Tholuck, August - Ephes. 4, 25 "Die Tugend der christlichen Wahrheitsliebe."
Es giebt eine gewisse Gattung von Predigten, welche vor etwa dreißig Jahren sehr häufig an heiliger Stätte gehört wurden, die aber gegenwärtig zuweilen nur mit Mißbilligung genannt werden: die sogenannten Moralpredigten, d. h. Predigten über einzelne Tugenden und Laster. Eine Tugend oder ein Laster wurde vor den Augen der Gemeinde hingestellt und zergliedert; es wurden die Folgen davon gezeigt, es wurde mir der Strafe göttlicher Gerechtigkeit gedroht, wie dieselbe entweder schon hienieden in den Folgen der Sünde sich erweist, oder jenseits offenbar werden wird. Wenn die Predigt nichts weiter gab als dies, so konnte sie freilich nicht eine christliche Predigt genannt werden, und schon dieses, daß man diesen Moralpredigten gegenüberstellte die Predigten über den christlichen Glauben, und somit den Glauben gleichsam aus ihnen ausschied, zeigte, daß es jenen Predigten an etwas Wesentlichem gebrach. Da ging denn die Gemeinde wieder auseinander, und dieser und jener, der gerade von dem einzelnen Laster sich frei wußte, dankte Gott mit dem Pharisäer: „Ich danke dir, daß ich nicht bin, wie andere Leute,“ oder aber eine geängstete Seele rief aus: „Ach die Wunde kenne ich längst, aber wo ist das Pflaster, Mann Gottes, wo ist der Balsam von Gilead?“ Wohl giebt es aber auch eine christliche Art, über einzelne Tugenden und Sünden zu predigen, wo nämlich die einzelne Tugend in ihrem Zusammenhange mit dem gemeinsamen Quell aller wahren Tugend dargestellt wird, die einzelne Sünde als die Erscheinung der gemeinsamen Krankheit, an der wir alle darniederliegen, wo dann aber auch hingewiesen wird auf jenen Balsam von Gilead, der alle Wunden heilt. Ja, es ist heilsam und nothwendig, über solche einzelne christliche Tugenden zu sprechen, dieweil der Mensch so gern sich selbst belügt. Man glaubt, im Allgemeinen im geistlichen Leben zu wachsen, und läßt der Sünde diesen und jenen besondern Schlupfwinkel, und erst, wenn einmal wieder das christliche Gesetz in seinem strafenden Glanze vor uns aufgeht, sehen wir, wo es uns fehlt. - So laßt uns denn an dem heutigen Tage die Tugend der christlichen Wahrheitsliebe mit einander betrachten. Wir schließen diese Betrachtung an das Wort des Apostels Epheser 4, 25. an: „Darum leget die Lügen ab, und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind.“
Nur nach Einer Seite hin spricht an dieser Stelle der göttliche Apostel von der Wahrheitsliebe, nämlich von der Wahrheitsliebe gegen den Nächsten. Wir wollen aber diese Tugend in einem noch weitem Umfange fassen: wir wollen auch von der Wahrheitsliebe gegen uns selbst und gegen Gott sprechen; denn nach allen diesen Seiten hin muß die christliche Wahrheitsliebe sich offenbaren. So laßt uns denn fragen: 1) wie äußert sich die christliche Wahrheitsliebe? und 2) wie gelangt man zu ihr?
Wie äußert sich die christliche Wahrheitsliebe?
Der neue Mensch, der wiedergeboren ist nach dem Ebenbilde Gottes, der, wie die nächstvorhergehenden Worte unseres Textes es nennen, erneuert ist im Geiste, ist erstens wahrhaftig gegen den Nächsten, zweitens wahrhaftig gegen sich selbst, drittens wahrhaftig gegen Gott. -
Der im Geist erneuerte Mensch, sag' ich, ist wahrhaftig gegen seinen Nächsten. Laßt mich hier mit einer Anklage beginnen, die euch nicht verletze; mit der Anklage, daß wir allesammt nicht wahrhaftig sind gegen einander, daß wir allesammt im Verhältniß zu einander mit Lügen umgehen. Ihr bezweifelt es? Wie, wenn nun plötzlich unser Aller Brust sich aufthäte, und wenn einer in des Andern Brust jedweden Gedanken lesen könnte - wie wird euch, wenn ihr euch dieses vorstellt, zu Muthe, meine Brüder? Ergreift Unruhe und Beklommenheit eure Seele? Nun denn, so giebt euer eigenes Gewissen Zeugniß meiner Rede, daß wir allesammt noch nicht ganz wahrhaftig gegen einander sind. Wenn wir es bedenken, daß wir allesammt von Einem Blute entsprossen, und somit in der That leiblich mit einander verwandt sind, daß wir allesammt mit einem und demselben Blute der Versöhnung besprengt sind, und somit in Wahrheit zu einem geistigen Bruderbunde bestimmt, daß so viele ihrer in Christo sind, diese auch Glieder sind Eines gemeinschaftlichen Leibes, wie der Apostel auch in unserm Texte sagt - wir sollten in Lügen mit einander umgehen? und sollten uns einander nicht zeigen, wie wir sind? Wenn wir bedenken, wie die Zeit, in der wir hier in der Verhüllung des Fleisches einhergehen, so kurz ist, wie jene lange Zeit so gewiß kommt, wo die Fleischeshülle fallen wird, und wir vor einander nackend dastehen werden - wir sollten krampfhaft den Schleier des Geheimnisses vor unserer Brust festhalten, bis unerbittlich der Tod ihn uns abreißen wird? O Brüder, wie reicht diese Eine Betrachtung aus, uns weich zu machen, wie möchte man, wenn man dies bedenkt, Allen um den Hals fallen, und sagen: mein Bruder, was du bist, das bin ich auch, und ich will mich nun auch hinter keinen lügenhaften Schleier mehr vor dir verbergen! Das gilt in Bezug auf alle Menschen - aber wir sind nicht bloß unwahr in Bezug auf die Menschen im Allgemeinen, wir sind es gegen Weib und Kind, Freund gegen Freund, und nicht bloß in den geringen Angelegenheiten der Erde, auch in den heiligsten. Da geht Jahre lang der Mann neben dem Weibe her, der Vater neben dem Sohne, der Freund neben dem Freunde, - und nicht Ein offenes, wahres gegenseitiges Geständniß, wie sie zu Gott stehen, wie sie zum Glauben stehen. Und erst dann, wenn die Hand des Todes dir gewaltsam die Decke abreißt, und du sie nicht mehr halten kannst, erst dann willst du sie fahren lassen? Und was soll ich es verschweigen? Dringt diese Unwahrheit nicht selbst bis in das Heiligthum des Herrn ein, so daß der Miethling, um des elenden Brotes willen, mit seinen Lippen einen Glauben Predigt, von dem sein Herz fern ist! O nicht wahr, namentlich ihr, die ihr einst von der Kanzel herab zu der Gemeinde reden sollt, ihr ruft mit mir aus: Selig ist der Mann, der mit Paulus sprechen kann: „Ich glaube, darum rede ich!“ Und ihr Alle ohne Unterschied ruft aus: „Selig ist der Mann, welcher den Augenblick nicht zu fürchten braucht, wo einst durch die zertrümmerte Brust sein Herz vor den Menschen wie vor Gottes Augen offen liegen wird.“ - Nur von dem Mangel an Wahrheitsliebe haben wir hier gesprochen, der mit Bewußtseyn stattfindet; aber wenn ich nun auch noch von dem weiten Gebiete der Unwahrheit gegen den Nächsten sprechen sollte, die uns selber nicht zum Bewußtseyn kommt? Ich bin überzeugt, daß Mancher unter euch, wenn er in einem stillen Augenblicke das gesellige Leben betrachtet, von tiefer Wehmuth bei dem Gedanken ergriffen worden ist, wie sehr die Lüge darin herrscht. Wie ist die Unwahrheit mit so vielen Formen unseres geselligen Lebens so eng verbunden! Wie viele Versicherungen der Liebe und Achtung gehen über die Lippen, von denen das Herz nichts weiß! Wie viele lügenhafte Entschuldigungen vor Menschen, die uns schuldig machen vor Gott! Wie viel Unwahrheit aus Menschenfurcht und Menschengefälligkeit? Giebt es nicht Menschen, an denen kein Zug im Gesicht ist, den man als den reinen Ausdruck ihres. Innern ansehen könnte? Und dies ganze Lügenwesen ist so tief gewurzelt, daß wir's am Ende selbst nicht mehr wissen! Und wie schrecklich wird das Wiederbegegnen seyn, wenn sie Alle, die so mit einander wie auf der Schaubühne gesprochen und gelebt haben, ohne Hülle erwachen werden, wenn das Theaterlicht auslöschen wird, welches so viel falschen Schein verbreitet hat - wenn man sich sehen wird, wie man ist!
Es giebt indessen wenigstens einzelne Menschen, bei denen diese gröbste Art der Unwahrheit, die gegen den Nächsten, gar nicht, oder nur in ganz geringem Maaße stattfindet. Es giebt gewisse Menschen, die, sei es Natur, sei es Gnade, im Verkehre mit dem Nächsten durchaus rechtschaffen und zuverlässig sind, an denen jede Miene als ein Buchstabe angesehen werden kann, durch den ein Gedanke des Herzens sich im Angesichte malt. Mit solchen Menschen hat man es gern zu thun, das sind Nathanaels ohne Falsch; von Manchem unter ihnen würde der Herr sagen, was er zu dem jungen Schriftgelehrten sprach: „Du bist nicht fern vom Reiche Gottes.“ Indessen eine feinere Art der Unwahrheit giebt es noch, Geliebte, an der gewiß, wie wir Alle, so auch jene Rechtschaffenen kranken, die im Verkehr mit ihren Nebenmenschen Nathanaels sind ohne Falsch. Das ist die Unwahrheit gegen uns selbst und die Unwahrheit gegen Gott. Ich verbinde diese zwei Arten der Unwahrheit, weil sie würklich mit einander eng verbunden sind. Der Mensch wird nicht eher wahr gegen sich, als bis er wahr gegen Gott wird, und wird nicht eher wahr gegen Gott, als bis er wahr gegen sich wird. Die Selbsterkenntniß ist eine Höllenfahrt - wer wagt sie, der es nicht um Gottes willen thut, und wer findet im Abgrunde der Brust die Hölle, dem nicht der Strahl von Gottes Angesichte dabei leuchtet?
Die erste Unwahrheit gegen uns selbst und gegen Gott besteht nun darin, daß wir es absichtlich vermeiden, uns im Angesichte Gottes kennen zu lernen, daß wir die stillen Stunden nicht suchen. Es kann dieses vielleicht bei dem Einen oder bei dem Andern eine fast durchaus unbewußte Unwahrheit seyn, es kann die Frucht eines ganz gedankenlosen Leichtsinns seyn, der da lebt, als ob er nie stürbe; aber unter uns, die wir im Bereiche der christlichen Kirche leben, dürfte wohl bei weitem in den meisten Fällen bei dieser Art der Unwahrheit gegen uns selbst in irgend einem Maaße ein Bewußtseyn darüber stattfinden, daß wir unwahr sind. Sollten es nicht die Meisten unter uns recht wohl wissen, daß, wenn sie öfter in stiller Stunde vor Gottes Angesichte sich selbst prüften, daß sie sich dann in einem ganz andern Lichte erscheinen würden? Ihr wisset es, jener Juwelenglanz, jener prunkende Schmuck, der im Lampenlichte die Augen entzückte - wie er so oft erbleicht, wenn die Morgensonne darüber aufgeht, weil es falsche Edelsteine waren. O so mancher, mancher unter euch, meine Lieben, trägt aber auch das Bewußtseyn mit sich herum, daß er fortwährend in einem solchen falschen Lampenschimmer sich bewegt. Ihr haltet ihn aber fest, weil ihr fürchtet, daß sich eure Juwelen, wenn sie das Sonnenlicht erblickten, als falsche Edelsteine ausweisen würden. Arme, getäuschte Seelen! Jetzt seid ihr froh, daß ihr dem Sonnenstrahl euch zu entziehen wißt; wenn aber am Entscheidungstage die Morgensonne aufgehen wird in ihrem Glanze - könnt ihr sie anhalten und sagen: Sonne, bescheine mich nicht? So ist also für euch gerade jene Sonne, die alle Nacht vertreibt, der Dieb in der Nacht, vor dem euch grauet, und der euch kein ruhiges Gewissen läßt, weil er einst alle eure Schönheit rauben wird! - Eine andere Unwahrheit ist aber die, daß, wenn wir nun auch vor das Angesicht Gottes uns stellen, um uns selbst kennen zu lernen, daß wir dann die rechten Spiegel nicht mitbringen. Es hat allemal eine segensreiche Würkung, wenn man aus dem Geräusch in die Stille kommt, und noch mehr, wenn man zu sich selbst kommt, um zu Gott zu kommen. Ja, es liegt etwas unaussprechlich Großes darin, sich allein zu wissen mit dem Auge, das in's Verborgene sieht, und es kann nicht fehlen, es gehen allemal aus diesem Auge, wenn der Mensch sich ihm nur gegenüberstellt, strafende und beschämende Strahlen hervor, welche in Einem Nu den Schleier der Lüge verbrennen, den er vor sein eignes inneres Auge hängte. Aber, Geliebte, soll eine solche Selbstbeschämung fruchtbar seyn, so müssen wir doch immer in das stille Heiligthum zugleich einen Maaßstab mitbringen, daran wir uns messen, und das Bewußtseyn der Gegenwart des göttlichen Auges wird nur dazu dienen, daß wir diesen Maaßstab mit Ernst und mit Strenge anlegen. Was bringen nun wohl die meisten, wenn sie so ins stille Heiligthum treten, für einen Maaßstab mit? Es ist das Urtheil ihrer Nebenmenschen - ihrer Nebenmenschen, über die sie selbst hundertmal Klage geführt, daß das Auge derselben so blind, daß ihr Mund so lügenhaft sei. Seltsamer Widerspruch! Alle klagen über den Mangel an Wahrheit unter den Menschen - und wollen sie die Wahrheit über sich selbst erfahren, so nehmen sie doch wieder jenen lügenhaften Mund zum Maaßstab ihrer selbst. Ja, und wenn sie nur in Wahrheit zu erfahren begierig wären, was die innerste Meinung derer, mit denen sie umgehen, über sie ist! Denn wie oft sieht doch das Auge des Nächsten schärfer, als das eigene, und wenn es auch nur die Lieblosigkeit wäre, die ihm diese Schärfe giebt! Aber, lasset uns redlich seyn: wie viele möchten wohl unter uns seyn, die mit Freuden es annähmen, wenn man es ihnen anböte, ihnen der Mitmenschen innerste Meinung über sie zu sagen? Keiner täusche sich selbst! Wir fürchten uns, die wahre Meinung unserer Nebenmenschen über uns zu hören, wir fürchten, daß Wahrheit dann seyn könnte, daß wir vor uns selbst erschrecken müßten. Bei solchem Widerspruche mit uns selbst können wir es demnach wohl nicht läugnen, daß wir, wenn wir der Menschen Meinung, die wir über uns vernommen haben, zum Maaßstabe unserer Selbstprüfung vor Gott machen, ein lügenhaftes Spiel treiben mit uns selbst und mit Gott.
Bei solchen Betrachtungen ruft man wohl mit Salomon aus: „Wehe! Gott schuf den Menschen einfach, aber sie suchen viele Künste!“
Erleuchte mich, mein Licht,
Ich bin mir selbst verborgen;
Wenn's nicht durch Dich anbricht,
Hilft mir nicht all' mein Sorgen:
Zünd't Gott das Licht nicht an,
Der Mensch es nimmer kann.
Mach' mich einfach und klar,
Gieb mir ein Kindes-Wesen,
Mach' Alles an mir wahr,
Dann werd' ich erst genesen;
Zünd't Gott das Licht nicht an,
Der Mensch es nimmer kann.
So betet die Seele, die zur Erkenntniß des Lügenschleiers gelangt, der sie rings umzieht. Und wir legen uns die Frage vor:
Wie gelangt man zur christlichen Wahrhaftigkeit?
Vielleicht ist manche redliche Seele unter euch, indem wir diese Betrachtung anstellten, über sich selbst erschrocken; ihr verachtet die Unwahrhaftigkeit an euch selbst mit einem edeln und gerechten Zorne. Ihr wollt anders werden. Und wie? - Manchen höre ich hier sagen: durch den kräftigen Entschluß! Aber der Entschluß eines Menschen, meine Brüder, ist eine Blume; wie lange sie frisch und freudig blüht, das hängt von dem Boden ab, darin sie erwachsen ist. Habt ihr's denn nimmer erlebt, wie der Entschluß, der aus einer vergänglichen Rührung hervorgegangen war, auch nur eine vergängliche Blume war, die bald ihre Blätter senkte, und ihr Haupt zur Erde neigte? Entschließungen zur Tugend bleiben beim Menschen nur frisch, wenn sie in frischem Boden wurzeln. Wie viel wird nicht auch in unserer Erziehung dadurch gefehlt, daß ihr Aeltern immer nur auf die Blume dringt, aber nicht für den Boden sorgt, darin sie wachsen kann! Welches ist nun dieser Boden für die christliche Wahrheitsliebe? Es ist das Bewußtseyn der Allgegenwart Gottes, das Bewußtseyn der Nähe des Auges, das ins Verborgene sieht. Wenn ihr jetzt wieder hinausgeht in die Welt, und wenn der Entschluß in eurer Seele gereift ist, nach des Apostels Wort alle Lüge abzulegen, und Wahrheit zu reden, Einer gegen den Andern: nicht darauf verweise ich euch, daß ihr auf die Kraft eures jetzt gefaßten Entschlusses die Hoffnung des Gelingens baut, sondern darauf verweise ich euch, daß ihr auf's Neue aus diesen Hallen mitnehmet das Bewußtseyn der fortwährenden Gegenwart jenes Auges, das ins Verborgene sieht, und dem die Lüge ein Gräuel ist. Erinnert ihr euch jener zahlreichen Versicherungen des Apostels, daß ihm ein Zeugniß gebe „sein gutes Gewissen im Angesichte Gottes?“ Ja, wenn wir dessen eingedenk wären, daß, wo wir unsere Herzen vertraulich vor einander ausschütten, der Gott der Wahrheit der Dritte unter uns ist; wenn wir dessen eingedenk wären, daß, wo wir bei erborgtem Lampenschimmer ein lügenhaftes Schauspiel vor einander aufführen, ein verborgener Zuschauer gegenwärtig ist, der nicht bloß im Angesichte, sondern im Herzen liest - es wäre unmöglich, daß so viel Unwahrheit in unserm Verkehr mit einander stattfinden könnte. Ach, warum leben wir so ohne Gott in der Welt! -
Dies ist, meine Freunde, die vornehmste Verwahrung vor der Unwahrheit gegen unsern Nächsten. Was aber die Unwahrheit gegen uns selber und gegen Gott betrifft, so sei Zweierlei euch an das Herz gelegt. Zuerst, meine Geliebten, suchet euch einen Freund in Gott und vor Gott! Verstehet ihr, was dieses heißt? Einen Freund, den ihr liebet, weil er Gott liebt, und in dessen Hand ihr einschlaget, nicht um ein vergängliches Gut vergnüglicher zu genießen, sondern um das ewige Gut sicherer zu erkämpfen. Suchet euch einen Freund, der in ernster Liebe euch dienend die Fackel trägt, wenn ihr die Höllenfahrt der Selbsterkenntniß in euch selber antretet. Wie wenige Freundschaften giebt es in unserer Zeit unter denen, Hie im männlichen Alter stehen, welche nur überhaupt den Namen Freundschaft verdienen; wie wenige solche Verbindungen, wo würklich jedes Geheimniß von beiden Seiten aufgehört hat, wo man kein Blatt im Buche seines Herzens hat, in dem der Freund nicht lesen dürfte, und nicht gelesen hätte! Und wenn es solche giebt: wie wenige mögen wieder unter denselben seyn, die in Gott und vor Gott geschlossen sind, nicht um das vergängliche Gut vergnüglicher zu genießen, sondern um das ewige Gut sicherer zu erkämpfen! Ihr vom jüngeren Geschlecht, für euch insbesondere ist die Zeit da, solche Freundschaften zu schließen, so lange die Herzen offen und weich sind - was ihr jetzt versäumt, wird das spätere Leben euch kaum so wieder entgegenbringen. O wie man aus dem Munde eines solchen Freundes auch das strafende Wort so willig vernimmt, o wie man die Höllenfahrt der Selbsterkenntniß so viel bereitwilliger antritt, wenn die Gestalt des treuen Freundes leise und feierlich uns in die stille Tiefe hinabfolgt. Jünglinge, ihr habt Freunde: o daß eure Freundschaft auf einem unvergänglichen Grunde ruhte, daß ihr sie heiligtet in Gott! Daß ihr auch dazu eure Hand in des Freundes Hand legtet, um mit ihm gemeinsam nach der Wahrhaftigkeit zu ringen!
Dann aber, was das Andere ist, christliche Brüder: wenn ihr in das stille Heiligthum geht, nehmt den rechten Maaßstab mit - das Wort des lebendigen Gottes. Es werde euch dieses Gotteswort, was für das leibliche Angesicht der Spiegel ist, darin ihr alle Tage euer Antlitz beschauet (Jak. 1, 23.). Was nach dem Worte Gottes an dir gut ist, das ist gut: was Gottes Wort an dir verdammt, das ist verderblich. Es sind unter den ernster gesinnten Menschen nicht viele, die sich nicht irgend ein Vorbild, ein Ideal erwählt hätten. Ich beschwöre euch, daß ihr euch hütet, einem Götzen zu dienen! Deinen Herrn Christus stelle vor deine Seele alle Morgen, und bete, daß du in seinen Fußtapfen wandeln mögest, deinen Herrn Christus stelle vor deine Seele alle Abende, und frage, ob du in seinen Fußtapfen gewandelt bist. Eine solche Prüfung bringt Wahrhaftigkeit in den Menschen; da wird man erst inne, daß, wie viele solche Freunde und Rathgeber man auch gehabt hat, alle menschlichen Gerichte und Maaßstäbe trüglich sind. Da kommt man zu dem Bewußtseyn, daß man vor Gott verdammt seyn kann, obgleich alle menschlichen Richter uns selig sprechen, daß man vom göttlichen Gericht losgesprochen werden kann, obgleich alle menschlichen Gerichte uns verdammen. Da sagt man mit dem innersten Gefühl der Wahrheit des Apostels Worte: „Mir aber ist es ein Geringes, daß ich von einem menschlichen Tage gerichtet werde! auch richte ich mich selbst nicht - der Herr ist es, der mich richtet!“
Der Herr ist es, der uns richtet, lieben Brüder; so lasset uns denn in der Lauterkeit und Wahrheit wandeln vor seinem Angesichte!
Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.