Tholuck, August - Psalm 39, 5. "Der Gedanke des Todes der rechte Lehrer der Menschen.“
(Am Anfange eines neuen akademischen Halbjahres.)
Wir sind hier zusammengekommen, meine Geliebten, ein großer Theil von uns in der Blüthe und Fülle des Lebens stehend, bei dem Beginn eines neuen Lebensabschnittes, für gemeinsames Winken und Streben von Lebensgefühlen neu erfüllt, und dennoch fühle ich mich aufgefordert, in dieser Stunde zu euch zu reden - vom Tode. Ihr flieht ihn, diesen Gedanken; sie ist euch unerträglich, diese Erinnerung. Doch, meine Lieben, ist es nicht gerade darum nothwendig, daß ich das Wort euch zurufe? Klänge euch das Grabeslied wie ein Lied aus der Heimath, wäre die Sterbeglocke für euch eine Heimathglocke, wohl möchte ich lieber davon zu euch reden, daß ja auch schon hier auf Erden der Herr sein Reich hat. So lange ihr aber den Gedanken des Todes noch flieht, so muß ihn der Prediger des Wortes Gottes in euer Ohr und in euer Herz rufen. O wie verschieden sind die Kinder unserer Zeit von denen der Gemeinde Gottes vor Alters! Einst gab es eine Zeit, wo am stillen Abende der Hausvater mit den Seinigen den Abendsegen betete und sang:
Der Tag ist nun vergangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am blauen Himmelssaal:
Also werd' ich auch stehen,
Wenn mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammerthal.
Und so ward jeder Abend ihm ein Vorbild des letzten Abends seines Erdenlebens. Eine Zeit gab es, wo hie und da eine Sanduhr mit dem stillen Fall ihrer Körnlein den Menschen mahnte, daß auch in seinem Leben das letzte Körnlein der Stunden bald auslaufen würde, wo die Christen an die Krankenbetten eilten, um mit den Schrecken des Todes vertraut zu werden, wo einsame Spaziergänge auf den Gräbern der Entschlafenen ihnen von der Ruhe derer predigten, die im Herren sterben. Eine andere Zeit ist eingetreten, wo am Abende das Auge sich nicht mehr weiter zu richten vermag, als auf den nächsten Morgen, wo die Gräber der lieben Gestorbenen unbesucht stehen, wo zu erinnern in der Fülle des Lebens an die Nähe des Todes eine Grausamkeit scheint. Daß es mit uns nicht also gehe, so vernehmet zu unserer gemeinschaftlichen Erbauung das Gebet des Psalmisten im 39. Psalm, wo er also ruft:
„Aber Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß.“
An diese Worte des Psalmisten uns anschließend, lasset uns die Wahrheit durchdenken und durchfühlen: Der Gedanke des Todes, der rechte Lehrer der Menschen. 1) Der Tod lehrt uns, was unser Leben ist; 2) der Tod lehrt uns, was wir selbst sind; 3) der Tod lehrt uns, was ein Erlöser ist.
Der Tod lehrt uns, was unser Leben ist.
Zunächst, meine Andächtigen, zeigt uns der Tod, was unser Leben nicht ist. Es kann nicht die Stätte seyn, wo des Menschen Herz satt werden soll; wie könnte es sonst ein Ende haben, und der Mensch davon müssen? Wohl ist das irdische Leben eine schöne Gabe. Schön war die Erde, da sie im paradiesischen Glanze dastand, und die Morgensterne den Herrn der Schöpfung lobten; als alles Lebendige im Meeresgrund, auf dem Lande und in der Luft sich regte zu lautem Preise des Schöpfers, und der Mensch selbst in paradiesischer Unschuld sich freute seines weiten, großen, unbefleckten Erbtheils. Jene erste paradiesische Schönheit ist freilich vergangen; Disteln und Dornen sind auf der Erde aufgesproßt, im Schweiße des Angesichts arbeitet der Mann, mit Schmerzen gebieret das Weib, und die Schlange mit ihrem giftigen Biß sticht den Menschen in die Ferse. Mit Weinen tritt der Säugling ins Leben ein, und wo unser Fuß auf der Erde hinschreitet, tritt er auf Gräber. Doch schön, meine Freunde, ist auch jetzt noch das Leben, wo es mit unschuldigem, heiligem, reinem Sinne genossen wird. „Herr, unser Herrscher,“ ruft David, „wie herrlich ist dein Name in allen Landen, da man dir danket im Himmel! Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du dir eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen.“ Er will sagen: „Wollen die Feinde Gottes ihn anklagen, muß dann nicht selbst das Lallen des Säuglings in unbefangener kindlicher Freude über das Licht des Lebens ein Zeugniß für ihn ablegen, daß er das Leben mit Güte gekrönt hat?“ Aber, Freunde, wie sehr auch noch jetzt, nachdem das erste Paradies der Menschen verloren, Tiefen und Höhen triefen mögen von Seiner Güte und Barmherzigkeit - hat unser Leben hienieden ein Ziel, steht an dem Ende der kurzen Wallfahrt der Tod, kommt die Zeit, wo der Mensch - wie der Psalmist sagt - davon muß: so kann auch hienieden die wahrhaftige Schöne und Herrlichkeit noch nicht erschienen seyn, so kann die Erde deine Heimath nicht seyn, und so soll der Gedanke an den Tod die Himmelssehnsucht in dir wecken. O wer unter euch kennt sie, meine Freunde, jene heilige, tief die Brust mit Wehmuth füllende, das Auge aber zum Himmel richtende Sehnsucht nach einem Lande der Heimath jenseit aller der Schöne, die diese Erde beut! Bei dem Einen und dem Andern von euch mag sie wohl vielleicht einmal erwacht seyn in den Stunden, wo Gottes Finger euch die Blumen in diesem Leben zerknickte, und den Kürbis vom Wurme gestochen welken ließ, an dem euer ganzes Herz hing; aber wie bald ging diese Stimmung vorüber! Wenige Monate, und ihr habt euch wieder zu Hause gefühlt im Lande der Fremde. Blühende Jugend, dir zeigt sich noch das Leben in unbeflecktem Lichte, du hast an den Rosen noch nicht die Dornen gefühlt, und an der Sonne noch nicht ihre Flecken gesehen: ist aber diesem deinen Leben ein Ziel gesetzt, so kann die vollendete Schöne auch in diesem Leben noch nicht da seyn. Blühende Jugend, du strebst und ringst nach den Gütern der Erde; wie malt ihr euch eure Zukunft aus! Wenn aber eine Stunde kommt, wo Alles, wonach ihr strebtet, mit euch selbst ins Grab sinkt, so zeigt sich, daß dies euer wahres Ziel nicht seyn konnte. Träumender, berauschter Jüngling, der du jetzt vor des Lebens blühender Schöne stehst, einst wirst auch du in das Greisenalter hineintreten, wie in eine stille Kammer, wo du nüchtern wirst; der Traum wird verschwunden seyn, du wirst die Dornen mit klarem Auge sehen, welche jede irdische Rose hat, und du wirst weinen, daß du dich so lange Zeit bei den vergänglichen Blumen aufhalten konntest, und des wahrhaftigen Zieles vergessen, was jenseits liegt. Sorgloser Jüngling, o bete, bete schon jetzt: „Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß!“
Doch nicht bloß, was unser irdisches Leben nicht ist, lehrt uns der Tod, er lehrt uns auch, was es ist: daß es nämlich das Land der Fremde ist, darin wir sollen für das Land der Heimath uns geschickt machen. Zwar der Tod allein, meine Geliebten, kann es uns nicht lehren; er lehrt es uns nicht, so lange nicht der Strahl göttlicher Offenbarung das dunkle Thal des Lebens, und zugleich das, was jenseits liegt, erleuchtet. Kann es ohne das Licht der Offenbarung etwas Räthselhafteres geben, als den Zweck dieses Lebens selbst? Auf einer kleinen Insel erwachen wir, mitten in einem unendlichen Ocean. Woher wir kamen, wohin wir gehen, wer sagt es uns? Ich sehe ein Streben, ich sehe ein Ringen, nicht bloß um irdisches Gut und um irdische Macht, sondern um Weisheit und Gerechtigkeit: doch kaum fängt die Blume an, sich zu entfalten, siehe, so wird sie von einer unsichtbaren Hand abgemäht. Reichthum und Ehre kann der Vater seinem Sohne vererben, aber ach, die besten Güter, Weisheit und Gerechtigkeit, gehen mit ihm ins Grab: und mit demselben Schweiß und mit demselben Ringen muß der Sohn aufs Neue beginnen. So macht gerade der Tod durch die engen Grenzen, die er um das kleine Leben zieht, den Endzweck des Lebens so unbegreiflich! Hat aber das Wort des Herrn uns gepredigt von einer jenseitigen Stadt Gottes, in welche kein Unreiner eingeht, sondern nur wer erfunden wird geschrieben im Buche des Lebens, so tritt als ein anderer gewaltiger Prediger der Tod daneben, verkündigt dir, „was Alles du dahinten lassen mußt in der letzten Stunde,“ und drückt also das Siegel auf das Wort Gottes. Mensch! was man dir abnimmt, ehe du von dannen gehst, kann das wahre Gut nicht seyn, kann dir auch keine Stätte in der neuen Stadt Gottes bereiten! Und doch, wie sind wir Alle beladen von dem, was man uns ausziehen wird an der engen Pforte! Sie ist sehr eng, und es wird sehr Vieles zurückbleiben müssen. O meine Freunde, warum ist das Meiste, was wir erstreben, nur das, was wir wieder lassen müssen, wenn wir von dannen gehen? Warum machen wir unser kurzes Leben in der Fremde nicht zu einer Schule dessen, was kein Tod von uns nimmt? Meine Freunde, die ihr in der Fülle und Frische des Strebens begriffen seid, die ihr euch gerade jetzt am Anfange dieses neuen Abschnittes eures Lebens mit neuer Kraft gerüstet fühlt, ich beschwöre euch bei dem lebendigen Gotte, während das Evangelium euch predigt von den wahrhaftigen Gütern, die ihr lasset den Tod euch predigen von dem, was ihr zurück, lassen müßt, wenn die letzte Stunde kommt. Ein Theil von euch hat diesen neuen Lebensabschnitt begonnen mit der Aussicht auf neuen Genuß sinnlicher Güter; o lasset den Apostel euch zurufen, daß „die Welt vergehet mit ihrer Lust,“ und von allem jenen Genuß euch nichts zurückbleibt, als jener Wurm, der gerade dann zu nagen anfangen wird, wenn ihr nicht mehr werdet genießen können. Ein anderer Theil hat sich ein besseres Gut erwählt, die geistige Ausbildung; aber, meine Freunde, seid ihr auch wohl eingedenk, wie viel ihr auch von dieser werdet abstreifen und zurücklassen müssen, wenn die letzte Stunde kommt? Sagt das Wort der Schrift: „Das Heu verdorret, die Blume verwelket, aber das Wort unseres Gottes bleibet ewiglich!“ - so wird auch von Allem, was ihr erlernet habt, nichts Anderes bleiben, als was göttliches Wort war. Aber wie viel vergängliches, nichtiges Wort habt ihr unter allen Worten, die ihr lernet! Wisset aber, daß in jenem Lande des Wesens und der Wahrheit auch nur das Wissen ewig bleiben kann, welches Wesen im Menschen geworden ist, welches eine Kraft des göttlichen Lebens ist in seinem Herzen. Denkt daran: wenn ihr einst an der engen Pforte steht, so wird man euch nicht fragen, was ihr gewußt habt, sondern was ihr gewesen seid! Und ich meine, Freunde, bei dem Gedanken wird schon jetzt euer Herz klopfen, und ihr werdet eure Hände aufheben und beten: „Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß!“
Der Tod lehrt uns aber auch zweitens, was der Mensch ist.
Er lehrt zuvörderst, daß wir Staub und Asche sind. „Gott, der Herr, machte den Menschen aus Staub der Erden, und blies ihm ein den lebendigen Odem,“ so sagt uns die heilige Schrift, und an diesen ihren Ursprung erinnern sich die Männer Gottes allenthalben. Daran erinnern sie sich, wenn sie die Erbarmung Gottes herabrufen: „Er gedenket, rufen sie, daß wir Staub sind!“ daran erinnern sie sich, wenn der Uebermuth sich erhebt: „Was erhebt sich, ruft Jesus Sirach, die Erde und Asche!“ Auch wir bedürfen dieser Erinnerung. Man sollte es freilich nicht meinen, daß man sie so leicht vergessen kann; gehen wir nicht Alle wie auf Glas, wie auf flüchtiger Welle? Ich will nicht fragen, wo ist der Monarch, dem im Glanze seiner Herrlichkeit, wo der Philosoph, dem im Fluge seiner Forschungen das Wort in die Ohren tönt: Staub und Asche! Jüngling, dich will ich fragen, wenn du in ungeschwächter Lebenskraft an der Stätte des Genusses sitzest, und wenn du im jugendlichen Kraftgefühl vorwärts strebst im Reiche des Wissens, hörst du wohl auch zuweilen die Stimme in deinem Ohr: - Staub und Asche? Laß dir vom Tode sie zurufen! Der Tod macht blaß, meine Freunde, und es ist eine erhabene, lange und laute Predigt, die einem eine Leiche halten kann, wenn sie so in ihrem blassen Todesschmucke vor einem liegt. - Staub und Asche- das ist gewiß der nächste Gedanke. Und doch, meinst du, daß der Tod erst komme in dem Augenblick, wo du ihn schmeckst? Hätte er nicht schon in deinen Gebeinen geruht, ehe er hervorbrach, so hätte er dich nimmer gefaßt. Mensch, der du Staub und Asche bist, du trägst den Tod in deinen Gebeinen mitten in der Blüthe deines Lebens - Gott zieht seine Hand zurück, und er bricht hervor! O wie dieses Bewußtseyn unstet Gebrechlichkeit und Ohnmacht uns so demüthig macht, uns unsre beständige Abhängigkeit so fühlen läßt! Wie man dabei so bewahrt bleibt vor jedem Trotz, jedem Uebermaaß, und immerdar fragend das Auge nach oben richtet: „Herr, wie lange will deine Barmherzigkeit den unfruchtbaren Baum noch stehen lassen, und warten, daß er Früchte bringe?“! Sind das die heilsamen Wirkungen des Gedankens an den Tod, o so laßt uns Alle bitten: „Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß!“
Nicht bloß, daß wir Staub und Asche sind, auch daß wir Schuldner sind, lehrt uns der Tod. Wohl geht durch das ganze Menschenleben hin die Ahnung des göttlichen Gerichts; nirgends wird aber die Ahnung zur Gewißheit, wie im Momente des Todes. Der Tod ist eine offene Thüre, durch welche hindurch du deinem göttlichen Richter in's Auge flehest. Was zittern die Menschen vor dem Tode? Ist es vielleicht bloß, daß sie dahinten lassen müssen, was ihnen lieb und werth war? Nein, ihr Zittern gilt nicht bloß dem Tode, es gilt dem Gerichte, was hinter dem Tode liegt. Und auch, wenn sie von dem Gerichte nichts wissen wollen, und nur von dem „dunkeln, unbekannten Lande“ reden, so sind es doch die geheimen Schauer des Gerichts, welche sie vor diesem unbekannten Lande mit solchem Grausen erfüllen. Oftmals schon war im Fluge des Lebens der Richterstuhl vor ihre Seele getreten - sie waren erschrocken und geflohen. Mensch! es hilft dir nichts, ob du auch der leisen Stimme des Richters, der dich im Leben anruft, entfliehen willst; siehe, die leiseren Stimmen ziehen sich zusammen in Einen Donnerruf, der in dem Momente in deine Seele fällt, wo du sterben sollst. Wohlan denn, christliche Brüder, giebt das Sterben solche Selbsterkenntniß, so laßt uns sterben, ehe wir sterben, damit wir nicht sterben, wann wir sterben. Ruft der Apostel uns zu: „Ich sterbe täglich,“ nun wohlan, so lasset auch uns im Geiste täglich uns erinnern an jene offene Thür, durch welche uns einst das Auge des Richters unverschleiert anblicken wird, und durch welche wir ihm entgegen gehen werden! Doch nein, ruft ihr, was soll dann noch werden aus unserm fröhlichen Lebensgenusse, aus der Freude unserer Jugend? Aber wie, Brüder? Ihr wollt Freuden haben, und sucht sie würklich, die ihr nur dann genießen könnt, wenn ihr den Gedanken Gottes und der Ewigkeit nicht mit hinzunehmt? Arme Bethörte, der Gedanke an Gott, den Richter, soll nicht gegenwärtig seyn bei euren Genüssen und euren Freuden, während doch Gott selbst gegenwärtig ist? Soll ich euch erinnern an eine schauerliche Erzählung (Dan. K. 5.) aus unsrer heiligen Schrift, die wohl Keinem von euch unbekannt ist? Der üppige König Babels thront beim fröhlichen Mahle, von welchem ebenfalls der Gedanke an den Richter fern ist.
Zu dieser Stunde hebet
Sich plötzlich eine Hand,
Die längs der Mauer schwebet,
Und schreibet wie auf Sand -
Von Arm und Leib getrennet
Nimmt man die Hand gewahr,
Die längs der Lettern rennet
Und schreibet wunderbar. -
Und was schreibt sie: „Du bist gewogen und zu leicht gefunden worden!“
Wehe, wehe den Freuden, über die ihr euch nur freuen könnet in dieser Zeit und nicht auch in der Ewigkeit; wehe den Freuden, deren Glanz beim Gedanken an den Tod erbleichen muß! Laut rufe ich es euch noch einmal zu, und es töne wieder in euren Herzen bei allen euren Freuden, heut, alle Tage: „Wehe den Freuden, deren Glanz beim Gedanken an den Tod erbleicht!“ O daß ihr auch in dieser Hinsicht mit dem Psalmisten betetet: „Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß!“
Es lehret uns drittens der Tod, was ein Erlöser ist.
Wohl sollten wir nicht bloß warten, bis der Tod kommt, und es uns lehrt; wohl kann den Menschen das Leben schon vielfach lehren, was da sei ein Erlöser von allem Irrthum, von allem Uebel und allem Bösen, aber man kommt schwer dazu, das zu lernen, und zumal der Jüngling. Mit welchen Erwartungen und Hoffnungen tritt der begabte Jüngling in das Reich des Wissens ein! Die alte Frage: was Wahrheit ist? ich will sie wohl beantworten - liegen sie nicht vor mir, die Erzeugnisse der tiefsten Geister aller Jahrhunderte, aus denen ich nur zu schöpfen brauche? Ja, und wäre sie noch nicht gefunden, ist es nicht vielleicht in der Reihe der Geister mein Geist, der sie zu finden bestimmt ist? So der unerfahrne, stolze Jüngling in der ungeschwächten Kraft seiner Jugend. Fertige Wahrheit über göttliche Dinge zu nehmen, verschmäht er, und ob auch eine Hand aus dem Himmel sie reichte. „Wenn Gott, so sagt er mit einem großen Geiste unserer Nation, in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! - ich fiele mit Demuth vor ihm nieder, und riefe: Vater, die Linke!“ Ach er vergißt, wenn auch eine himmlische Hand uns die Wahrheit gereicht hat, wie viel noch zu thun übrig bleibt, ehe diese Wahrheit Fleisch und Blut in uns wird. Müde steht der Greis da von dem Wechsel der Meinungen und der Systeme; nicht bloß an der Geschichte der Welt ist er hingegangen, und hat sie verfolgt; in seinem eigenen Leben hat er sie aufblühen und fallen sehen, wie die Blätter im Herbste. - Müde ist er auch von seiner eigenen Kraft, er kann nicht mehr ringen: nun endlich will er besitzen. Als jugendliches Blut ihm durch die Adern rollte, da reichte der Blick über weite Ebenen weit hinaus bis zum engen Grabe, und er kannte keine Eile; jetzt ist ihm nur ein einziger Schritt übrig, und den möchte er mit Sicherheit thun, um nicht bloß in das enge Grab hinein, sondern auch darüber zu kommen - und mit Thränen beugt er sich vor der göttlichen Gestalt, die vom Himmel herabsinkt, und ihm zuruft: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ Der Tod hat ihn gelehrt, was ein Erlöser von allem Irrthum ist. - Ungeschwächt an der Kraft des Geistes und des Leibes steht der Jüngling da, und weiß von keinem Uebel. Einen silbernen Nebel zieht seine träumende Phantasie über die Erde, daß er ihre Disteln und Dornen nicht sieht, und wo er sie sieht, da fühlt er sich stolz in der Kraft; denn da kann er kämpfen, da kann er überwinden. Doch der Tod, der in seinen Gebeinen schlummerte, als seine Brust von Jugendkraft noch schwellte, bricht allmählig hervor, eine Sinnenpforte nach der andern schließt sich, er stirbt der Welt ab, wie die Welt ihm: das Greisenalter ist eine stille Kammer, wo der Mensch zu sich selbst kommt. Was der Schmerz sei, er ist es inne geworden, und mit dem letzten Ueberreste seiner Kraft hat er den schwersten Strauß noch zu bestehen - und dankbar weinend beugt er sich vor der göttlichen Gestalt, die vom Himmel herabsinkt, und ihm zuruft: „Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe!“ Der Tod hat ihn gelehrt, was ein Erlöser von allem Uebel ist. - Tausendarmig fühlt mit der Jugendkraft der Jüngling auch die Jugendlust sich regen. Zwar hat er noch nicht alle Arme der alten Schlange erkannt weder in sich, noch in der Welt; aber das erkennt er wohl, es gilt einen ernsten Kampf. Doch muthig fühlt er den ungebrochenen Willen, er fühlt die Kraft, eine Welt zu beherrschen, und sollte sich selbst nicht beherrschen können? Suchest du denselben Jüngling als Greis dastehen? Thränen zittern in seinen Augen: er hat gerungen, er hat gekämpft, aber wo sind die Siege? Als er den Feind an seiner äußersten Grenze besiegt hatte, da meinte er fertig zu seyn, und immer mehr und mehr hat er sich bis ins Innerste gezogen. Die Arme sind schwach geworden, denn der seinen waren zwei, und die alte Schlange hat Tausende und immer neue. Die stolze Zuversicht des Herzens ist hin; statt des Lorbeers den drohenden Stab des Richters, statt der Krone das Verzeichniß einer unendlichen Schuld - da sinkt die göttliche Gestalt vom Himmel hernieder, und ruft ihm zu: „Weine nicht, denn es hat überwunden der Löwe aus dem Stamme Juda!“ Der Tod hat ihn gelehrt, was ein Erlöser sei von allem Bösen!
Und wie lange wollt ihr, die ihr in der Blüthe des Lebens steht, warten, bis ihr wisset, was ihr an einem Erlöser habt? - Bis der Tod kommt? Aber, Verblendete, er kommt ja nicht von außen, ihr tragt ihn in euch, in euren Gebeinen - ein Wink von oben, und er bricht hervor! Oder habt ihr ihn bereits, den Erlöser? Wohlan, laßt uns in dieser Stunde die Probe vollziehen! Für wen auch diese Erinnerung an ihn in der heutigen Stunde eine freundliche gewesen ist, wen von euch in der Mitte aller seiner Freunde der Gedanke an ihn nur wie ein ernster, theurer Freund begrüßt, der hat einen Erlöser gefunden, aber auch nur der allein. -
Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.