Tholuck, August - Der Weg zum Reiche Gottes
Ihr werdet noch selten, meine Andächtigen, von einem Gestorbenen sprechen gehört haben, ohne daß es heißt: nun ist ihm wohl! er ist selig! Daß dort jenseit des Grabes, jenseit der schauerlichen Grenze, es wohl auch schlimmer seyn könne für diesen und jenen, als diesseits, das fällt Keinem ein. Ach wohl wäre es schön, wenn sie Alle, die auf dieser bedürfnißvollen Erde neben einander pilgern, am Ende der Pilgerbahn zusammen einkehrten in das schöne, große Vaterhaus, in welchem, wie der Heiland gesagt hat, viele Wohnungen sind; wenn wir gewiß wüßten, daß sie Alle, die mit der offenen Brust voll Wunden der Ewigkeit zuziehen, dort die Kühlung für die heißen Wangen und die Heilung ihrer Wunden finden werden - wohl wäre es herrlich, wenn wir wüßten, daß so viele Todte, als in die irdischen Sterbelisten eingetragen sind, so viele auch in dem göttlichen Buche des Lebens als Selige verzeichnet stehen! Wenn ihr das glaubt - nun, der Jünger Christi möchte es gern auch glauben - aber er muß ein festes Wort dafür haben, ein Wort, das nicht wankt, selbst im Angesichte des blassen Todes nicht. Aus Christi Mund muß ich vernommen haben, was mich halten und stützen soll, wenn die Hand des Todes mich faßt. Des Herrn Wort sagt mir aber etwas anderes! „Die Pforte - heißt es hier - ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und Wenige sind ihrer, die darauf wandeln.“ Unter allen Aussprüchen des Neuen Testamentes habe ich keinen einzigen gelesen, der mich so erschüttert hätte - keinen, der, so wie dieser, wie ein Donnerschlag hineinführe in den Leichtsinn und die Lust des Weltlebens! Mit so dürren Worten steht es hier geschrieben: „Wenige sind ihrer, die auf dem Wege des Lebens wandeln.“ Es ist unmöglich, daß derjenige, der erstens den Taumelkelch der Verblendung nicht ganz bis auf die Hefen geleert hat, und der zweitens nur einigermaßen Glauben an den Mund der Wahrheit hat, nicht in seinem Innersten erbebe, und da, wo der Heiland ruft: „Wie schmal ist der Weg, der zum Leben führt, und wie wenige sind, die darauf wandeln!“ mit lautem Drange der Sehnsucht in die Frage ausbreche: o wenn so Wenige ihn finden, Bote des Himmels, wo ist er, dieser enge Pfad? zeige ihn mir, daß ich ihn wandele! Lasset uns diese Frage heut beantworten, indem wir mit einander den Weg zum Reiche Gottes betrachten, den wir beschrieben finden.
Joh. 3,1-15.
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden; der kam zu Jesu bei der Nacht, und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott kommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die Du thust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wieder in seiner Mutter Leib gehen, und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch: und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß dich's nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von Neuem geboren werden. Der Wind blaset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nikodemus antwortete, und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist Du ein Meister in Israel und weißt das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, das wir wissen, und zeugen, das wir gesehen haben; und ihr nehmet unser Zeugniß nicht an. Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Und Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.„
Den Weg zum Reiche Gottes also laßt uns betrachten. Dreierlei wollen wir unter Gottes Beistand aus diesem Abschnitte lernen. Zuerst lasset uns daraus lernen: was da noch nicht ausreicht, um das Reich Gottes zu sehen; zweitens: was die alleinige Bedingung sei, unter der das Reich Gottes gesehen werden kann; drittens: wie man dazu gelangt, diese Bedingung zu erfüllen.
Gewöhnlich denkt man sich, meine Freunde, unter Nikodemus einen schwachen und in geistiger Beziehung sehr armen Menschen. Es wäre aber zu wünschen, daß er keinen von uns Christen beschämte. Es ist wahr, er hat so viel Menschenfurcht, daß er bloß bei Nacht zu Christo kommt. Habt ihr wohl aber auch bedacht, was er alles zu überwinden hatte, ehe er den Entschluß fassen konnte, zu Christo zu kommen? Er war ein Oberster in Israel, d. h. ein Beisitzer des obersten Gerichtshofes über das ganze Land; also einer der ersten Staatsmänner in Palästina. Unstreitig war er auch reich; theils verlangte dieses das Amt selbst, theils sehen wir es daraus, daß er mit auf seine Kosten, und zwar sehr reichlich, Jesum bestatten läßt. Er gehörte also in zwiefacher Hinsicht zu den Reichen - reich an Ansehen und Macht, reich an irdischen Gütern. Er war aber auch ein Pharisäer, gehörte also zu derjenigen Partei der Israeliten, welche das Gesetz Gottes auf's strengste erfüllte; da kam also noch ein dritter Reichthum hinzu - der Reichthum an Tugend und eigener Gerechtigkeit. Wenn nun der Heiland gesagt hat: „wie schwerlich werden die Reichen in's Reich Gottes eingehen“- du dreifach reicher, du schwer beladener Mann, wie schwerlich wirst du ins Reich Gottes kommen! Es ist wahr, er kommt nur bei Nacht zum Erlöser, aber wie viele von den Reichen, wie viele von den dreifach Reichen, welche Ansehen, Vermögen und bürgerliche Unbescholtenheit zugleich besitzen, sind unter uns Christen, die auch nur bei Nacht zum Erlöser kommen, d. h. die, wenn die Menschenfurcht sie verhindert, sich frei und offen zu bekennen, auch nur in der Stille ihrer Kammer zu Jesu ihr Herz und ihre Hände erheben? - Und wie weit ist dieser nächtliche Jünger in seinem Glauben gediehen? Sein Glaube von Christo ist nicht schlecht und nicht gering: daß derselbe von Gott gekommen sei und daß er ein göttliches Zeugniß mit sich bringe in seinen Wunderthaten, das ist sein Glaubensbekenntniß. Wollen wir es also nach unserer neuern Sprache bezeichnen, so ist er ein Offenbarungsgläubiger. Meine Freunde! wundert ihr euch noch, wenn er sich bedünken ließ, daß ihm doch das Reich Gottes ohne Zweifel offen stehe?
Was sagt ihm aber der Herr? „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß Jemand von Neuem geboren werde, wird er das Reich Gottes nicht sehen.“ O centnerschweres Wort! Wie viel eitle menschliche Hoffnungen zertrümmerst du mit einem Mal! Gemeinde Christi, merke es wohl! Du kannst also zu Jesu kommen in Kirche und Abendmahl; du kannst glauben, daß Jesus von Gott gekommen sei, und daß Niemand die Thaten thun kann ohne Gott, und dennoch mußt du gewärtigen, daß Jesus dir sagt: „Das Reich Gottes kannst du nicht sehen!“ Das ist eine harte Rede! wer mag sie ertragen! Was ist also die Bedingung, unter welcher man, nach Jesu Ausspruch, das Reich und die Herrlichkeit Jesu sehen kann? Ihr seid einmal geboren worden aus dem Fleisch, d. h. durch fleischliche Erzeugung, und seid damit hineingetreten in eine Welt des irdischen Daseyns, und alles, was nicht aus Christo ist, das gehört dieser Welt an. Zum zweiten Male sollt ihr geboren werden in eine neue Welt. - So hat denn also der Geist Jesu Christi eine ganz neue Welt geschaffen, wo eine andere Sonne leuchtet, und ein anderer Himmel sich aufthut, als der über uns; wo es eine andere Freude gibt, anderes Leid, andere Freunde und andere Feinde, andere Neigungen und andere Gesetze als die, welche in dem Leben des Menschen herrschen, der Christum nicht kennt - und so verschieden ist diese neue geistliche Welt, die dem Menschen aufgeht, der Christum kennt, daß er selber ganz auf's Neue geboren und in allem seinem Denken, Wollen und Fühlen anders werden muß, wenn er an dieser geistlichen Welt will Antheil nehmen. Wenn es unter euch solche gibt, meine Freunde, welche hievon noch keine Erfahrung gemacht haben, daß man durch das Leben in und mit Christo in eine so ganz andere neue Welt eintritt - die werden, die müssen staunen bei dieser Rede Christi. Sie steht wie eine Rede aus einer verhüllten Wunderwelt vor unsern Augen. Wollt ihr aber von vornherein bestreiten, daß es solch' eine neue geistige Welt geben kann, deren Leben sich zu der früheren verhält, wie ein ganz neues Daseyn zu einem früheren Leben? Hofft ihr doch alle darauf, durch den leiblichen Tod in ein schöneres Daseyn hineingeboren zu werden, an das ihr glaubt, ohne daß euer Auge es gesehen, euer Ohr es vernommen hat. Wie nun, wenn es ein geistiges Sterben, einen geistigen Tod gäbe schon hier auf der Erde, der die Pforte wäre zu einem neuen Daseyn? Ihr wißt es, einst war ein ganzer Welttheil uns unbekannt, den wir jetzt die neue Welt nennen, und so lange Keiner Zeugniß ablegen konnte, daß er dort gewesen sei, so lange glaubte man es nicht, daß es eine neue Welt gebe. Als aber die Leute kamen, die dort gewesen waren, und es bezeugten, da zweifelte man nicht mehr daran; für einen Thoren würde angesehen werden, wer jetzt noch daran zweifeln wollte! Wie nun, meine Freunde! wenn nun auch Einer käme, wenn Viele kämen, die das Zeugniß euch ablegten: „Seitdem ich im lebendigen Glauben zu meinem Herrn Christus mich hingewandt und ganz und gar mir angeeignet, was sein heiliges Wort mir verkündigt, bin ich in eine ganz neue Welt versetzt worden. Was ich früher liebte, das hasse ich nun; was ich früher haßte, das liebe ich nun; der dunkle Himmel über mir ist hell geworden, der Sandboden unter meinen Füßen ein Felsengrund; Ströme und Regen schlagen an das Haus meines Herzens, und es fällt nicht, und in der tiefsten Nacht meiner Seele ist mir aufgegangen ein unvergänglicher Stern!“ Was wollt ihr dazu sagen, frage ich, wenn Einer, wenn viele Boten kommen und aus der neuen Welt euch diese Botschaft bringen? Höret zwei Zeugen, Paulus und Luther. Paulus der Apostel spricht: „darum von nun an kennen wir Niemanden nach dem Fleisch; denn ist einer in Christo, so ist er eine neue Creatur; das Alte ist vergangen, siehe! es ist Alles neu worden;“ und der Mann, dessen Wort ein Schlachtschwert ist, bezeugt: „der Glaube ist ein lebendig, gewaltig und geschäftig Ding; ist nicht ein schläfriger, fauler Gedanke; schwebet auch und schwimmt nicht oben ans den Herzen, sondern ist ein Wasser, das vom Feuer erhitzet ist,“ und o, was sie bezeugen, siehe! das ist die Stimme von Millionen Zeugen in allen Zeiten. Sollten sie alle Betrüger seyn? sollten sie alle Schwärmer seyn? Ihr wagt nicht, das zu sagen. Aber wer weiß, ob nicht doch dem Einen und dem Andern sich eine zweifelnde Frage in der Seele aufdrängt? Nun, so lasset noch einen andern Zeugen mich euch vorführen, den, von dem geschrieben steht: „er wußte, was in des Menschen Herzen ist.“ Dem Nikodemus, dem es ergeht, wie euch, der auch erstaunt dasteht und zweifelt, tönt aus dem Munde, in dem kein Falsch erfunden wurde, aus dem Munde dessen, der da wahrhaftig wußte, was in des Menschen Herzen war, in das Ohr: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß Jemand auf's Neue geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen!“ Wollt ihr den Zeugen zum Lügner, zum Schwärmer machen? Könnt ihr es nicht, nun wohlan denn, ob auch dieser und jener unter euch, meine lieben Freunde, zweifelnd und staunend stehen bleiben mag, wie Nikodemus, vor diesen Zeugnissen des neuen Lebens, das Christus in der Seele des Menschen weckt, ob ihr auch selbst noch nicht hineingetreten seyn mögt in seine verborgene Herrlichkeit - das muß von nun an unzweifelhaft eurer Seele gegenwärtig seyn: es gibt eine neue Geburt aus dem Geiste; es gibt ein ganz neues Daseyn des gläubigen Gemüthes; es ist da mit seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit, wenngleich meine Augen es noch nicht geschaut haben. Jesu Wort hat es uns bezeugt, und wehe dem, der von nun an, weil er die Seligkeit und Herrlichkeit dieses neuen Daseyns nicht kennen gelernt hat, daran zweifeln oder gar darüber spotten könnte.
Ihr aber, die ihr erschrocken waret bei dem Zeugnisse Jesu Christi: „daß Niemand das Reich Gottes sehen mag, als wer auf's Neue geboren ist“, und die ihr zweifelnd stauntet bei dieser Botschaft, wie Nikodemus, es verzweifle keiner daran, daß, was er suchte, er finden mag. Nikodemus selbst ist euch ein Beweis: er staunt. Aber der Herr verwirft den staunenden Jünger nicht; er läßt sich herab zu ihm: Siehst du es denn nicht sogar im Reiche der Natur abgebildet, sagt er, was ich dir bezeuge aus dem Reiche des Geistes? Eben mochte ein nächtlicher Sturm seinen Fittig schwingen. Merkest du nicht die Gewalt, die Felsen zerschmettert und Bäume zerbricht, obgleich kein Menschenauge sie sieht, und du die Stätte nicht weißt, von wannen sie sich erhebt und wo sie sich wieder zur Ruhe legt? So hat also der Herr sich herabgelassen zu dem staunenden, zweifelnden Jünger, und siehe! wie der Zweifler im Glauben gewachsen ist! Ihr schlagt einige wenige Blätter der Geschichte um, und siehe! derselbe Jünger, der schüchtern im Dunkel der Nacht den Meister gesucht hatte - im hohen Rathe von Jerusalem erhebt er seine Stimme für den Nazarener: „Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhöret und erkennet, was er thut?“ (Joh. 7,51.); läßt willig sich schelten: „Bist du auch ein Galiläer?“ - und wiederum, kaum sind etliche Monate verflossen - sie haben den „Meister, von Gott gekommen,“ am Kreuzespfahl aufgerichtet - und Nikodemus, siehe, derselbige Nikodemus kommt und bringt Myrrhen und Aloe, und macht Gemeinschaft mit dem vom Hohen Rathe Verworfenen, mit dem an's Kreuz Geschlagenen, und scheut keine Schmach und keinen Hohn für den Namen Jesu Christi! Sehet, meine Brüder! wie das Samenkörnlein, welches in dunkler Nacht in das schüchterne Herz geworfen war, aufgewachsen ist zu einem freudigen Baume ins Tageslicht! Wer unter euch will nun noch kleinmüthig seyn? Wer will zagen? Kommt nur zu Jesu, wenn auch schüchtern, wenn auch bei Nacht: Ein Wort aus seinem Munde in euer sehnsüchtiges Herz, und es wird ein Samenkorn seyn, das bald zum Baume aufschießt, unter dessen Schatten die Vögel des Himmels wohnen.
Eben dies, meine Andächtigen, leitet uns zu der dritten Frage: wie wir dazu gelangen können, jene Bedingung zum Eintritte in das Reich Gottes zu erfüllen? „Gleichwie Moses - sagt der Herr - in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.“ Das Gleichniß von der Schlange ist aus der Geschichte Israels euch wohl bekannt, wie das Volk in der Wüste, vom feurigen Schlangenbiß getroffen, eine kupferne Schlange aufrichten mußte, und wer zu der aufsah im Glauben an Gott, der war vom Tode errettet, der genas. Wenn nun der Heiland sich selbst in seiner Erhöhung am Kreuz mit jener Schlange vergleicht, so vergleicht er eben damit die Menschheit mit denen, welche vom feurigen Schlangenbiß verwundet und vergiftet werden - und so frage ich euch denn: Kennt ihr sie, jene listige Schlange, die von den frühesten Jahren eurer Kindheit an sich an eure Brust geschmiegt und tödtliches Gift in eure Adern gegossen hat? Kennst du sie, jene glatte, glänzende Schlange der Lust, die sich in tausend Krümmungen und Windungen aus dem innern Abgrunde des Busens heraufdrangt und mit tausendfachem Betruge dein Herz umstrickt? O ich irre mich gewiß nicht, es ist Keiner unter euch, der sich nicht unzähliger Augenblicke aus seinem Leben erinnerte, wo er mit ihr gerungen und gekämpft hat und nach ermattendem Kampfe dennoch in der Stunde, wo von außen die Gelegenheit hereinstürmte und von innen die Lust, ihren giftigen Biß fühlen mußte, daß seine Seele jammernd zum Himmel schrie. Wer, wer ist unter euch, der von dem Bisse dieser Schlange keine Narben in seinem Gewissen trägt - wer, der keine offenen Wunden von ihr trägt an seiner Brust! Herbei, ihr alle, die ihr diesen Schlangenbiß in euerm Gewissen traget; herbei, ihr alle, die ihr, von ihren Ringen umstrickt, die Kraft eures Armes wanken fühlt - siehe da! das Schlangenbild gekreuzigt auf Golgatha, und aus seinen Wunden quillt die Heilung der Wunden der Welt. - Dem natürlichen Menschen ist das Reich des Bösen nicht minder als das Reich des Guten ein Buch, verschlossen mit sieben Siegeln; darum ist er im Stande, ein langes Leben hindurchzugehen, an allen seinen Gliedern gebunden von den Windungen der alten Schlange, und meint doch, seinen Arm frei zu regen - zernagt an seinem innersten Lebenskeime von ihrem giftigen Bisse, wohl fühlend den Schmerz, und sieht doch den Wurm nicht, von dem er kommt, - so lange bleibet auch das Menschenherz trotzig, und braucht keine Vergebung der Sünde und keine Hand aus den Wolken. Es muß aber zu einem Untergange kommen mit einem jeglichen Menschen. Gottes Geist, der die Welt um der Sünde willen straft, öffnet das schlafende Auge - alsobald ist die Verzagung da, und das ist denn die Stunde, wo das Kreuz auf Golgatha für den Menschen die Lebenskraft wird zu einer neuen Geburt. Er fängt an, es anzuschauen mit dem Glaubensauge und erblickt nun an dasselbige Kreuz, woran sie den Sohn Gottes geschlagen, auch die Handschrift geheftet, die wider ihn zeugt; es geht ihm das Auge auf für die Liebe, die den Menschen zuerst geliebt, und er wird ein neuer Mensch und tritt ein in die wunderbare Welt, die Gott bereitet hat denen, die ihn lieb haben.
Es ist eine große Stunde, wo sich das Auge zum ersten Mal aufthut unter einem neuen Himmel, auf einer neuen Erde - es ist eine Stunde, in Wahrheit so groß, als die, wo du zum ersten Mal das Auge aufschlugst zu dem Lichte dieser Welt; ja sie ist größer denn diese, denn warum anders bist du hineingeboren in das Licht dieser Welt, als daß du eben in seinem Scheine das Licht einer andern Welt finden möchtest! Doch mit dem Eintritt in diese neue Welt bist du noch nicht am Ende, sondern eben erst am Anfange. Und auch darüber laßt mich noch einige Worte sagen, damit Keiner unter uns sich falsche Vorstellungen mache über jenes große Geheimniß der neuen Geburt, als ob es auf eine zauberhafte Weise aller geistigen Noth auf ein Mal ein Ende machte. Durch die Wiedergeburt wird der Mensch erst ein Kind in dem neuen unbekannten Lande. Gleichwie aber der sinnliche Mensch unter dem Strahle der irdischen Sonne, und genährt von Allem, was die mütterliche Erde darbeut, erstarken und heranwachsen muß vom Kinde zum Manne; so gibt es auch ein Mannesalter in Christo, zu dem du heranreifen mußt. Auch in dem neuen Lande, in das du durch die Wiedergeburt hineingeboren, muß das Kind, das da wachsen will, Trank suchen und Speise, muß den milden Sonnenschein genießen und die frische Luft. Das allein hat die neue Geburt dir gegeben, daß du ein Bürgerrecht empfangen in dem neuen Reiche, daß seine ganze Herrlichkeit ausgebreitet vor dir daliegt: der Reichthum seiner Fluren, die Frische seiner Quellen; daß der Scepter seines Königs dich schirmt, und seine mildere Sonne über dir auf- und untergeht.
Darum, ihr Reichsgenossen des Reiches Gottes, bleibet keine Kinder, sondern werdet Männer in diesem schönen Reiche! Gehet täglich heraus in den Strahl seiner Sonne, esset das Brot, das es so reichlich euch darreicht, und labet euch an seinen Quellen. Kommt dann für euch die Stunde des letzten Abschieds: es geht nicht in fremdes Land, bloß in eine neue Provinz des Reiches Gottes wird euch der Zugang eröffnet, bloß eine Decke mehr soll abgezogen werden, die euch die volle Herrlichkeit desselben zu schauen verhinderte. Ihr aber, die ihr noch mit Nikodemus fraget: Wie mag solches alles geschehen? verzaget auch nicht! Habt ihr den Schlangenbiß nur empfunden, habt ihr nur die Windungen, die euch umstricken, erkannt - blicket auf zu dem erhöheten Menschensohne, und zwar im Glauben, daß ihm die Macht gegeben sei über das Schlangengift, und auch ihr werdet genesen; die Liebe, die euch zuerst geliebet, sie wird der Schlüssel seyn, welcher die neue Welt euch aufschließen wird.
Aber ihr, die ihr so sorglos hinwandelt zwischen dem Blitze des Lebens und dem Schlage des Todes - noch einmal, wohl wäre es schön, wenn, so Viele ihrer jährlich die Sterbelisten auf Erden anzeigen, so Viele auch eingetragen wären in das Buch des Lebens im Himmel; wohl wäre es schön, wenn, so Viele ihrer hier zusammen wandeln auf Erden, sich auch zusammen fänden im Vaterhause des Himmels! - aber wenn es Wahrheit ist, wenn es Wahrheit ist, das Wort des Herrn: „Die Pforte, die zum Leben führt, ist eng, und der Weg ist schmal, und Wenige sind, die darauf wandeln“, sagt mir, kann es eine ernstere Frage für euch geben alle Tage und Stunden, als, ob ihr unter den Wenigen möchtet erfunden werden - sagt mir, wenn Christi Wort Wahrheit ist, warum fragt ihr nicht noch mit viel heiligerem Ernste nach der Bedingung des Eingehens in sein Reich, die er selber gestellt hat?