Tholuck, August - Philipper 3,12-14 "Das Ziel, die Ohnmacht und die Kraft des großen Apostels."

Tholuck, August - Philipper 3,12-14 "Das Ziel, die Ohnmacht und die Kraft des großen Apostels."

Betrachten wir, meine Freunde, die Krankheiten und Mängel unseres geistlichen Lebens, so werden sie sich allesamt auf ein Dreifaches zurückführen lassen: entweder wir haben das Ziel nicht im Auge, welches Gott in Christo Jesu uns gesteckt hat, oder wenn wir es im Auge haben, so fehlt das Gefühl der eigenen Ohnmacht, und wir vertrauen auf die Stärke unseres menschlichen Entschlusses, oder drittens, wenn das Selbstvertrauen gebrochen ist, so fehlt der Glaube an die Kraft, welche die Ohnmacht unseres eigenen Willens in eine göttliche Siegermacht verwandelt. Wie dieses Dreifache in einem ächten und gesunden christlichen Leben beisammen sein muss, das zeigt uns das apostolische Wort, welches wir zusammen bedenken wollen, und das Philipp. 3, 12 - 14. also lautet: „Nicht, dass ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei: ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, dass ich es ergriffen habe; Eines aber sage ich: ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziele, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo Jesu.

Ein dreifaches Bekenntnis ist es, dass der große Apostel in diesen Worten ablegt: er bekennt von sich, dass er nachjagt dem vorgesteckten Ziele; er bekennt seine Ohnmacht, dass er es noch nicht ergriffen habe, und nur trachte, ob er es auch ergreifen möchte; er bekennt die Kraft, die ihn dazu fähig macht, indem er sagt: „nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin.“ So lasst uns denn dieses sein dreifaches Bekenntnis näher beherzigen und dazu uns aufmuntern, dass wir fähig werden, es samt ihm abzulegen.

I.

Der Apostel Paulus, sage ich, ist nach diesem Bekenntnisse von sich selbst ein Mann, der sein Ziel nimmer aus dem Auge verliert. „Ich jage nach, so spricht er, dem vorgesteckten Ziele, dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.“ Er ist sich bewusst, eine Berufung Gottes in diesem Leben zu haben. Ach und wenn Alle, die mit ihm zur Jüngerschaft Jesu gehören, nur des Einen sich Tag für Tag bewusst wären, dass Gott sie zu Etwas berufen hat auf Erden! Wir wollen noch gar nicht einmal der Beschaffenheit dieser Berufung Erwähnung tun - wie viel wäre überhaupt schon gewonnen, wenn wir Alle, wenn ihr Jünglinge Alle mit Klarheit euch bewusst wäret: „Gott hat mich zu etwas berufen auf Erden.“ Wie müsste das die zerstreuten Kräfte zusammen halten! Möchte auch die Einsicht in das, wozu ihr berufen seid, noch gering sein, stünde nur das euch fest: „Auch mir ist, da der Ewige den Sonnen ihre Bahn anwies, mein Tagewerk zugemessen worden“ - wie würdet ihr ringen, dessen euch klar bewusst zu werden, was diese Berufung sei. Fünfzig, sechzig Jahre auf Erden zu leben, und sich gar nicht zu fragen, warum man darauf lebt, ob man auch eine Berufung von Gott habe: es ist eine entsetzliche Gedankenlosigkeit! Und wie viele leben und wie viele sterben, und kennen diese Frage nicht! Seine Berufung nennt der Apostel eine himmlische Berufung in Christo Jesu. Damit meint er nun zunächst die himmlischen Güter, welche der Siegespreis sind „die Krone der Gerechtigkeit“ - wie er an einer andern Stelle sagt - für diejenigen, welche ihrem Beruf auf Erden getreu gewesen. Auf jenes Ziel das Auge richtend, richtet er es denn also auch zugleich auf jenen ihm auf Erden von seinem Herrn Jesu gewordenen Beruf, auf jene größte Stunde seines Lebens, von der er noch fast dreißig Jahre später vor König Agrippa also zeuget: „Mitten am Tage, lieber König - so erzählt er dem Könige Agrippa - sahe ich auf dem Wege, dass ein Licht vom Himmel, heller denn der Sonnen Glanz, mich und die mit mir reiseten umleuchtete. Da wir aber Alle zur Erde niederfielen, hörete ich eine Stimme reden zu mir, die sprach auf Hebräisch: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Es wird dir schwer sein, wider den Stachel auszuschlagen. Ich aber sprach: Herr, wer bist du? Er sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgest; aber stehe auf, und tritt auf deine Füße. Denn dazu bin ich dir erschienen, dass ich dich ordne zum Diener und Zeugen dessen, das du gesehen hast, und das ich dir noch will erscheinen lassen, und will dich erretten von dem Volke und von den Heiden, unter welche ich dich jetzt sende, aufzutun ihre Augen, dass sie sich bekehren von der Finsternis, zu dem Licht, und von der Gewalt des Satans zu Gott, zu empfangen Vergebung der Sünden und das Erbe samt denen, die geheiligt werden durch den Glauben an mich.“ Für seine eigene Person immer mehr - wie er sich selbst an einer Stelle ausdrückt - ein Befreiter Jesu zu werden, und in Bezug auf Andere Alles zu unterwerfen dem Gehorsam Jesu Christi, das ist der Beruf, den er auf Erden empfangen hat, und durch dessen Erfüllung er sich den des Himmels erkämpfen soll. So steht ihm denn nun auch dieser irdische Beruf als das Ziel, nach dem er jagt, vor Augen. Es ist dieses Ziel seines Lebens mit seiner Natur verschmolzen, es ist eine andere Notwendigkeit für ihn geworden. „Dass ich das Evangelium predige - sagt er an einer Stelle - darf ich mich nicht rühmen, eine Notwendigkeit drängt mich, und wehe mir, wenn ich es nicht predigte!“ (1 Kor. 9, 16.) - Auch für Jeden von uns nun, Geliebte, gibt es eine Berufung, ein Kleinod im Himmel, welches der Siegespreis sein wird für die treue Erfüllung der irdischen Berufung, und dieses unser Ziel im Himmel, es fällt zusammen mit dem Ziele auf Erden. Wohlan nun, wer von euch ist, wie Paulus, dieses von Gott gesteckten Zieles auf Erden sich bewusst? Hat über ihm der äußere Himmel sich aufgetan, ihm dieses Ziel zu verkünden, so kann auch uns der innere Himmel sich auftun, und die Gottesstimme kann uns verkünden, was unser Beruf auf Erden und unser Kleinod im Himmel sei. Für jeden Menschen gibt es eine solche Notwendigkeit, wie sie Paulus empfunden hat; ja es soll unser Berufsgefühl immer mehr eine solche innere Notwendigkeit werden. Und o l dass namentlich euch, die ihr Diener am Evangelium werden wollt, diese innere Notwendigkeit nicht fehle, welche erst das Siegel ausdrückt jener feierlichen Berufung, wenn einst die Bischöfe der Kirche Christi euch die Hand der Weihe auffegen. Das ist die Geistesweihe zu einem geistlichen Amte, ihr Theologen, das ist die Geistesweihe zum geistlichen Amte, diese innere Notwendigkeit, die da drängt, dass man mit Paulus rufen muss: „Wehe mir, wenn ich nicht das Evangelium predigte!“ Und wie viele von euch kennen diese Weihe? Und wie viele von euch jagen diesem Ziele nach?

So steht also Paulus da, das Auge auf seine Berufung, auf die im Himmel wie auf die auf Erden, gerichtet, die das Kleinod seines Lebens geworden ist. -

Und wie hat der Mann Gottes nun seinem Ziele nachgejagt! Man kann die Apostelgeschichte und seine Briefe nicht lesen ohne den Wunsch, dass es einem vergönnt gewesen sein möchte, nur einmal einen Monat, eine Woche an seiner Seite weilen zu dürfen. Was das schon überhaupt für einen stärkenden Einfluss ausübt, einen Menschen zu sehen, bei dem Alles in seinem Leben auf Eines hingeht, bei dem, wie nur Eine Sonne am Himmel steht/ so nur Ein Gedanke das Leben regiert! Kennt ihr solche Menschen? Es gibt ihrer, auch unter uns gibt es ihrer - freilich aber meist solche, bei denen dieser Eine Gedanke das Ich, der Gewinnst, der erbärmliche Gewinnst für das liebe Ich ist! Etwas Anspornendes liegt nun freilich auch in ihrem Anblick, und wenn schon hier der Anblick wohl tut, alle Kraft Einem Ziele entgegenstreben zu sehen, wäre es auch ein jämmerliches, o welche Kraft müsste es in die Seele gießen, in das Leben von Paulusseelen einen Blick zu tun, wo jeder Pulsschlag und jeder Atemzug nur Einem Ziele gilt, dem göttlichen Ziele, für ihre eigene Person Befreite Jesu Christi zu werden, und alle Welt immer mehr untertänig zu machen dem Worte vom Glauben! - Vor Augen sehen können wir den Apostel nicht mehr; warum anders aber hat göttliche Gnade das Wort der heiligen Geschichte, die Geschichte der Apostel und des Paulus Briefe in unsere Hände gegeben, als dass auch wir noch die Kraft des Vorbildes daraus schöpfen sollen? O lasst es oft, lasst es oft vor euren Augen vorübergehen, das Bild eines Mannes, an dem Alles, Alles und immerdar nur Einem Ziele entgegenstrebte!

Lasst ihr nun diese Geschichte vor euch vorübergehen, so mag freilich auch ein Gedanke in euch aufsteigen, welcher den Eindruck von Pauli Größe wieder in Etwas schwächen könnte, der Gedanke nämlich, ob nicht gerade in diesem Stücke, in dem Vermögen des Willens, unverrückt Ein Ziel vor Augen zu behalten, der Eine vor dem Andern eine reichere Begabung empfangen habe, und so auch einem Paulus dies leichter geworden sei, als vielen Andern; ob nicht diese Willenskraft in einem Paulus etwas gewesen sei, was nicht erst aus dem reinen Geiste Christi in ihn gekommen? Und darin habt ihr auch nicht Unrecht, Geliebte. Diese eherne Willenskraft, die wir bei ihm anstaunen, sie ist nicht die Gabe des neuen Geistes gewesen, der aus Christo kommt, denn wie hernach seine Liebe glühend, so ist glühend sein Hass, so lange der sich noch nicht vor seinem Auge enthüllt hat, den er verfolgt. Ist's ihm doch nicht genug, dass in Jerusalem die Kerker sich füllen, und das Blut fließt, bis nach Syrien hm treibt ihn sein Drohen und Morden wider die Jünger des Herrn, dass er „Männer und Weiber, wie es heißt, gebunden führe gen Jerusalem.“ Wohl ist es auch ein Segen und eine Gnade, wenn schon die natürliche Begabung dem Willen jene Kraft verliehen hat, die mancher Andere in vielen Kämpfen durch den neuen Geist aus Christo erhält. Aber meine Teuren, nur das meinet nicht, dass an und für sich diese Begabung dem Reiche Jesu Christi näher bringe; denn wie? ist der eherne Wille, welcher Christum, nachdem er ihn einmal ergriffen, nicht mehr lässt, nicht eben so auch bei dem natürlichen Menschen ein eherner Wall, der dem Evangelium sich entgegenstellt, das Buße und Demuth predigt? O wie eine unaussprechlich schwere Sache ist es, o wie unendlich hart und heiß ist der Kampf, ehe willenskräftige Naturen, die im Hochmuth ihres natürlichen Menschen daher gehen, gebrochen und gebeugt, zu Jesu Füßen liegen und das Wort Gnade aussprechen lernen! - Wird euch schwachen Geistern es schwer, festen Schrittes fortzugehen nach dem Ziel, wie schwer werden den starken Geistern die ersten Anfänge! - Aber nicht bloß die Ansänge, sondern auch der Fortgang. Es ist wahr, der natürlich starke Wille, wenn noch das Feuer von oben ihn kräftigt, tut große Dinge, in starken Siegen überwindet er sein eigen Fleisch, in starken Siegen überwindet er die Welt; aber was helfen ihm seine Siege, wenn der Versucher aus seinen Siegen ihm das Verderben bereitet, wenn mitten aus seinen Siegen der Hochmuth sich erhebt! O Freunde, es ist der Hochmuth des Menschen letzter Feind und größter, und o welche steinige Wege muss Gott mit den starken Paulusseelen gehen, ?um den Hochmuth in ihnen auszurotten! Hat er nicht einem Paulus den Pfahl ins Fleisch geben müssen, damit er sich nicht überhebe? „und einen Luther innerlich in den Stunden der Anfechtung, wie. er selbst sagt, zu einem Wurm machen, damit er Gott die Ehre gebe? Und überdies, mag auch bei solchen Naturen der Geist über äußere Hindernisse und Feinde leichter triumphieren: dreißig Jahre lang unverrückt jenes Eine Ziel im Auge zu halten, in einem Leben, dessen Prüfungen er uns selber beschreibt, wenn er dort sagt: „Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe; ich habe oft gereiset, ich bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr unter den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern“ (2 Kor. 11, 25. 26.) - ich sage, dreißig Jahre lang in einem solchen Leben unverrückt das Ziel im Auge zu behalten, ist doch auch für eine Paulusseele nichts so ganz Leichtes gewesen! Wohl mag es für den Schwärmer einen solchen Grad der Anspannung und Erhitzung geben, wo ihm alle Prüfung des sinnlichen Menschen wie nichts dünkt; aber Paulus war kein Schwärmer. Paulus weiß, was Leiden ist, er weiß, was Entbehrung ist, und trägt sie dennoch, und trinkt den bitteren Kelch, wie ihn sein Heiland getrunken hat, und weil ihn sein Heiland getrunken hat. Er weiß und empfindet, dass des Leibes Hütte drückt, und er sehnet sich abzuscheiden und bei seinem Herrn zu sein; aber er erwählt dennoch „im Fleische zu bleiben“ - warum? „weil es für die Brüder besser ist.“ So ist's denn auch für eine Paulusseele nicht ein Kleines gewesen, das Ziel im Auge zu behalten unverrückt.

II.

Gerade aber weil diese Paulusseele schon an und für sich glühte, auch noch ehe Jesu heiliges Feuer sie entzündete, und stark war, noch ehe der Geist der Gnaden sie stark gemacht, gab es auch noch ein schwereres Bekenntnis für sie, als das, mit Festigkeit dem einmal vorgesteckten Ziele nachzujagen; ein noch schwereres Bekenntnis für sie war das ihrer Ohnmacht. Das Bekenntnis, welches der Apostel in den folgenden Worten ablegt, ist ein solches, welches seinem natürlichen Menschen überaus schwer geworden sein muss. „Ich vergesse, sagt er, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vorne ist.“ Vernehmet ihr es? Ein Paulus vergisst die ganze Strecke Weges, die er schon durchlaufen hat, und was Alles lag hinter ihm! Was lag hinter ihm von Verleugnung des Fleisches und des Blutes, von Schlachttagen gegen äußere und innere Feinde, von Triumphen und Siegesstunden über die Mächte der Finsternis - was Alles lag hinter ihm! Und das kann er Alles vergessen. Was kann ein Paulus vergessen! Und wir, wenn wir einmal ein Paar Almosen gegeben haben, oder haben ein verwerfliches Gelüst überwunden, so können wir uns hinstellen und können das uns als einen Spiegel vorhalten, und dem Ewigen als einen Schuldbrief! Paulus, du bist fürwahr groß in deiner Demuth! oder vielmehr: Geist des Herrn, der du eine solche Paulusseele demütig machen kannst, du bist groß in deinen Werken! Brüder, er vergisst nicht bloß, was hinter ihm ist, um sich nach dem zu strecken, das vorne ist, ich sage noch mehr, er lässt es dahin gestellt, ob er es auch ergreifen möchte: „ich jage ihm nach, so spricht er, ob ich es auch ergreifen möchte.“ Brüder, ein Paulus, indem er auf sich selber blickt, lässt es dahin gestellt, ob er das Ziel ergreifen wird! Er, dem Tausende von geistlichen Kindern geboren waren, wie der Tau aus der Morgenröte, er, durch den Tausende dahin gekommen waren, selig zu leben, und selig zu sterben, er misstraut seiner eigenen Kraft, ob er auch das Ziel erreichen werde! Lasst darauf zunächst unsern Blick sich richten, wie so außerordentlich wenig all' sein Winken für Andere ihm gilt, dass er von Jerusalem bis an Illyrien Alles mit dem Evangelium erfüllt, dass der Tempelplatz in Jerusalem und der Aeropagus in Athen und das kaiserliche Lager in Rom von seiner Predigt des Evangeliums ertönt ist - das Alles gilt ihm nichts, wenn es darum sich handelt, ob er selber der Seligkeit wert sei. Und wir Ohnmächtige, die wir neben ihm stehen, neben dem Manne der Tat, wie Zwerge neben der Schulter eines Riesen, wir summieren unsere elenden Werklein zusammen, und wenn's zum Sterben geht, wollen wir dem lieben Gott vorhalten, was wir gewinkt haben auf Erden! O ihr, die ihr um die Vergebung eurer bösen Werke so wenig besorgt seid, wie schwer werden eure guten euch vergeben werden! - Wie viel Täuschung der Menschen mit sich selber in Bezug auf das, was sie das Winken auf Erden nennen! Wie gerade die Laune oder die Gewinnsucht ihn treibt, so schafft Jeder sein Werk im Leben, und will dann noch vom lieben Gott den Lohn haben, dass er gewirkt habe, dieweil es Tag gewesen. Ist's nicht manchmal euch aufgefallen, wie immer nur dies das Ziel des Lebens heißt, auf Andere zu wirken? und die Anderen wollen wieder auf uns wirken. Und warum doch will Keiner auf sich selber wirken? O warum haben wir so viel Mitleid mit Andern, und so wenig mit uns! Ein ernstes, inhaltschweres Wort haben wir uns vorzuhalten: nicht zunächst um zu wirken, sind wir auf Erden, sondern um bewirkt zu werden. Freilich sollen wir auch für Andere wirken, und jeder Beruf soll eine Liebesarbeit für den Nächsten werden; handelt es sich aber davon, was alles solches Wirken für Andere zu unserer Seligkeit beiträgt, so kann nur geantwortet werden: Nichts, insofern es nicht zugleich ein Wirken für uns selbst ist, d. h. all' unser eigenes Wirken für Anderer Wohl, es kann uns nur so viel helfen, als dadurch zugleich in uns selbst gewirkt worden ist, als wir in uns bei unserm Wirken gelernt haben: die Selbstverleugnung, die Liebe, die Demuth, die Geduld, das Gebet. Ja, wo das Wirken für Andere geboren ist aus allen diesen Tugenden, wo es fortgesetzt zu einer Schule wird aller dieser Tugenden, da ist's Gott wohlgefällig, da kann es den Menschen selig machen. Sonst kann es sogar den Menschen verderben; es kann ihn verderben, wenn er über all' seinem Wirken sich selbst vergisst. Das weiß ein Paulus wohl, und darum heißt es: ich betäube meinen Leib und, zähme ihn, dass ich nicht den Andern predige, und selbst verwerflich werde.“ O du großer, heiliger Apostel, du Mann, dessen Ohnmacht so groß gewesen, wie seine Sünde, und dessen Demuth so groß gewesen, wie sein Muth, dein Vorbild lehre uns im Blicke auf uns selbst unserer Ohnmacht uns bewusst werden!

III.

Doch nicht also, meine Brüder, als ob dieser Blick auf ihn selbst ihn zerknickt habe. Wer keinen Erlöser hat, den mag der Blick auf sich selbst zerknicken; wer aber einen Erlöser hat, den kann er beugen, doch zerknicken kann er nicht. Im Hinblick auf sich selbst hat der Mann, der da sagen konnte: „ich habe mehr gearbeitet, als sie Alle,“ ausgerufen: „ich jage ihm nach, dass ich es ergreifen möchte.“ Im Hinblick aus seinen Herrn hat der Apostel, der von sich sagt: „ich bin der Geringste unter den Aposteln, als der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, denn ich habe die Gemeinde Gottes verfolgt“ - im Hinblick auf den Herrn hat dieser Apostel ausrufen können: „Wer mag mich scheiden von der Liebe Gottes in Christo Jesu!“

Er weiß von einer Kraft, die ihn stärkt, auch wo er lasch werden will; er weiß von einer Gewalt, die ihn vorwärts treibt zum Ziele, auch wenn seine Kniee wanken wollen. „Ich jage ihm nach, ob ich es ergreifen möchte, nachdem ich von Christo ergriffen bin.“ Was damals, als das Licht vom Himmel ihn umleuchtete, die Stimme zu ihm redete: „es wird dir schwer werden, wider den Stachel auszuschlagen,“ d. h. „es wird dir schwer werden, der Gewalt entgegen zu wirken, die dich vorwärts treibt,“ das hat sich erfüllt. Seitdem Christus in seine Brust gegriffen, fühlt er eine Gewalt in sich, die ihn vorwärts treibt, lodert ein Liebesfeuer in seinem Herzen, das Kraft in seine Adern ergießt so oft er matt werden will. „Eine innere Notwendigkeit,“ wie er gesagt hat, drängt ihn zum Werke, so dass er ruft: „wehe mir, wenn ich nicht das Evangelium predigte!“ Und so wie der Apostel sichern Schrittes das Ziel seiner himmlischen Berufung auf Erden nur verfolgen kann dadurch, dass, nachdem Christus ihn ergriffen, eine heilige Gewalt in seinem Innern waltet, die ihn dem Ziele entgegentreibt; so, meine Geliebten, ist auch für uns alle die Gewissheit, dass wir unserer himmlischen Berufung Genüge leisten werden, nur darin zu suchen, dass auch wir in unser Inneres eine heilige Gewalt aufnehmen, die uns vorwärts treibt, wo unsere Kniee wanken, dass wir von Christo ergriffen werden, wie Paulus. Die bloßen Entschließungen geben wahrlich an sich noch nicht die Kraft zum Laufe; oft wiederholt und immer wieder zu Schanden geworden, machen sie den Menschen vielmehr matt und welk. O ihr Erzieher, dass ihr doch nicht auf Entschließungen treibt bei euren Knaben- und Jünglingsseelen, ehe ihr Kräfte geweckt habt! Heilige Entschließungen, müssen sie nicht die Frucht sein heiliger Triebe und heilige Triebe, nur ein Feuer zündet sie an! Das Feuer der Liebe zu dem, der uns zuerst geliebt, eine heilige Gewalt, von Gott gewirkt, muss die Entschließungen selber erzeugen, und diese Gewalt, sie kommt für den Christen daraus, dass er von Christo ergriffen wird. Es mag dieser Ausdruck für manchen von uns einen geheimnisvollen Klang haben, „von Christo ergriffen werden,“ und allerdings deutet er auf ein Geheimnis hin, welches Paulus „groß“ nennt (Eph. 5, 32.), nämlich auf die wunderbare Einheit zwischen dem verklärten Christus und seinen Gläubigen, so dass er ein innerer Antrieb des Lebens und der Kraft für uns wird, so dass er der Weinstock wird und wir die Reben. Es ist das ein Geheimnis, in das wir eben so durch innere Erfahrung eintreten müssen, wie in das Geheimnis, welches uns alle umfängt, das Geheimnis unseres Zusammenhanges mit dem Urquell unseres Lebens, in dem wir, nach des Apostels Wort, „leben, weben und sind.“ Aber wie geheimnisvoll es uns auch bedünken mag, es ist uns nahe dieses Walten und Weben des unsichtbaren Christus! es ist uns nahe und ergreift uns, so oft sein Bild in der heiligen Schrift vor unserm Geiste vorübergeht; es ist uns nahe und ergreift uns, so oft ein Christ von dem neuen Leben, das er ihm verdankt, Zeugnis ablegt; es ist uns nahe und ergreift uns, so oft in der Gemeinde sein Wort im Geiste gepredigt wird; es ist uns nahe und ergreift uns, so oft wir im Sakrament die Feier seines Todes begehen. Christen, wenn nun niemand dem Ziele seiner himmlischen, wie seiner irdischen Berufung also nachjagen kann, dass er es wirklich ergreife, ohne von Ihm ergriffen zu sein, kommt, lasst uns an die Stätten gehen, wo er uns entgegen kommt, wo er uns ergreifen will! Es kann nicht anderes sein, auch unter uns muss viele es geben, die zweifelhaft sind, ob sie auch auf Erden und im Himmel ihr Ziel erreichen möchten, die kein anderes Bekenntnis kennen, als: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach;“ die Blei in ihren Gliedern fühlen und ein Gewicht an ihren Schwingen, die sich sehnen nach einer Liebesgewalt, die sie vorwärts treibe, die ihre Füße leicht mache und ihre Brust stark. Wohlan denn, so haltet das zuerst unerschütterlich fest: es gibt eine solche Gewalt, die den Menschen vorwärts treibt zu Allem, was heilig und recht ist, und steht euch nur das unerschütterlich fest - denn ach! das ist der Jammer, dass ihr auch daran nicht glaubt - so gebrauchet die Gnadenmittel der Kirche, durch welche Christus euch ergreifen, durch welche diese Gewalt euch zu Theil werden soll, als da sind: das Lesen der heiligen Schrift mit Sehnsucht und Gebet, der Umgang mit denen, die schon ergriffen sind, der Gottesdienst und das Sakrament, o und wie wird auch euch im Blick auf diese Kraft euer Sieg so gewiss werden. „Der, welcher in uns ist, ist stärker, denn der in der Welt ist,“ werdet ihr ausrufen, und kommt das letzte Stündlein heran, so werdet ihr mit Paulus, dem Kämpfer, am Ende der Kampfestage in Zuversicht sprechen können: „Die Zeit meines Abscheidens ist nahe, ich habe aber einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten! Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tage geben wird, nicht allein aber mir, sondern allen, die seine Erscheinung lieb haben!“ Amen.

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