vater meines Herrn Jesu Christi, sei mir armen Sünder gnädig! Vater meines Herrn Jesu Christi, lehre mich mich selbst überwinden! Vater meines Herrn Jesu Christi, sei durch deine Kraft in meiner Schwachheit mächtig!“
Wir haben gesehn, wie das Evangelium uns unsere Wichten heilig macht; wir haben dabei aber auch gesehn, wie damit allein uns das Evangelium noch nicht selig macht. Brüder, wäre Christus nur mit den Geboten der Bergpredigt in die Welt gekommen, so wären wir die Elendesten unter den Menschen; denn wer die Anforderungen der Pflichten an uns steigert, ohne die Liebe und die Kraft zu steigern, und ohne für das, was fehlt, einen Ersatz zu bringen, der hat uns nicht selig gemacht! Dort hat Paulus von Moses geschrieben, daß er „das Amt verwaltet hat, welches die Verdammniß predigt.“ Hätte nun unser Herr und Heiland nichts weiter gethan, als des Moses Gesetz noch verstärkt und gesteigert, im doppeltem Maaße wäre er der Prediger der Verdammniß für die sündige Menschheit geworden! Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ihr, die ihr nur deshalb Christum ehrt, weil er die Bergpredigt mit ihrem geschärften Sittengesetze in die Welt gebracht hat, ihr machet den Berg, wo er sie hielt, zu einem zweiten Sinai; aber er heißt ja der Berg der Seligkeiten! Und warum heißt er so? Weil er siebenfach selig geachtet - nicht diejenigen, die gethan haben, sondern diejenigen, welche gern thun möchten und nicht können, die arm im Geiste und betrübt und demüthig sind, und die da hungert nach der Gerechtigkeit. Mit Anforderungen zuerst tritt Moses auf, und dann mit Verheißungen; mit Verheißungen zuerst tritt der Heiland auf, und dann mit Anforderungen. „Thue dieses, so wirst du leben“ schallt es auf Sinai; „wenn du nicht gethan hast, doch kannst du selig werden“ tönt es auf dem Berge der Seligkeiten. Nicht das macht uns selig, Geliebte, Gottes Willen und Werk in Bezug auf unsere Pflicht vollkommen zu erkennen, sondern nur dies, daß wir mit dem Heiland sagen können: „Das ist meine Speise, daß ich meines Vaters Willen thue.-“ Nicht das macht uns selig, daß wir Gebote der Gerechtigkeit vernehmen, die „größer ist, als die der Schriftgelehrten,“ sondern das macht unsere Seligkeit aus, daß wir mit Johannes sagen können: „seine Gebote sind nicht schwer.“ Zwar preiset die christliche Kirche auch darum ihren Herrn als ihren Erlöser, daß er die Größe unserer Pflichten uns zuerst gelehrt und heilig gemacht hat; aber vor allen Dingen darum, daß er sie uns leicht gemacht hat. Durch das Erste befreite uns der Erlöser vom Irrthum, durch das Andere von Schuld und Sünde. Sonst sehen wir immer, daß die, die uns unsere Pflicht leicht machen wollen, sie recht klein darstellen; die sie aber groß machen, ach! die können sie nicht leicht machen. Wie hat er nun das Werk bewürkt, unsere Pflichten zu gleicher Zeit groß und auch leicht zu machen? Vor allen Dingen dadurch, daß er, als er in die Welt gekommen ist, wie Johannes sagt, denjenigen, die an ihn glauben, „die Macht gegeben hat, Kinder Gottes zu werden.“ Es ist eine unglaubliche Botschaft, die unter uns aufgepflanzt ist, seit das Kreuz auf Golgatha steht, daß für alle solche Menschen, die im Glauben an Christum sich anklammern, kein Gericht mehr ist und keine Verdammniß; denn, wie geschrieben steht: „wer an den Sohn glaubt, der wird nicht mehr gerichtet.“ Seitdem diese Botschaft sich unter den Menschen verbreitet hat, ist denn unter den Menschen etwas ganz Neues eingetreten. Wenn sonst Menschen in der Welt fröhlich und wohlgemuth waren, so waren es diejenigen, welche sich selbst das Gesetz Gottes beschnitten, und von der Sünde nichts wußten; und die Gottes Gesetz erkannten, und von der Sünde wußten, und der Heiligkeit nachjagten, die hat man in der Regel nur sehr betrübt und bekümmert gesehn. Etwas Neues, sage ich, ist seitdem eingetreten; denn die am ernstlichsten der Heiligkeit nachtrachten, das sind die fröhlichsten Menschen. Voll des christlichen Ernstes schreibt Johannes an seine Gemeinde: „Solches schreibe ich euch, damit ihr nicht sündiget;“ freudig aber und getrost kann er hinzusetzen: „und ob auch jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum, der gerecht ist.“ Und nicht bloß das Bewußtseyn, daß ihnen die Schuld nichts schaden soll, hat der Herr den Seinen mitgebracht, sondern auch das andere, gleich heilige und wichtige, daß die Sünde sie nicht überwinden soll. Es ist ein Wort, das Manchen unter euch, für welchen sich mit dem Gedanken an Bekehrung immer zugleich das Bild düsterer Schwermuth verknüpft, Wunder nehmen wird, wenn ich sage, daß die Buße und Bekehrung, die eine wahrhaftige und kräftige Frucht bringen soll, immer fröhlich und guter Hoffnung voll seyn muß. Es ist dies aber in der That eine nothwendige Bedingung, woraus ihr denn auch abnehmen möget, daß der rechte Glaube, wenn auch in der ernsten Zeit des Kampfes der Mensch das Haupt muß sinken lassen, doch nicht zur Kopfhängern führt, sondern zu getrostem Wandel mit aufgerichtetem Haupte. Ihr seht es ja schon im gemeinen Leben, wie zum Können nothwendig ist der Glaube, daß man kann; wo der Mensch den Glauben nicht hat, daß er kann, da kann er auch würklich nicht. Wer nicht glaubt, über den Graben springen zu können, der kann es auch nicht; das eigensinnige Kind, welches nicht glaubt gehen zu können, kann es nicht. Wie soll nun über die Sünde siegen, wer den Glauben nicht hat, daß er es kann? Nun ist aber dies das Große, daß eben Christus einem Jeden seiner Gläubigen die Zuversicht giebt: ich brauche nicht mehr der Sünde Ketten zu tragen; halte ich mich an meinen Befreier, so bin ich frei, frei von der Schuld der Sünde, die hinter mir liegt, frei von der Gewalt der Sünde, die in mir liegt, frei von der Lockung der Sünde, die vor mir liegt. Und die Christen sollten nicht fröhliche Menschen seyn? „Seid getrost - so hat er den Seinigen zugerufen - ich habe die Welt überwunden!“ Und da er überwunden hat, so überwinden auch wir; denn er ist das Haupt, und wir sind die Glieder. In das gläubige Herz zieht er ein, und hilft demselben überwinden. Das ist eine wunderbare Zuversicht des Christen, die ihn zu gleicher Zeit im Kampfe so demüthig macht und so kühn. Er weiß: ich siege, siege sicherlich, - das macht ihn kühn; er weiß: mein Herr siegt in mir, das macht ihn demüthig. „Ich vermag Alles,“ sagt Paulus, und erhebt der ganzen Welt gegenüber seinen Scheitel - „durch den, der mich mächtig macht,“ setzt er hinzu, und schlägt demüthig das Auge nieder, wie ein anspruchsloses Kind, das da weiß, daß es der Gefahr entgeht, aber nur an der Hand seiner Mutter. Für ein Herz, das diesen Glauben gewonnen hat, ist denn auch das Thun des Willens Gottes nicht mehr eine Last, sondern eine Lust. Es kann ein solcher Mensch in Lebensverhältnissen stehen, die mit jeder aufgehenden Sonne ihm die drückendsten Pflichten auferlegen, und doch kann er mit feinem Herrn sagen: daß ich meines Vaters Willen thue, ist meine Speise. Nicht wahr, nach einem solchen Sinne verlangt euer Herz? Ihr könnt es euch nicht verhehlen: jetzt steht es so mit euch, daß, wenn ihr eurer Pflicht genügt, mit Klagen es geschieht und mit Seufzen! Und wie der durstige Hirsch nach der frischen Quelle eilt, so eilet ihr, sobald nur das Band der Pflichten für einen Augenblick gelöst ist, der Lust nach und dem Genusse. Aber ist das der Sinn eures Herrn, der gesagt hat: „daß ich meines Vaters Willen thue, ist meine Speise?“ Jenes Band der Pflicht, ist es nicht ein Band von der Hand deines himmlischen Vaters? Sehet, sehet, welch' einen Segen der Glaube an den Herrn euch bringen will, daß alle eure tägliche Arbeit der Pflicht auch die Speise eures Lebens werden soll! Wird die Pflicht in diesem Sinne geübt um des Herrn willen, dann bekommen die täglichen Geschäfte des Lebens auch einen ganz andern Grundton; sie bekommen eine Wichtigkeit und Würde, die sie vorher nicht hatten. Du siehst dich nicht allein mit der täglichen Bürde deiner Arbeit und deines Lebens, du siehst dich als ein' Glied in der unendlichen Kette von Arbeitern Gottes, die freiwillig oder unfreiwillig an der Geschichte des Menschengeschlechts arbeiten; du legst so viel Geist und Seele in deine Arbeit, als sie irgend zu tragen vermag; du suchst alle diejenigen Seiten daran auf, welche Beziehungen zum Reiche Gottes darbieten; du bringst sie, so viel irgend möglich, in Verbindung mit der zeitlichen Wohlfahrt und dem ewigen Heil deiner Mitbrüder. Und je länger du in diesem Sinne dein tägliches Werk treibst, desto mehr erstaunest du, daß du es hast als so geringfügig und gleichgültig betrachten können, desto mehr wird deine Last eine Lust. - O ihr, die ihr nach dem Namen Christi genannt seid, wie lange wird es dauern, bis ihr Alle mit eurem Herrn sagen könnt: daß ich meines Vaters Willen thue, ist meine Speise! Ernst, wie der Glockenruf, töne in jedweder Stunde das Wort Pflicht in eure Ohren, und durch dasselbe hindurch klinge es zu euren Ohren und euren Herzen: das ist der Wille des Vaters an mich! Ist euch aber das heilige Wort nach allen seinen Beziehungen auf euch verständlich geworden, dringt es mit einer strafenden Gewalt auf euch ein, dringt, so oft das Wort Pflicht euch anruft, auch der Ruf “ Schuld„ zu euren Herzen - oft eilet und werfet vor dem euch nieder, dessen Jünger triumphirend rufen konnte: „seine Gebote sind nicht schwer!“ -
Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.