Tholuck, August - Die Lauigkeit des Christentums
Erinnert ihr euch wohl, meine Freunde, beim Durchlesen der Schriften des Neuen Bundes auch auf Briefe von unserem Heiland selbst gestoßen zu sein? Es finden sich dieselben in einem Buch des Neuen Testaments, welches in jetziger Zeit nicht mehr häufig von den Gemeinden gelesen wird, in der Offenbarung Johannis. Wohl kann auch nicht der Seelsorger anraten, vor andern dieses Buch zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Die Aussichten, die dasselbe in die Zukunft der Kirche gibt, auszudeuten, ist nicht eines Jeden Geschäft. Die Erfahrung zeigt, dass viel öfter die Neugierde, als die Heilsbegierde zum Forschen in jenem geheimnisvollen Buch Veranlassung gegeben hat. Nichtsdestoweniger enthält dasselbe auch treffliche Speise für die Heilsbegier, und darf darum wenigstens nicht ausgeschlossen bleiben von der erbaulichen Betrachtung der Christen. Insbesondere findet ihr am Anfang desselben sieben Sendschreiben an die Gemeinden Kleinasiens, dem Jünger des Herrn eingegeben, welche so tief und treffend verschiedene Stufen und Gestaltungen des Christenlebens darstellen, dass Manche geglaubt haben, es sei in ihnen der geistliche Zustand ganzer Jahrhunderte oder großer Völkermassen der Christenheit dargestellt. Lasst uns in unserer heutigen Andacht das Eine jener Sendschreiben näher in Erwägung ziehen, welches dem Engel, das ist dem Vorsteher der Gemeinde zu Laodicea, geschrieben wird. Da heißt es im 3. Kap. vom 14. bis zum 22. Vers: „Und dem Engel der Gemeinde zu Laodicea schreibe: Das sagt Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes: Ich weiß deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärst! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund. Du sprichst: ich bin reich, und habe gar satt, und darf nichts; und weißt nicht, dass du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das mit Feuer durchläutert ist, dass du reich werdest; und weiße Kleider, dass du dich antust, und nicht offenbart werde die Schande der Blöße, und salbe deine Augen mit Augensalbe, dass du sehen mögest. Welche ich lieb habe, die strafe und züchtige ich. So sei nun fleißig und tue Buße. Siehe, ich stehe vor der Tür, und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen, und das Abendmahl mit ihm halten, und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf einem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe, und bin gesessen mit meinem Vater auf seinem Stuhl. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.“
Lasst uns nach Anleitung dieser Worte die Lauigkeit im Christentum betrachten, und zwar insbesondere 1) ihre Beschaffenheit, 2) ihr Heilmittel.
„Ich weiß deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist; ach dass du kalt oder warm wärst!“ - so ruft der Herr jener Gemeinde zu. O, dass es diese Gemeinde in Laodicea allein wäre, welcher er dies zurufen musste! O dass nicht, wenn wir auf alles das blicken, was Christen und Christentum heißt, Laodicea wäre, so weit die Christenwelt reicht! Wenn irgend eines der zum Teil so ernsten und strengen
Worte, die der Herr in jenem Sendschreiben ausruft, eine allgemeine Anwendung findet, so ist es wahrlich dieses. Darum ich denn auch gewiss weiß, auch in dieser Gemeinde wird dieses Wort sich als ein Brief erweisen, den der wahrhaftige und treue Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes an Manchen, Manchen unter euch geschrieben hat. Und wer in der heutigen Stunde inne wird, dass er an ihn geschrieben ist, dem rufe ich im Namen Christi zu: „Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“
„Das sagt Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes.“ Das ist die Einleitung, mit welcher das Sendschreiben beginnt. Gleich vorn an die Spitze ihrer Sendschreiben pflegten die Alten ihren Namen samt Würden hinzusetzen, gleichsam damit bei keiner einzigen Zeile vergessen würde, wer da sei, der da rede. So lest ihr am Anfang der Briefe des Apostels Paulus allenthalben: „Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes“, und durch den ganzen Brief hindurch, bei jedem Wort desselben soll es in dir nachtönen: Der, den Jesus Christus ausgesondert hat zu predigen das Evangelium Gottes, der ist's, der da redet. So kündet denn auch das Anfangswort dieses Sendschreibens hier an, wer es ist, der zu dir redet. Amen heißt er, das ist wahrhaftig, der treue und wahrhaftige Zeuge, vor dessen Augen alle Höhen und Tiefen aufgetan sind, dessen Wort wahr bleibt, auch wenn aller Menschen Wort zur Lüge werden sollte. Es ist der Anfang der Kreatur Gottes, es ist der, durch den und in welchem alles Geschaffene seinen Anfang genommen hat, und vor dessen Augen es darum auch aufgedeckt ist ohne Schleier. Es ist der, der dich besser kennt, als du dich selbst kennst.
O, ruft die demütige Seele aus, wenn sie diese Ankündigung vernimmt, ich habe so viel falsche Zeugnisse über mich selbst vernommen, so viele von solchen, die nur die Oberfläche gesehen haben, gern möcht' ich einmal ein ganz wahrhaftiges Wort über mich selbst hören - rede, du wahrhaftiger Zeuge Gottes! Ich will hören. Und er beginnt: „Ich weiß deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist; ach dass du kalt oder warm wärst!“ Wehe, wie das Wort tief in die Brust hineingreift! Warm für Christum bin ich ja freilich nicht, denn ach! wie oft redet er, ohne dass ich brenne, ach! wie oft ruft er, ohne dass ich laufe. Aber ich bin doch auch nicht kalt, denn gleichgültig ist er mir nicht, und damit meint' ich mich trösten zu können. Und siehe, nun heißt es, „ach dass du kalt oder warm wärst: weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund.“
So ruft die redliche Seele, wenn sie dieses Wort des Herrn vernimmt, und will fast verzagen. Damit nun aber dieses schneidende Wort nicht noch Wunden schlage in schon gebrochene Herzen, damit es die treffe, welche es soll, und wie es soll, so lasst uns genauer die Beschaffenheit dieser Lauheit, welche der Herr hier richtet, beachten. Sie wird uns sogleich näher bezeichnet, indem es im folgenden Verse heißt: „Du sprichst: ich bin reich, und habe gar satt, und bedarf nichts.“ So seht ihr denn, welches jene laue Herz ist, das hier gestraft wird. Das laue Herz ist das Christenherz, welches im Genuss der Heilsgüter die Sehnsucht verloren hat. Welches die Sehnsucht verloren hat? - fragt ihr - und es nimmt euch dies Wunder. So lange, sagst du, bin ich außer Christo mit meiner Sehnsucht umhergeirrt, und nun soll ich bei ihm wiederum nichts Anderes finden? Sind als die Jünger des Herrn wir wieder auf die Sehnsucht gewiesen, warum hat er uns getäuscht, als er uns einlud: „nehmt auf euch mein Joch, und lernt von mir, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“? Warum hat er uns getäuscht, indem er rief: „wer dieses Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten.“? Geliebte, es ist wohl wahr, dass man in Christo zur Ruhe kommt. „Nun sind wir Gottes Kinder,“ spricht Johannes, und man fühlt's ihm an, dass er ausruht, indem er dieses Wort sagen kann. „Und ob auch Jemand sündigt, setzt er hinzu, so haben wir einen Fürsprecher beim Vater, Jesum Christum, und derselbige ist die Versöhnung für unsere Sünden.“ Seht da, Geliebte, das sanfte und leichte Joch, darunter man zur Ruhe kommt. Seht da das Wasser, das den Durst auf ewig stillt. Diese Ruhe und Genüge aber, die man also durch Christum im Glauben findet - sagt mir - ist es wohl eine andere, als die Ruhe jenes verlorenen Sohnes, da er aus der Fremde sich aufgemacht hatte, um zum Vater zurückzukehren, und die offenen Vaterarme ihm entgegengekommen waren, und er nun für immer am Vaterhaus ausruhen konnte? Das, meine Geliebten, ist die Christenruhe. Wer aber unter euch könnte meinen, dass solche Ruhe bei dem verlorenen Sohne die Sehnsucht ausgeschlossen habe? O ich meine, dass sie vielmehr erst recht erwacht sei. Die Kindesrechte und den Kindesnamen hatte er wiedergefunden ohne Verdienst und Würden, und das gab ihm die Ruhe; aber eben diese Ruhe hat ihm die Sehnsucht gegeben, sich nun auch dieses Kindesnamens würdig zu machen. Geliebte, Niemand hat euch zu Söhnen Gottes machen können, als der, welcher allein im wahrhaftigen Sinne der rechte, der eingeborne Sohn des himmlischen Vaters war. Er allein hat durch seinen vollkommenen Gehorsam bis zum Tode euch loskaufen können von der Schuld eurer Sünde, also dass ihr gerecht worden seid durch seine Wunden. Warum anders hat er euch aber losgekauft von dem Fluche eurer Sünde, als damit er der Erstgeborne sei unter vielen Brüdern? (Röm. 8,29.) Durch seine Loskaufung hat er euch das Recht erworben, schon jetzt Kinder Gottes zu heißen, wie geschrieben steht: „Seht, welche Liebe hat uns der Vater erzeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!“ (Joh. 3,1.); vermöge des Glaubens hieran hat er euch aber auch zugleich die Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.“ (Joh. 1,12.) Darum wo irgend ein Christenherz durch den Glauben dessen gewiss geworden ist, dass das verlorene Kind aus Gnaden wieder eingesetzt ist in die verlorenen Kindesrechte, da ist auch ein Verlangen danach, durch die Macht, die Christus gegeben hat, der unverdienten Kindesrechte sich würdig zu erweisen, und gleich zu werden dem Ebenbild des rechten Sohnes, damit er der Erstgeborne sei unter vielen Brüdern. So kann denn also auch im rechten Christenleben die Zeit nimmer kommen, da man spräche: „ich bin reich, und habe gar satt, und bedarf nichts.“ Gern glaube ich es wohl, Geliebte im Herrn, wenn ich nun den Blick wiederum auf euch insbesondere werfe, dass vielleicht solche unter euch nicht gefunden werden, die jene Rede führen möchten. Die Scham würde euch davon abhalten. Aber während ihr euch schämt zu bekennen, dass ihr geistlich satt und reich seid, so schämt ihr euch nicht zu leben, als ob ihr satt und reich wärt. O wie viel satte Menschen gibt es derzeit unter denen, die sich zu Christo bekennen! Sagt mir aufrichtig, wenn ihr euch prüft, was der Mittelpunkt alles eures Strebens und Verlangens ist, worauf Tag für Tag euer Dichten und Trachten geht? Ist es wirklich dies, von Tag zu Tag die von Christo euch verliehene Macht treuer anzuwenden, um das zu werden, was ihr durch Gottes Gnade jetzt heißt - Gottes Kinder? Gibt es Tränen in eurem Leben, gibt es täglich Tränen darüber, dass ihr noch nicht „würdig wandelt eurer himmlischen Berufung?“ Kann einer das aufrichtig von sich sagen, der gehört nicht zu den Satten, der gehört also auch nicht zu den Lauen. Aber wohl fürchte ich, dass Mancher, Mancher aus unserer Mitte dazu gehöre; denn, sehen wir auf die Masse, so ist die geistliche Sattheit die Krankheit unserer Zeit. Aus Liebe streben wir nicht nach der rechten Kindschaft, weil uns der Glaube fehlt, und für diesen uns empfänglich zu machen, fehlt uns das Gesetz. Lasst es mich gerade heraus sagen: es fehlt uns an der Furcht Gottes! Gar manche Prediger teilen das Wort Gottes nicht recht. Sie predigen euch nur die Eine Hälfte. Es wird das Eine Wort Gottes euch gepredigt: „Gott ist die Liebe,“ und das andere euch verschwiegen: „Gott ist ein Licht, in dem keine Finsternis ist,“ es wird das Eine Wort Gottes euch gepredigt: „er lässt seine Sonne aufgehen über die Guten und Bösen“, und das andere euch verschwiegen: „es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen;“ ihr werdet immer nur eingeladen: „kommt, es ist alles bereitet“ und es wird euch nicht zugerufen: „schafft eure Seligkeit mit Furcht und Zittern!“ O Freunde, wie zu den Zeiten Ezechiels des Propheten, muss der Herr Wehe rufen über solche falsche Propheten, „die da sagen Friede, Friede, so doch kein Friede ist. Das Volk baut die Wand, so tünchen sie sie mit losem Kalk. Sprich zu den Tünchern, die mit losem Kalk tünchen, dass es abfallen wird, denn es wird ein Platzregen kommen, und werden große Hagel fallen, die es fällen, und ein Wirbelwind wird es zerreißen.“ Meine Brüder, es ist dies ohne allen Zweifel der Hauptgrund, warum so viel Lauigkeit unter uns ist, warum die Leute so reich und so satt sind. Moses hat ihnen den Himmel noch nicht zugeschlossen, darum sind sie so lau gegen Christum, der allein ihnen denselben aufschließen kann. Und ihr, die ihr berufen seid, das Wort Gottes einst zu verkündigen, ich beschwöre euch, wenn ihr einst auf der Kanzel stehen werdet, bei dem lebendigen Gotte, dass ihr das Wort recht teilt, dass ihr den Weg zur Seligkeit nicht breiter macht, als der, den ihr euren Herrn nennt, ihn gemacht hat.
So werdet ihr denn von selbst abnehmen, was gegen solche Lauigkeit und Sattheit das Heilmittel sei. Das Sendschreiben des Herrn spricht es aber auch mit deutlichen Worten aus, denn also spricht der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes: „ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das mit Feuer durchläutert ist, dass du reich werdest, und weiße Kleider, dass du dich antust, und nicht offenbar werde die Schande deiner Blöße, und salbe deine Augen mit Augensalbe, dass du sehen mögest.“ Augensalbe - das ist das erste, was ihr lauen Seelen braucht. Da hast du dir einige einzelne gute Taten umgeworfen, und das leichte Kleid deiner oberflächlichen Erkenntnis der Heilswahrheit darüber gezogen, um damit zu verdecken, was an den Werken fehlen möchte, und in der Blödigkeit deiner Augen stolzierst du daher, deiner Schönheit dich freuend - wehe dir! - vor menschlichem Auge bist du vielleicht in köstliche Seide gekleidet, aber vor Gottes Auge stehst du nackend da in der Schande deiner Blöße. O kauft Augensalbe, ihr lauen Herzen! dass eure Nacktheit euch offenbar werde und ihr nach den weißen Kleidern und nach dem lauteren Gold verlangt, das Christus gibt. Mit andern Worten: lasst das Gesetz euren Zuchtmeister werden auf Christum! „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg“ ruft der Psalmist. Ihr lauen Christen, ihr habt euch zu lange nur an menschlichem Maßstab und menschlicher Lehre gemessen, ihr habt zu lange diese göttliche Leuchte bei Seite gesetzt, und seid in der Finsternis gewandelt, als wäre sie Tag. O sucht das Gesetz des Herrn wieder hervor in euren Häusern und Familien, dass es euch eine Augensalbe werde, durch die ihr seht, dass ihr seid elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Und zwar gilt dieses in einem gewissen Sinne uns Allen ohne Unterschied, denn in irgend einem Maß sind doch wir alle blind gegen unsere Nacktheit. In irgend einem Maß gilt von uns Allen, dass wir noch zu satt und zu reich sind. Wohl gibt es unter uns noch manche Christen, denen man es ansieht, dass sie Knechte sind, die auf ihren Herrn warten, und deren Lampen brennen; aber gerade diese werden auch am ehesten gestehen, dass mit ihrer Warme noch immer eine Lauigkeit vermischt ist. Damit nun aber auch dieser geringere Grad von Kälte uns nicht gleichgültig lasse, brauchen wir alle den Spiegel des Gesetzes, denn seine Bestrafung ist das Salz im christlichen Leben.
Wenn ihr euch nun vorstellt, Geliebte, dass diese Züchtigung im christlichen Leben alle Tage wieder kommen muss, so mag euch das wehe tun; aber, glaubt mir, es ist der einige Weg, auf dem ihr warm werden könnt. Immer aufs Neue muss das Gesetz dem verlorenen Sohn, der in das Vaterhaus zurückkehrt, wieder aufdecken, dass er dem Vater noch mit Undank lohnt. Darum heißt es denn auch weiter in den Worten des Herrn: „welche ich lieb habe, die strafe und züchtige ich, so sei nun fleißig und tue Buße!“ Da seht ihr, dass gerade in dem Leben des Christen, der seinen Herrn lieb hat, und den sein Herr wieder liebt, die erneuernde Buße immerfort neben dem Glauben und dem Genuss der Gnadengüter hergehen muss. Und wenn ihr so vielfach in unseren Tagen ein so schlaffes mattherziges Christentum seht, Wolken ohne Wasser, kahle unfruchtbare Bäume, irrende Sterne - glaubt mir, es fehlt das Salz! es fehlt das Salz der Zucht des Herrn und der stets erneuerten Buße. Es hat sich nur zu sehr der Wahn verbreitet, als ob es ein fertiges Christentum gebe, in das mau hineinfahren könnte, wie in ein nie alterndes Kleid. Man liest und hört unserer Zeit hie und da ausgesprochen, dass doch zu keiner andern es so viel Menschenfurcht gegeben habe, so viel Menschengefälligkeit, als in der unsrigen, dass noch nie eine Zeit gewesen, wo die Frage: „Was werden die Leute sagen?“ so viel Gewalt über die Menschen gehabt habe, wo es so wenige gegeben hätte, die, was sie zu tun und zu lassen haben, bloß zwischen sich und Gott ausmachen. Ich will nicht entscheiden, ob das wahr sei. Ein jeder von euch greife in den eigenen Busen! Aber das sage ich: ist es also, dann ist dies nur ein Beweis mehr dafür, dass die Gottesfurcht mehr als in irgend einer anderen Zeit unter uns fehlt. Denn das ist der Fluch davon, wenn du Gott nicht fürchtest, dass du Menschen fürchten musst, und wenn du nach Gottes Gefallen nicht strebst, dass du nach der Menschen Gefallen strebst, diese Gottesfurcht aber fehlt wiederum nur, weil das Salz fehlt der täglichen Zucht des Herrn und der täglich erneuerten Buße.
So nun wird euch aber vielleicht vor diesem Heilmittel ein Grauen ankommen, als bringe es doch nur Schmerzen, lasst mich nun noch nach Anleitung unseres Textes diese Furcht euch benehmen. Schon insofern diese tägliche Zucht des Herrn und Buße die Sehnsucht weckt, ist sie beseligend; denn schon diese Sehnsucht ist doch beseligender, als jene träge Sattheit. Gewiss, ihr werdet es mir glauben: eine Seele, die nach Gott weint, ist seliger, als eine Seele, die mit der Welt lacht. Es soll ja nun aber auch nicht bei dieser Sehnsucht bleiben. Die Sehnsucht ist nur eine ausgestreckte Hand, und wer die Hand ausstreckt, der empfängt, darum heißt es: „Siehe, ich stehe vor der Tür, und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zudem werde ich eingehen, und das Abendmahl mit ihm halten, und er mit mir.“ Das ist eine süße Rede nach jener bitteren! Wenn er uns züchtigt, so klopft er an, und wer ihm öffnet, mit dem hält er das Abendmahl!
Was anders wird mit diesem geheimnisvollen Wort von einem innern Abendmahl, das Christus mit den Seelen hält, gemeint, als die höchste Art und Weise der innerlichen Gemeinschaft mit ihm? O ihr Christen, die ihr manchmal die Strafe und Zucht des Geistes wie ein schweres Ungewitter erfahren habt, dass ihr hättet mit David rufen mögen: „Ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Weinen vor deinem Zorn und Dräuen, dass du mich aufgehoben, und zu Boden gestoßen hast,“ ich berufe mich auf eure Erfahrung, haben nicht gerade dann die schwarzen Gewitterwolken eures Innern sich aufgelöst in milden Regen, dass euch unaussprechlich wohl wurde - seid ihr nicht gerade damals inne geworden, dass die Tür eures Herzens sich öffnete, und jener selige Gast zu euch einzog, der euch die Fülle und Genüge gab? Ja, die zartesten und süßesten Erfahrungen der Nähe des Herrn kommen dann, nachdem wir uns von ihm haben züchtigen lassen.
Geliebte - und das ist nur die selige Frucht solcher Züchtigung diesseits. Unser Text sprich aber auch von seliger Frucht jenseits. „Wer überwindet - so spricht der treue und wahrhaftige Zeuge - dem will ich geben mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe, und bin gesessen mit meinem Vater auf seinem Stuhl.“ Es ist eine große Lehre des Neuen Testamentes, dass auch unser Herr und Heiland, seiner Menschheit nach, sich zur Rechten Gottes nur hat setzen können nach wohl bestandenem Kampf: so erst ist er der Anfänger und Vollender unseres Glaubens geworden, also dass der Apostel uns zurufen mag: „Darum auch wir, dieweil wir solchen Haufen Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasst uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist; und aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher, da er wohl hätte mögen Freude haben, erduldete er das Kreuz, und achtete der Schande nicht, und ist gesessen zur Rechten auf dem Stuhl Gottes.“ Zwar ist es nicht die Zucht Gottes, seines himmlischen Vaters gewesen, unter welche er sich hat beugen müssen, aber wohl das Gesetz seines Willens - damals, als er seinen eigenen Willen daran gab in dem: „doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Aber auch uns wird in jener Zucht des Herrn nichts anderes vorgehalten, als das heilige Gesetz seines Willens, dem wir, die Abtrünnigen, uns unterwerfen müssen, wie er, der Gehorsame. Darum stellt denn auch der Herr in jenen Textesworten unser Überwinden dem seinigen gleich, und spricht von der Herrschaft auf des Vaters Thron, an der wir Teil haben sollen in der Gemeinschaft mit ihm, - und auch das ist eine Frucht der treulichen Unterwerfung unter seine Zucht!
Ist nun, meine Brüder, das Heilmittel unserer Lauigkeit gleich bitter - ihr seht, seine Bitterkeit ist doch auch mit Süßigkeiten umringt. Darum so schalle denn das Wort des Herrn, das wir heute betrachtet haben, als ein Sendbrief an die ganze Christenheit geschrieben, weit in die Welt hinaus, und mit dem Wort, mit welchem dieser Sendbrief schließt, schließe auch meine heutige Rede: „Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ Amen.