Tholuck, August - Der grauenvolle Tausch

Tholuck, August - Der grauenvolle Tausch

Christliche Gemeinde, vernimm in Andacht den Text unserer heutigen Betrachtung aus dem Ev. Matthäi C. 27,15-26.

Auf das Fest aber hatte der Landpfleger die Gewohnheit, dem Volke einen Gefangenen los zu geben, welchen sie wollten. Er hatte aber zu derselbigen Zeit einen Gefangenen, einen sonderlichen vor andern, der hieß Barabbas. Und da sie versammelt waren, sprach er zu ihnen: Welchen wollt ihr, dass ich euch los gebe? Barabbam oder Jesum, von dem gesagt wird, er sei Christus? Denn er wusste wohl, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten. Und da er auf dem Richtstuhl saß, schickte sein Weib zu ihm, und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum von seinetwegen. Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten sollten, und Jesum umbrächten. Da antwortete nun der Landpfleger und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr unter diesen zween, den ich euch soll los geben? Sie sprachen: Barabbam! Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesu, von dem gesagt wird, er sei Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen! Der Landpfleger sagte: Was hat er denn Uebels getan? Sie schrien aber noch mehr und sprachen: Lass ihn kreuzigen! Da aber Pilatus sah, dass er nichts schaffte, sondern dass ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser, und wusch die Hände vor dem Volk, und sprach: Ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten; sehet ihr zu! Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Da gab er ihnen Barabbam los; aber Jesum ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde.

Der Gegenstand unserer heutigen Betrachtung sei der grauenvolle Tausch, und zwar

  1. der grauenvolle Tausch, den das ungläubige Israel macht, indem sie statt Jesus den Sohn Gottes, Jesus Barabbas erwählt;
  2. der grauenvolle Tausch, den die ungläubige Welt macht, indem sie statt Jesus, den Sohn Gottes und der Menschen, Jesus das Menschenkind erwählt.

Unsere Geschichte führt uns auf einen von allen Leidenschaften bewegten Schauplatz. Früh beim ersten Morgenroth hatte die Mordlust, die an dem Heiligen Gottes sich kühlen wollte, die Schar der Obersten und Priester des Volks auf den Richtplatz vor den Palast des Landpflegers geführt, und schwellend war mit jeder Stunde der Volkshaufe angewachsen. Es ist jetzt die sechste Morgenstunde, und der Landpfleger soll das Urteil fällen - er soll es fällen, während in seinem Herzen es laut schreit: Du richtest unschuldig Blut! Vom ersten Augenblicke an ist bei Pilatus die Überzeugung, dass man einen Unschuldigen vor seinen Richtstuhl führe; nur zu gut kannte er den Charakter der jüdischen Volkshäupter. Darum will er an ihren eignen Gerichtshof den Angeklagten übergeben; doch zum Majestätsverbrechen erhebt die List und Bosheit die Anklage; der feige Römer, der, weil er Gott nicht fürchtet, die Menschen fürchten muss; der, weil er vor der himmlischen Majestät nicht zittert, vor der irdischen erzittert, muss die Klage annehmen. Er muss den Angeklagten zunächst hören, und er hört aus seinem Munde: „Du sagst es, ich bin ein König.“ Vielleicht hatte der vornehme Römer in das Auge des Königs geschaut, der damals über die bewohnte Erde gebot, aber in das Auge des Königs des Landes der Wahrheit hatte er noch nie geblickt, und wenn er gleich mit dem Achselzucken der vornehmen Welt ausruft: „Was ist Wahrheit!“, so hatte doch der König der Wahrheit wenigstens mit dem mattesten seiner Strahlen sein Herz getroffen. „Ich finde keine Ursache an dem Menschen!“ ruft er laut zu dem Hohenpriester und zum Volke - vergebens, der Sturm der Leidenschaft lässt sich nicht beschwichtigen; noch einmal will der Heide, der mitten in seinem Unglauben die Ahnung an eine göttliche Vergeltung noch nicht verloren hat, die Last von seinen Schultern wälzen: Herodes soll den Angeklagten richten - vergeblich! auf seine Schultern und auf sein Gewissen wird sie zurückgewälzt! Da muss er wenigstens einen Vertrag machen zwischen seinem eignen Gewissen und seiner Menschenfurcht - geißeln will er ihn lassen, um dieser das Opfer zu bringen, aber das unschuldige Blut nicht vergießen, um jenes zu beschwichtigen. Er bietet dem Volke - dem Volke, welchem gehöret die Kindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißung - dem Volke bietet er den Tausch an zwischen Jesus dem Sohne Gottes und Jesus, genannt Barabbas: denn dass auch dieser den Namen Jesus geführt, verbürgen uns alte Nachrichten.

Da wird es still in der Menge - der unerwartete Vorschlag setzt in Erstaunen. Was in den Herzen der Anwesenden mag vorgegangen sein! Hier stand Einer, der hatte vor einigen Tagen, als der König Israels in Jerusalem seinen Einzug hielt, das Hosianna mitgerufen; da stand Einer, der war dabei gewesen, als in Bethaniens Gräbern der Ruf erscholl: „Lazare, komme heraus!“ „Kann auch Einer solche Taten tun, wie dieser tat, ohne dass Gott mit ihm sei?“, hörte man hie und da murmeln. Die Priester können nicht mit Sicherheit darauf rechnen, was der Ausgang der Wahl sein werde: der brüllende Löwe wird zur zischenden Schlange - sie eilen umher, um das Volk zu stimmen, nur ein dumpfes Gemurmel geht durch den Volkshaufen hindurch. - Was, sagt mir, mag er selbst empfunden haben, der Mann der Schmerzen, als er dort am Vorhof stand in dem zum Hohn ihm umgehängten Purpurmantel, und zuschaute, - o schrecklich zu sagen - wie sein Volk, das Volk seines Eigentums, ratschlagte, ob es ihn annehmen sollte, oder - den Mörder. -

Pilatus harrt auf dem Richtstuhl. „ Du richtest unschuldig Blut!“ so schreit es unaufhörlich in seiner Seele - da kommt zu der inneren Stimme noch eine äußere hinzu. Ein Traumgesicht hat Procula, seine Gattin, gewarnt - sie ist erwacht - schon sitzt ihr Gatte auf dem Richtstuhl, wie sie vernimmt; ach, schon hängt drohend das Schwert über dem heiligen Haupte, welches verletzen zu lassen sie gewarnt worden. Eilend sendet sie einen Boten: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten, ich habe heut viel erlitten im Traum von seinetwegen.“ Ihr meint vielleicht, dem ungläubigen Weltmanne, dem das Land der Wahrheit selber ein eitles Traumbild geworden, wird die Traumesstimme nichts gegolten haben - o Freunde, es wäre nicht das erste Mal, dass, wer vor Gott nicht zittert, vor Träumen und Gespenstern zittert; gerade meldet uns die Geschichte jener Zeit, wie die römischen Weltleute, die keinen bekannten Gott hatten, an den sie glaubten, vor unbekannten Mächten zitterten, die sie ahnten. - Die Beratung ist geendet, der Landpfleger tritt abermals vor mit verdoppelter Beklommenheit des Herzens: „Welchen wollt ihr unter den Zweien, den ich euch soll los geben?“ Der Würfel ist gefallen. Sie riefen überlaut: „Barabbam!“

Grauenvoller Tausch! Da steht es, das unschuldige Lamm Gottes, welches keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden worden, welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht dräuete, da er litt, sondern Alles dem anheimstellte, der da recht richtet; da stehet er in dem Gewande des Bettlers und mit dem Blicke des Königs, und - erschrecket, ihr Himmel, erbebe, du Erde! - sie wählen statt des heiligen, unbefleckten Lammes - den Mörder! Da stand er, die Hoffnung der Väter von Alters her, der köstliche Eckstein, den der Herr ausgewählt in Zion, der König, Priester und Prophet, den viele Könige und Gerechte zu sehen verlangt hatten, und - erschrecket ihr Himmel, erbebe, du Erde! - sein Volk verwirft den Verheißenen Gottes und erwählt - den Mörder! Da stand er, der, obwohl er das Leuchten der Majestät des Vaters mit seinem wollenen Gewande zudeckte, dennoch, als König über die Natur wie über die Menschenherzen, zum Sturme gesagt hatte: Schweige! und zu den Wellen des Meeres: Leget euch! und denen, die in seiner Nähe waren, den Eindruck gegeben, dass sie rufen konnten: „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen als von dem eingebornen Sohn des Vaters!“ und - erschrecket, ihr Himmel, und erbebe, du Erde! - seine Knechte und Untertanen erwählen statt des Eingebornen des Vaters - den Mörder! - Wäscht Pilatus seine Hände vor dem Volke und ruft mit innerer Angst: „Ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten; sehet ihr zu!“ - wer ist unter uns in der Christenheit, dessen Blut nicht erstarrte bei dem grauenvollen Tausche? Wie aber, wenn ein ähnlicher Tausch auch mitten unter uns in der Christenheit gemacht würde? Wie, wenn unter uns selbst sich solche befänden, die, ohne es zu ahnen, denselben Tausch getroffen hätten? Ja ihr, die ihr statt Jesus den Sohn Gottes und der Menschen Jesus das Menschenkind erwähltet, ihr habt, ohne es zu ahnen, einen gleichen Tausch getroffen! - Ja ihr, die ihr statt Jesus, den Sohn Gottes und der Menschen, das Menschenkind erwählt, ihr habt statt eines heiligen und unbefleckten Lammes einen Frevler und Verbrecher erwählt - ihr habt statt eines Erlösers, der um eurer Sünde willen starb, einen Thoren erwählt, der um seiner Sünde willen an's Kreuz geschlagen - statt eines Fürsprechers beim Vater ein Kind der Verdammnis erwählt! - Ihr schaudert - auch Derjenige unter euch schaudert, welcher in Jesu bis jetzt nur das zwar dem allgemeinen Lose der sündigen, schwachen Menschheit unterworfene, aber doch edle und hohe Menschenkind verehrt hat, denn in seine Seele ist keine Ahnung solcher Folgerungen gekommen; aber lasst ihn uns ganz durchdenken, meine Freunde, diesen Gedanken!

Ihr, die ihr statt Jesus, den Sohn Gottes und der Menschen, das Menschenkind erwählt, ihr habt statt eines heiligen und unbefleckten Lammes Gottes, das die christliche Kirche euch darbietet, in der ihr geboren, getauft und erzogen seid, einen Frevler und Verbrecher erwählt. Der Apostel spricht an einer Stelle von Vergehungen, deren Namen nicht einmal genannt werden soll in christlichen Gemeinden. Wohl möchte auch der christliche Geistliche es schweigen in heiliger Versammlung, dass unter denen selbst, welche die christliche Kirche an ihren Brüsten genährt, aufgestanden sind, welche den eingebornen Sohn des Vaters als ein Opfer schwärmerischer Selbsttäuschung bezeichnet haben! Doch wer mag den Namen schweigen, wo die grauenvolle Sache vorhanden ist? wer mag es schweigen in eurer Versammlung, ihr künftigen Diener des Worts, die ihr berufen seid, die Ehre des Sohnes Gottes zu verteidigen vor aller Welt! Ferne ist es von mir, über jedweden, den der schreckensvolle Wahn gefangen hält, das Wehe auszurufen; es gibt eine Gewalt des Zeitgeistes, die, wenn“ gleich nicht ohne eigne Verschuldung, doch mit schwer zu widerstehendem Eindringen den Einzelnen zugleich mit den Geschlechtern ergreift - aber aufdecken lass mich vor dir, christliche Gemeinde, welchen grauenvollen Tausch sie getroffen haben, die also selbst das Opfer eines frevelnden Zeitgeistes geworden sind! - Also einen unschuldigen Schwärmer hört ihr, wenn der eingeborene Sohn vom Vater ruft: „wer mich sieht, sieht den Vater!“? also einen unschuldigen Schwärmer hört ihr, wenn der eingeborene Sohn des Vaters ruft: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden!“? also einen unschuldigen Schwärmer hört ihr, wenn der Hohepriester spricht: Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, ob du seiest Christus, der Sohn Gottes, und Jesus antwortet: „Du sagest es, von nun an wird es geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzend zur Rechten der Kraft und kommend in den Wolken des Himmels.“? Einen unschuldigen Schwärmer hört ihr? Und keine Ahnung käme in eure Seele, bis zu welchem Grade des Hochmuths und der Verblendung der Mensch kommen muss, welcher so schwärmen kann? Wie? das Menschenkind, welches einst wie du und ich wird stehen müssen vor dem Throne der Majestät, es hätte, ohne zu freveln, dem Könige aller Könige den Zepter aus der Hand reißen und auf seinen Thron sich setzen können? Der, welcher so gut wie du und ich unter der Decke seiner Brust Geheimnisse der Finsternis barg, die er auch dem Auge des Freundes hätte entziehen mögen, er hätte, ohne zu freveln, rufen können: „Wer mich sieht, der sieht den Vater!“? Der, welcher, wie du und ich, seine Hände aufheben musste alle Tage, und beten: „Vater unser, vergib uns unsre Schuld!“, er hätte, ohne zu freveln, sagen mögen: „Ich tue allerwege den Willen meines Vaters.“? Der, welchem, wie dir und mir, vor dem letzten Stündlein bangen musste, dieweil auch er den Stachel des Todes fühlte, welcher die Sünde ist, er hätte, ohne zu freveln, rufen können: „Wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, wird nimmermehr sterben!“? O ihr, die ihr statt Jesus den Sohn Gottes und der Menschen, den der Glaube der christlichen Kirche, in dem ihr groß geworden seid, euch darbietet, das Menschenkind erwählet: einen verblendeten Frevler, einen Verbrecher an der heiligen Majestät Gottes habt ihr erwählet.

Ist dem nun also, so habt ihr denn auch keinen Erlöser, der um eurer Sünde willen an das Kreuz geschlagen wurde - O grässlich zu sagen! - um seiner eignen Sünde und Torheit willen ist er an's Kreuz geschlagen worden! - Ist der, welcher vor dem Hohenpriester mit dem Schwure bei dem lebendigen Gott bekräftigt, dass er sei Christus, der Sohn Gottes, ein schwaches, sündiges Menschenkind, gleich wie du und ich - wer zerreißt nicht mit dem Hohenpriester das Gewand und spricht: „Er hat Gott gelästert - er ist des Todes schuldig!“ Ist damals ein Menschenkind im Truge einer hochmütigen Selbstverblendung an's Kreuz geschlagen worden, christliche Gemeinde, so musst du ein neues Lied anstimmen. Du hast bisher gesungen:

Wer hat dich so zerschlagen,
Mein Heil, und dich mit Plagen
So übel zugericht't?

und mit lautem Klageschrei deines Herzens hast du geantwortet:

Ich, ich und meine Sünden,
Die sich wie Körnlein finden
Des Sandes an dem Meer.

Nun musst du ein neues Lied singen - grässlich zu sagen! -:

Du, du und deine Torheit,
Die gegen Gottes Wahrheit
Sich hat vergangen schwer. -

Staub vom Staube, du Kind der Erde! Bist du nichts Anderes gewesen, als deine schwachen, sündigen Brüder, wie hat deine Torheit es gewagt, im Hochmuth der Selbstverblendung in die Welt hineinzurufen: „Ihr seid von unten her, ich aber bin von oben her!“ Du, der du selbst deine Hände hättest betend aufheben sollen, dass der verheißene Erlöser aus Zion käme, auch dich deiner eigenen Sünde zu entbinden, wie hast du's wagen mögen, dich hinzustellen als den, der da Israel erlösen sollte! - Grässlich zu sagen!:

Du, du und deine Sünden,
Die sich wie Körnlein finden
Des Sandes an dem Meer,
Die haben dir erreget
Das Elend, das dich schlaget,
Und das betrübte Marterheer.

O ihr Männer des Glaubens und der Tränen, die ihr von Stephanus an, der den Himmel offen sah, nach dem Zeichen des Kreuzes aufgeblickt habt als zu einem Stern, dem nur die Strahlen abgenommen sind, vor deren verklärtem Blicke das Kreuz auf Golgatha, worauf das heilige und unschuldige Lamm Gottes blutet, ein Thron der Majestät wurde - es ist vor eurem Blicke in ein Blutgerüst verwandelt, wo der Wahn eines hochmütigen Schwärmers seine Schuld abbüßt. Das war sein Gericht auf Erden, und was wird sein Gericht im Himmel sein? -

O ihr, die ihr statt Jesu, des Sohnes Gottes und der Menschen, das Menschenkind erwählt, ihr habt statt eines Fürsprechers beim Vater ein Kind der Verdammnis erwählt. „Ich, der Herr, das ist mein Name - spricht der Gott Israels bei dem Propheten Jesaia - gebe meine Ehre keinem Andern.“ Wie nun, wenn der, welcher von sich selbst bezeuget hat: „Der“ Vater richtet Niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohne übergeben, auf dass sie Alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren“, und von welchem sein Apostel - wie ihr meint - in gleicher Verblendung zeuget: „Darum hat ihn auch Gott erhöhet, und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen die Kniee aller derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters“ - wenn er selbst erscheinen wird vor dem Throne des Gottes, der seine Ehre keinem Andern gibt - könnet ihr sie ahnen, die Strafe, welche der Gott, der seine Ehre keinem Andern gibt, verhängen wird über den Wurm aus Staub und Asche, welcher der Majestät des Königs aller Könige nach der Krone griff, - wenn er wird Rechenschaft ablegen sollen von dem Ehrenraube, dass Millionen Kniee seit achtzehn Jahrhunderten in Leid und Noth und Tod vor Seinem Namen sich gebeugt haben, wie vor dem Namen des Vaters! Und wenn sie sich dann alle um ihn her versammeln werden, die Blutzeugen, die um seines Namens willen ihr Leben in den Tod gegeben, und von Stephanus an in seine Hände ihre Seele befohlen, und werden ihn anklagen, dass er sie betrogen habe! - Er hatte einen von seinen zwölf Jüngern das verlorene Kind genannt, das Kind der Verdammnis - wehe, wehe dir, du verlorenes Menschenkind, der du - falls du nichts Anderes warst als deine Brüder - der höchsten Majestät nach der Krone gegriffen, wenn das fürchterliche Wort, das du über deinen Jünger ausriefest! „Es wäre ihm besser, dass er niemals geboren wäre!“ wenn - schrecklich zu sagen! - es über deinem eignen Haupte erschallen wird! - Doch, Gemeinde, du erträgst es nicht, den Gedanken weiter zu verfolgen - Schauer durchrieselt euer Gebein! O Kreuz, über dem der Himmel schwarz wird, unter dem die Erde erbebt - nein! du trägst nicht einen Frevler! Wenn in dem schauervollen Dunkel, das über dem Kreuze sich zusammenzieht, alles Volk, von Schauer ergriffen, an die Brust schlägt und von Hannen eilt, und auf dem leer gewordenen Platze selbst der Heide ausruft: Dieser ist wahrlich Gottes Sohn gewesen! so beugt der gläubige Christ seine Kniee und hebt betend seine Hände empor:

O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Spott und voller Hohn -

nein! du bist nicht das Haupt eines Frevlers, du bist ein heiliges Haupt, auf dem keine eigne Schuld gelastet, sondern die Schuld der sündigen Welt!

Christen! wollt ihr den Gottes- und der Menschen Sohn oder den Frevler und Verbrecher? - eine andere Wahl ist euch nicht gestattet! O es kann nicht fehlen, auch in dieser Versammlung, ja auch unter denen, die zukünftig an heiliger Stätte betend die Hände zum Gekreuzigten werden aufheben müssen, kraft ihres Amtes, gibt es solche, welche nur das Menschenkind in Ihm verehren. Noth ein Mal - der gläubige Christ richtet euch nicht. Er weiß es nicht, in welchem Maße eure eigene Schuld zusammenhängt mit der Verschuldung einer vom heiligen Worte Gottes abgefallenen Zeit - aber, o dass ihr wenigstens von der Stunde an mit noch viel heiligerem Ernste euch fragtet, ob der, welcher das Leuchten der Majestät seines Vaters unter dem wollenen Gewande verbarg, nicht dennoch sei der Eingeborne des Vaters von Ewigkeit! Fraget nicht länger mehr, was „die Leute sagen, wer des Menschen Sohn sei“, fraget, höret ihn selbst, wer er gesagt hat, dass er sei. Gilt euch sonst der Menschen Zeugnis von sich selber nur zu viel, wie wollt ihr dem Selbstzeugnisse dessen misstrauen, der gesagt hat: „So ich von mir selber zeugte, so ist mein Zeugnis wahr, denn ich weiß, von wannen ich komme und wohin ich gehe!“? Und dieses Zeugnis, welches aus der Tiefe einer so klaren, so ihrer selbst sich bewussten Seele aufsteigt, sollte Wahn der Schwärmerei sein? Gewiss nicht! -

O du zur Rechten des Vaters Erhöhter, gib du selbst von deiner Höhe herab das Zeugnis von deiner göttlichen Majestät in die Herzen derer, welche auf deinen Namen die heilige Taufe empfangen haben; gib es vor Allem in die Herzen derer, die da einst Diener deines Evangeliums werden, und kraft ihres Amtes ihre Hände betend zu dir aufheben müssen, damit ihr Herz sie nicht anklage in den heiligsten Stunden ihres Lebens, dass sie zu einem sündigen Menschenkinde beten!

Anhang - Auf die XI. Predigt sich beziehend.

Wenige oder Keinen wird es unter denen, die Christum für einen ihres Gleichen halten, geben, welche der Gedanke: „Christus ein hochmütiger Frevler“ nicht empörte. Es ist eine schöne Inkonsequenz von uns Deutschen - in England, Italien und Frankreich war und ist es bei den Deisten anders. Und eben weil dem deutschen Deisten für seine Person der Gedanke durchaus fremd ist, so erstaunt er auch, wenn man diese Konsequenz seinem System zuschreibt. Es wäre aber nicht der erste Fall, dass in einem System notwendige Folgerungen liegen, welche die Personen nie ausdenken. Man lasse den Geist, der jetzt von Frankreich her den Süden unseres Vaterlandes angesteckt hat, nur noch zwei Jahrzehnte in der Volksmasse fortwirken, und man wird aus Prämissen, auf die jetzt Unzählige wie auf ein Evangelium schwören, zu seinem Schrecken sich Folgerungen entwickeln sehen, an die Keiner dachte!

Es ist hier nicht der Ort zu einer theologischen Abhandlung. Ich kann aber doch nicht umhin, mit einigen Worten die Umwege zu berühren, auf denen der deutsche Deist den furchtbaren Konsequenzen, welche jene Predigt ausspricht, zu entgehen sucht. Zuvörderst bleiben Mehrere dabei stehen, dass es eine gewisse Exaltation1) gebe, in welcher edle Menschen wohl mehr von sich aussagen, als das nüchterne Bewusstsein gelten lassen kann, dieses aber - zumal bei einem Orientalen - Schwärmerei, Hochmut zu nennen, sei ungerecht. Die Antwort ist: hat Christus wirklich gesagt, was wir von ihm lesen und ist doch nichts mehr gewesen als jedes andere Menschenkind - also auch sündig, da das vitiis nemo sine nascitur2), zu dem Horaz sich bekennt, auch ihn einschließen muss - so wird niemand umhin können, eine solche Exaltation für schwärmerisch zu halten, und als ihre Quelle den Hochmut anzuerkennen. Man prüfe sich, welchen Eindruck in eines Sokrates Mund machen würde das: „Wer kann mich einer Sünde zeihen?“ „Wer mich sieht, der sieht den Zeus“ usw. - Aber wir sehen uns zweitens darauf verwiesen, dass jene Aussprüche sich anders interpretieren lassen: „Wer kann mich einer Sünde zeihen“ - nämlich nur einer Tatsünde. „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ - denn in mir, wie in allen moralischen Menschen, zeigt sich eine gewisse Gottähnlichkeit. „Niemand“ - nämlich in Palästina - „kennt den Vater“ - das heißt: Gott als den Menschenvater - „als der Sohn“ d. h. als der Messias. „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ - mir ist die Lehrgewalt über die Juden und über die Heiden übertragen usw. Doch man weiß kaum, ob diese Interpretationen eine Ironie auf die Bibel oder auf diese Theologie selbst sein sollen. Nur Eine Interpretation dieser Art verdient Beachtung: Sohn Gottes sei nur - Messias. Doch auch diese Erklärung wird jetzt, wo man sensus3) und significatus4) in der Schrifterklärung genauer unterscheidet, kaum mehr vorkommen. Sohn Gottes heißt nicht Messias, sondern der Messias war im besonderen Sinne ein Sohn Gottes, der eingeborene, so dass in diesem Sinne nur Einem, nur ihm der Name Sohn zukommen kann. Hat Christus nichts anders mit jener Benennung gemeint, als theokratischer König, Messias; warum hebt das Volk Steine auf und sagt: „um der Gotteslästerung willen, dass du ein Mensch bist und machst dich selbst zu Gott.“ Indes wenn nun auch die höhere Bedeutsamkeit dieses Einen Namens glücklich beseitigt würde - an den andern Aussprüchen scheitert diese ausleerende Exegese doch. Wir werden jedoch drittens auf die Akkommodation5) verwiesen. Im hohen Bewusstsein der moralischen Kraft, die ihm einwohnte, ein Restaurator seines Volkes zu werden, hat er die Form ergriffen, die er unter seinem Volk vorfand, und das Messiasgewand sich angelegt. Zuvörderst nun: wer rechtfertigt es vor dem Richterstuhl einer Moral, die dem Jesuitismus vorwirft, die Unwahrheit als Mittel zu gebrauchen zur Stütze des Reiches der Wahrheit? Sodann: wer überzeugt sich, dass der, welcher vor dem Hohenpriester auf den Schwur bei dem lebendigen Gott beteuerte, er sei Christus der Sohn Gottes - in diesem Augenblick sich, gegen seine Überzeugung, akkommodierte? Ferner: wer rechtfertigt es, dass er Höheres von sich aussagte, als - wie man annimmt - von seinem Volk damals erwartet wurde? Endlich: was geziemte dem kindlich frommen, demütigen Israeliten, der in sich, wie in allen anderen Menschen, der Sünde Gewalt fühlte, und mit seinem frommen Vorfahren beten musste: „Herr, wer kann merken, wie oft er fehlt? Vergib mir auch meine verborgenen Sünden“; der also selbst mit Sehnsucht auf den Erlöser von allem Übel hinausblicken musste, den Gott von den Vätern her seinem Volke verheißen - was ziemte ihm mehr: kindlich zu harren und mit jenen Frommen, die in Jerusalem warteten auf „den Trost Israels“ (Luk. 2,25.), zu bitten, dass er bald kommen möchte, oder: - sich selbst darzubieten als den, „welchen viele Könige und Propheten zu sehen gewünscht hatten - dessen Tag schon Abraham sah und sich freute!“?

Doch es wird noch ein vierter Ausweg uns eröffnet. Vielleicht hat Christus alle Aussprüche dieser Art gar nicht selbst getan, sondern sie sind ihm nur von seinen Jüngern in den Mund gelegt worden. Vielleicht - vielleicht auch nicht? - Dieser Ausweg ist allerdings kühn, kühn wie der jenes Helden, welcher den Knoten, den er nicht lösen konnte - zerhieb. Also nur diejenigen Aussprüche soll Christus getan haben, welche jeder weise und tugendhafte Mann auch sonst, ohne Überspannung und Hochmut, von sich zu tun im Stande wäre - was irgend wie ein Strahl von oben her um das Haupt des Erlösers schimmert, soll abgestreift werden. Wohl, man mache einmal den Versuch, und streiche in seinen Evangelien alle Worte aus Christi Munde, in denen ein Schimmer übermenschlicher Größe, Reinheit, Macht leuchtet, alle Aussprüche, welche von seiner eigenen Erhabenheit, von der geheimnisvollen Verbindung mit den Seinigen, von seiner Auferstehung, Verherrlichung handeln, alle Weissagungen, alle Worte, welche seine Taten als Wunder Gottes bezeichnen, welche ihn als den bezeichnen, dem der Vater das Gericht und die Auferweckung der Toten übertragen usw., und man sehe, wie viel von seinen Worten übrig bleibt. Und haben seine Jünger und Lebensbeschreiber - von denen selbst der, welcher nur, was er von Andern empfangen, aufzeichnete, uns bezeugt, dass er nur gebe, „was die von Anfang an Augenzeugen waren“ berichteten, und zwar „genau“ (Luk. 1,1.2.) - dies Alles ihm in den Mund legen können, und dabei auch das Geschichtliche mannichfach unrichtig und fabelhaft dargestellt - wo findet man in aller Welt eine Lebensbeschreibung, die weniger treu wäre, von der man mit größerem Recht sagen könnte: Sie beschreibt statt der Taten und Meinungen des Helden der Geschichte die der Autoren? Und aus einer Geschichte, mit der es sich also verhielt, will man alsdann noch erfahren, wer der Jesus von Nazareth gewesen, von dem sie erzählt, und was er eigentlich gelehrt und gewollt - in einem Prozess, wo alle Akten verfälscht sind, wird niemand ein Urteil fällen können.

Natürlich ist hier bei Weitem nicht Alles gesagt, was zu sagen wäre, nur Winke sollten gegeben werden. Denn was der biblischen Wahrheit und auch der Wahrheit der biblischen Geschichte jene Überzeugungskraft mitteilt, welche den Menschengeist überwindet, das ist ja vorzugsweise das Zusammenstimmen. Vielleicht, dass man diesen und jenen Lichtschimmer, der in den Nebeln der Morgenwolken leuchtet, für ein verirrtes Wetterleuchten halten kann, aber wenn die Strahlen sich mehren, wenn sie von allen Seiten her sich ergießen, und sie alle mit denselben Farben leuchten, wenn sie sich alle verfolgen lassen bis auf einen gemeinsamen Punkt, von dem sie ausgehen - wer will dann noch zweifeln, dass es die Sonne sei, die am Horizont aufgeht! Das aber gerade ist der Fall bei der evangelischen Geschichte. Die Weissagungen winken in ahnungsvollem Schimmer, die Wunder reihen mit hellerem Strahl sich an, die Worte und Taten leuchten in klarem Glanz - man nehme hinzu, was auf die Geschichte Jesu folgt - wie man in der Dogmatik sagt, dass die erhaltende und die schöpferische Kraft nur eine sei, wer sieht das nicht in der Geschichte der Apostel bestätigt? - der Erlöser hat die Seinen nicht als Waisen gelassen, er ist wieder gekommen; nicht in ihrem eigenen, in Jesu Namen sagen jetzt sie, wie einst er: „Stehe auf und wandle“ (Apg. 3,6.), die Türen der Kerker öffnen sich, die Blutzeugen sehen den Himmel offen, die Widersacher werden durch denselben Jesus zu Aposteln umgeschaffen, das Samenkorn, in Tränen und dunkler Nacht gesät, geht am hellen Tage auf zum großen Baum, unter dessen Schatten die Vögel des Himmels wohnen - „selig, wer sich an mir nicht ärgert!“ spricht Christus.

1)
Zustand der Aufregung, der über ein angebrachtes Maß hinausgeht
2)
Kein Mensch wird ja ohne Fehler geboren.
3)
Gefühl, Bewusstsein, Verstand
4)
Bedeutung, Sinn
5)
Anpassung einer Religion an eine andere oder an Ideen und Werte der Umgebung
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