Tholuck, August - Mark. 4, 35-41. "Das Christenthum in seinem Anfange, in seinem Fortgange und in seinem Ausgange.“

Tholuck, August - Mark. 4, 35-41. "Das Christenthum in seinem Anfange, in seinem Fortgange und in seinem Ausgange.“

Wir werfen unseren Blick auf eine jener Wundererzählungen aus dem Leben des Herrn, welche, während sie einerseits in ihrer Bedeutung als äußerliche Geschichte uns erheben, andererseits zugleich seit den ältesten Zeiten von der christlichen Kirche als eben so viele Spiegel und Sinnbilder geistlicher Wahrheiten betrachtet worden sind. Ein reicher Quell der Erbauung sind in der That die Wundererzählungen des Herrn, auch wenn wir nur bei ihrer äußeren Wahrheit stehen bleiben. Glaubt man in Wahrheit an sie, so ist es unmöglich, an ihnen vorüber zu gehen, ohne reiche Erbauung und Erhebung. Welche stärkende Kraft liegt zunächst in dem Gedanken, daß jenes Wort, welches unserm Geiste in innerer Erfahrung gewiß geworden, aus demselbigen Munde hervorging, dessen Worten Wind und Wellen gehorsam waren, und dadurch sein Siegel erhalten hat; - wenn wir ferner uns bewußt werden: ja, zu solcher hohen Würde hat Gott den menschlichen Geist bestimmt, daß in seiner Vereinigung mit Gott alle Dinge ihm unterthänig werden müssen, daß der Sohn Gottes verkündet hat: „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleich wie wir eins sind;“ - wenn wir endlich bedenken: solche Macht und solche Liebe, wie sie in diesen Wunderthaten erscheint, wohnt jetzt in dem Herzen des verklärten Jesus im Himmel, dem der Vater alle Macht gegeben hat im Himmel und auf Erden! - Nicht aber ist es bloß das äußere Wesen und die äußere Wahrheit dieser Wunder, welche die Gläubigen erbaut; jede Wunderthat Jesu ist durchsichtig, sie ist eine Zeichenschrift, darin sie auch geistige Wahrheiten lesen. Nicht zufällig ist es, daß gerade diese oder jene Wunderthat vom Heiland ausgegangen; die Wunder sind die Erscheinungen seines Wesens, und so mag denn auch in ihnen der Menschengeist die ewige geistige Bedeutung des Herrn ahnen und erfassen. - Als eine solche Bilderschrift seines geistigen Wesens hat nun auch die christliche Kirche aller Zeiten die Wundererzählungen betrachtet. Der Blindgeborne, dem dort der Herr die Hand auflegt, das bin ich, der geistlich Blindgeborne - so ruft jedes gläubige Gemüth bei Lesung jener Geschichte; das Ohr, welches er öffnet, es ist mein geistiges Ohr, welches er mir für die Wahrheit aufgethan hat; der Aussatz, den er dort vertreibt, das ist der Aussatz meiner Sünden! Und er selbst, unser Herr, hat uns zu solcher geistigen Deutung berechtigt; denn wenn er dort vor den Boten Johannes des Täufers auf seine Wunder hinweist, daß die Blinden sehen, die Lahmen gehen, und die Todten auferstehen, und wenn er dort in der Synagoge von Nazareth bei seinem ersten Auftreten verkündigt, was Jesaia der Prophet geredet: „Der Geist des Herrn ist bei mir, derohalben er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los seyn sollen und den Blinden das Gesicht;“ so hat er ja in der That in dem Allen seine äußeren Wunder als einen Spiegel bezeichnet, darin die gläubigen Gemüther die Glorie seiner innern Wunder schauen sollen. So lasset uns denn in diesem Sinne den Blick auf jene erhabene Erzählung werfen, welche uns das Evang. Marc. 4, 35-41. vorführt: „Und an demselbigen Tage des Abends sprach er zu ihnen: Lasset uns hinüber fahren. Und sie ließen das Volk gehen, und nahmen ihn, wie er im Schiffe war, und es waren mehr Schiffe bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und warf die Wellen in das Schiff also, daß das Schiff voll ward. Und er war hinten auf dem Schiff, und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf, und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts darnach, daß wir verderben? Und er stund auf, und bedräuete den Wind, und sprach zu dem Meer: Schweig, und verstumme. Und der Wind legte sich, und ward eine große Stille. Und er sprach zu ihnen: Wie seid ihr so furchtsam? Wie, daß ihr keinen Glauben habt? Und sie fürchten sich sehr, und sprachen unter einander: Wer ist der? Denn Wind und Meer sind ihm gehorsam.

Ein erhabenes Bild der Wundermacht des Herrn über die Natur! Er schläft im Sturm, er erwacht, und der Sturm muß seinen Fittig, und das Meer seine Wogen senken. Welche bewegte Menschenbrust kann vor die Geschichte hintreten ohne den Ausruf: o daß eine solche Stimme auch zum Sturme in meinem Innern spräche: schweige! Mit welcher Gewißheit darf aber auch die bewegte Menschenseele sagen: wer das in Wahrheit vermocht hat über die Wellen des See Tiberias, der wird es auch in Wahrheit über die Wellen jedes geängsteten Herzens vermögen! So stellt sich uns denn in dieser Erzählung ein sinniges Bild des Lebens der Christen dar, und wir wollen nach ihr das Christenleben betrachten in seinem Anfange, in seinem Fortgange und in seinem Ausgange.

I.

Des Christenlebens Anfang wollen wir betrachten. Wir fahren aus auf des Lebens Wellen, und haben Christum zum Geleiter in den Tagen unserer Kindheit; wir fahren aus auf des Lebens Wellen, und so Vielen von uns der Segen frommer Eltern zu Theil geworden ist, wir haben Christum zum Begleiter in den Tagen unserer Kindheit. In einer Zeit wurde er in unsere Seele gepflanzt, wo wir noch keine eigene Wahrheit und Weisheit hatten, und bei wem sollten wir sonst die Wahrheit suchen, als bei denen, von welchen wir das Leben empfangen haben? So schmiegt sich denn das Kind an der Mutter Busen, so legt es sich an des Vaters Herz, und schlägt freudig und glaubensvoll das Auge auf nach dem Munde, welcher ihm von dem Heiland erzählt, der dem Sturme gebot und der die Kindlein zu sich kommen ließ und sie segnete. Ein weites Thor ist der Wahrheit geöffnet, ohne Riegel. So ziehen sie ein, diese wunderbaren Geschichten der Bibel in die kindliche Seele, und bilden dort eine schöne Zauberwelt, die in den Jahren, wo noch Alles um uns her Wunder ist, mit der würklichen Welt sich vermischt, und noch gar nicht als ein Fremdes und Uebernatürliches gesondert vor der gegenwärtigen Welt steht. Zu diesem Heilande blicken wir als Kinder auf als zu dem goldenen Munde der Wahrheit. Seinen Hirtenstab wissen wir über uns, und sind getrost im Dunkel. Wir fliehen das Böse, weil es unsern himmlischen Vater betrübt, wir thun das Gute, weil es unsern Heiland erfreuet. O selige Jahre des Kinderglaubens, wer sie erlebt mit der Reinheit ihrer Freuden und mit der Innigkeit ihrer Liebesflamme, dem muß er wohl als ein grausamer Räuber erscheinen, der diesen Glauben uns rauben will; ihm mögen wir entgegen rufen:

Den süßen Kinderglauben,
Den wollen sie mir rauben,
Die Weisen dieser Zeit.
So raubet ohn' Erbarmen
Den Wanderstab dem Armen
Die Hand, die keinen bessern beut!
Was wollt ihr mir denn geben
In diesem armen Leben,
Womit denn tröstet ihr?

Nein, du Kindesseele, seinem Wesen nach soll dir nimmer dein Kinderglaube geraubt werden, sein innerer Kern ist unvergänglich; aber ein Gewand, eine Hülle trägt er an sich, die er noch abstreifen muß. „Als ich ein Kind war, sagt der Apostel gerade mit Bezug auf das unvollkommene Gewand des Glaubens, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann war, that ich ab, was kindisch war.“ Der Kinderglaube hat den Heiland erfaßt mit dem Gefäße, mit welchem das Kind allein das Göttliche auffaßt, es hat ihn in seinem Gefühle besessen. Aber das Gefühl ist nicht das einzige Gefäß für das Göttliche, das der Mensch in sich trägt, er soll denselben Gottessohn auch in dem Gefäße des Mannesalters erfassen, und in der Erkenntniß ihn besitzen lernen, und zwar ohne darum im Gefühle ihn zu verlieren. Der Kindesglaube hat den Heiland gesehen, während das Lebensschifflein auf ebener Welle durch Blumenfluren hinglitt; er hat ihn noch nicht kennen lernen im Sturm und Ungewitter. So hat er ihn denn in seiner Lieblichkeit und Holdseligkeit erfahren, aber in der Herrlichkeit seiner Weisheit und Macht hat er sich ihm noch nicht offenbart.

II.

Der Anfang des Lebens geht vorüber, und in des Lebens Fortgang entschlummert Christus in des Menschen Seele, und es erwacht der Sturm. Jene kindlich schönen, frommen und seligen Gefühle des Glaubens, sie entschlummern. Zwar nicht von allen Christen ohne Unterschied mag ich dieses sagen, denn auserwählte Seelen giebt es, bei denen er nimmer entschlummert, welche ihn mit hinübernehmen, den seligen Kinderglauben, in das männliche Alter, und bei denen er die kindlichen Hüllen abstreift unvermerkt, und ohne durch einen Schlummer hindurchgegangen zu senn. Von solchen Seelen pflegten unsere Vorfahren zu sagen, daß sie „die Taufgnade bewahrt hätten,“ d. h. daß jene Gnade, die sich in ihnen mächtig erwiesen von der Zeit an, wo sie dem Schooß der christlichen Gemeinde anvertraut wurden, ungeschwächt bei ihnen geblieben sei. Zwei Männer sind es insbesondere, auf welche in dieser Hinsicht die evangelische Kirche hinweist, Spener und Zinzendorf, und manche andere mögen neben ihnen genannt werden können, und als das Urbild aller dieser Begnadigten des Himmels steht ein Johannes da; denn ist nicht in ihm, der in der Kindheit von seiner frommen Mutter Salome unter Hinweisung auf den zukünftigen Trost Israels, in der Schule des Taufers zu dem Lamme hingeführt worden ist, das der Welt Sünde trägt, der Funke Gottes zur Flamme geworden in stetem Wachsthume ohne eine Zeit des Schlummerns und Verglimmens? Wir andern aber, und zumal wir, die wir in der gegenwärtigen Zeit des Kampfes und Streites geboren worden und aufgewachsen, wir mögen und müssen uns des Apostels getrösten, der, ob er gleich auch sagen mochte, daß er „ein Eiferer gewesen sei um Gott“ von Kindheit an, doch aus einem Saulus ein Paulus werden mußte, ehe er ausrufen konnte: „wer mag mich scheiden von der Liebe Gottes in Christo?“ Und Gottes Kinder sind die einen wie die Anderen, denn zu einem königlichen Pallaste führt mehr denn eine Thüre, und, ihr Kinder Gottes, die ihr erst durch viele Nacht hindurch zum Lichte habt dringen müssen, das sei euer Trost: „Zu dem Hause des himmlischen Vaters, in dem die vielen Wohnungen sind, führen Thore von Osten und Westen, von Mitternacht und Mittag.“

Ja, für uns Andere, und zumal in dieser Zeit, giebt es kein anderes Gesetz, als daß dieser selige Kinderglaube scheinbar ersterbe, d. h. daß er seine Hüllen abwerfe, während der Sturm tobt, und aufersteht in einer neuen Gestalt. Die heilige, stille Flamme, die wir mit hinaustrugen aus dem älterlichen Hause, sie hatte sich in einer Zeit entzündet, wo unser Wille wie unser Denken in dem unserer Aeltern ruhete, wie die Blume, die im Schooß der Erde wurzelt. Wir treten hinaus in die Welt, und unser Wille wie unser Denken soll unser eigen werden. Ja, könnten wir nun eintreten in eine Welt, die zu einer Gemeinschaft der Heiligen Gottes umgewandelt wäre, wo in Aller Herzen nur Ein Feuer brennete, das Feuer der Liebe Jesu Christi, und in allen Geistern nur Eine Sonne leuchtete, das Licht der Erkenntniß Jesu Christi, da würden wir freilich gar nichts Anderes wieder finden, als was wir im älterlichen Hause besaßen, und den Funken, den die Gemeinschaft der Familie entzündet hatte, würde die Gemeinschaft der Kirche und des Staates zur Flamme emporziehen. Ja, stellte unser bürgerliches und kirchliches Leben allzumal sich als ein solches dar, wo jedwede Einrichtung und jedwedes Geschäft ein Abdruck des Willens Gottes wäre, vom Geiste Gottes erzeugt, da möchten wir immerhin das stille älterliche Haus mit der großen Weltstadt vertauschen; unser Denken und unser Wollen würde sich doch noch nach dem einen einigen Gesetze entfalten, das in Christo Jesu ist. Einst soll er sich aufbauen, ein solcher Bau des Gottesreiches, und in der äußern Erscheinung verwürklicht werden, wenn die Zeit kommt, von der geschrieben steht: „sie werden Alle von Gott gelehret seyn.“ Das große Endziel ist es, daß über allen bürgerlichen Einrichtungen, über allen Erzeugnissen der Kunst und Wissenschaft das Bekenntniß stehe: „Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater Aller, der da ist über euch Allen, und durch euch Alle, und in euch Allen.“ Das große Endziel ist es, daß an den Werken des Staatsmannes, an den Werken des Gelehrten, an den Werken der Kunst, daß man an ihnen allen die Spuren entdecke, daß die Taufe an ihnen vollzogen worden ist mit Wasser und mit Geist. Sind wir nun aber auch fern von dem Ziel, daß der junge Christ, wenn er in das Leben hinaustritt, auch in den bürgerlichen Kreisen es gewahr werde, daß hier Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe Alles vereinigt: wenigstens auf dem geweihten Boden der Kirche sollte diese Einigkeit doch nicht vermißt werden. Wenn nun aber der im Denken selbstständig sich entfaltende jugendliche Geist selbst in den heiligen Räumen der Kirche Christi in unserer Zeit den Zweifel und die Zerwürfniß der Gemüther findet, wie ist es da anders möglich, als daß der Zweifel und die Zwietracht in sein eigenes Denken hineindringe, daß das Mißtrauen sich dazwischen dränge zwischen den kindlichen Glauben und das denkende Ich! „Sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ so hat die Schlange am Uransange der Zeit geredet, als der erste Fall des Geschlechtes geschehen; sollte auch wohl Gott gesagt haben?„ - dies Schlangenwort drängt sich auf's Neue zwischen das Gotteswort und das menschliche Herz. Erst ist es nur das äußere Gotteswort, gegen das es sich richtet, und in das Reich der Träume der Kinderwelt sinkt auch das seligste Traumbild zurück, die Gewißheit von einem Heilande, der in seiner durchgrabenen Hand die Erde und den Himmel trägt! Bald geht es weiter. „Sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ - die Schlangenrede drängt sich zwischen das Herz und das innere Gotteswort, das im Herzen selber Zeugniß ablegt. „Vertraue Herz!“ so rief die innere Gottesstimme; „sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ so ruft die Schlangenstimme. „Sei heilig, Herz!“ so rief die innere Gottesstimme; „sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ so ruft die Schlangenstimme. „Ergieb dich, Herz!“ so rief die innere Gottesstimme; „sollte auch wohl Gott gesagt haben?“ so schreit die Stimme des Versuchers. Da schlummert denn der Christus ein, der mit uns herüber gekommen war aus den schönen Kindheitsjahren, und der Sturm erwacht, und die Wellen brausen, und das geängstigte Gemüth ruft: ist da keiner, der dem Sturm und den Wellen gebieten kann: „schweige!“ Da sehnt es sich zurück nach den Tagen der Kindheit und ruft:

Den süßen Kinderglauben,
Den wollen sie mir rauben,
Die Weisen dieser Zeit.
So raubet ohn' Erbarmen
Den Wanderstab dem Armen
Die Hand, die keinen bessern beut;
Was wollt ihr mir denn geben
In diesem armen Leben,
Womit denn tröstet ihr?

Getrost, geängstigte Seele, dein Heiland entschlummerte, aber er ist noch da im Schifflein deines Lebens. Rufe es nur aus das Wort der geängstigten Jünger: „Meister, fragest du denn nichts darnach, daß wir verderben?“ Noch ist das alte Bibelwort als ein Wort der Wahrheit unter uns vorhanden, und Tausende besiegeln es mit fröhlichem Amen: „Ruse mich an in der Zeit der Noth, ich will dich erretten und du sollst mich preisen.“ Doch wie soll ich anrufen, an den ich nicht glaube? Und doch glaubst du an ihn, und doch glaubst du an ihn, auch wenn er seine Augen geschlossen hat, und entschlummert ist. Oftmals habe ich vernommen, wie jenes Wort, welches dort der geängstigte Vater auf die Frage des Herrn: „kannst du glauben?“ geantwortet hat: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!“ - ich sage, oftmals habe ich vernommen, wie dieses Wort von manchem für ein unverständliches erklärt wurde. Wohl aber darf ich es mit Zuversicht sagen, Viele sind auch in dieser unserer Mitte, die bezeugen können, daß ein menschlicheres, ein wahreres Wort niemals ist ausgesprochen worden. Denn so ist es. Der Mensch kann zweifeln, er kann stark zweifeln, er kann verzweifeln, und doch ist der Glaube noch da. „Es giebt einen Anker, der in das Inwendige des Vorhangs geht.“ Dieses Wort der Schrift hat auch hier seine Wahrheit. Auf und nieder kann der Sturm das Glaubensschifflein schleudern, und doch giebt es noch einen Anker, der in das Inwendige des Vorhangs geh“, der im innersten Heiligthume der Brust fest liegt. Darum sagten wir, daß, wenn auch der Kinderglaube „entschlummert, er nicht stirbt, und wenn er auch erstorben scheint, er nur seine Hüllen abwirft. Wollt ihr euch davon eine deutliche Einsicht verschaffen, so erinnert euch an die Stunden, wo euch selber eine heilige Wahrheit dunkel geworden, und der Zweifel euer Gemüth zerreißt. Und wenn nun in dem Augenblicke aus einem Andern der Zweifel euch entgegen tritt, und euer Heiligthum bekämpft, habt ihr es nicht erlebt, wie ihr nun gegen den Andern streiten könnt, und wie mitten im Streite der glimmende Docht wieder zur Flamme wird? - „Er läßt uns nicht über Vermögen versucht werden.“ So sagt die Schrift, und dies ist auch in diesem Stücke wahr. Die Wissenschaft und die Bildung, welche die Kraft in sich trägt, dem Zweifel Gewalt über das Gemüth zu geben, sie trägt wahrhaftig auch die Macht in sich, der Wahrheit siegende Gewalt zu verleihen. Wenn man so sieht, wie die Systeme der menschlichen Weisheit gewechselt haben, wie aus jedem von ihnen der Zweifel gegen das Heiligthum sich gekehrt hat, wie aber auch aus jedem von ihnen der christliche Glaube einen Tempel Gottes aufzubauen gewußt hat, so erstaunt man vor der Gewalt, welche er auch im Reiche der Erkenntniß, des Denkens ausübt. Zweifelnde Christen, die Kämpfe der christlichen Kirche selbst, und ihre Siege mögen euch die Gewißheit auch eures Sieges geben! Wie viele Systeme des Unglaubens und des Zweifels hat die Kirche schon überwunden! Wahrhaftig, ist nur so viel Glaube noch im Heiligthume eurer Seele, daß ihr ausrufen könnt: „Meister, hilf uns, denn wir verderben!“ so seht getrost dem Zweifel in sein Angesicht, so bietet getrost dem Unglauben die Stirn - auch in dem Reiche des Denkens wird die Stimme nicht ausbleiben, die dem Sturme zuruft: schweige! und dem Meere: lege deine Wellen!

III.

Und das wird der Ausgang eurer Lebensfahrt seyn. - Wohl mag es am Orte seyn, daß ich hier vor euch des großen Gottesgelehrten gedenke, dessen Namen auch ihr mit Ehrfurcht nennet, die ihr nicht zum Dienste der Kirche berufen seid, der vor wenig Jahren in der Hauptstadt unseres Landes auf seinem Sterbelager, an jener Grenze, die Zeit und Ewigkeit scheidet, ein so lautes Bekenntniß seines Glaubens an den Sohn Gottes abgelegt hat, und als der Priester seiner Familie mit eigener Hand die Zeichen des Liebesmahles und des Bekenntnisses auf seinen Tod gespendet hat, ehe er in seinen eigenen ging. Ihr wißt es, wie mächtig auch er auf den bewegten Wogen der Zeit hin und her geschleudert wurde, wie er gerungen und gekämpft mit den Lehrgebäuden menschlicher Weisheit, und wie am Ende dennoch der Kindesglaube wieder hervorgebrochen ist, den heilige Mutterpflege in die zarte Seele gesenkt hatte. Die Hüllen hat er abgeworfen, der süße Kinderglaube, aber er selber ist nicht erstorben. Nun denn, so ringet auch ihr, ringet mit Sturm und Wogen, und lasset aus geängsteter Seele kräftig den Ruf zum Himmel dringen: „Meister, hilf uns, denn wir verderben.“ Und ich sage euch: der Ausgang wird seyn, daß, wie ihr euern Heiland früher erkannt habt in seiner Lieblichkeit und Holdseligkeit, ihr ihn nun erkennen werdet in der Herrlichkeit seiner Weisheit und Macht, und beseligt aus“ rufen: „Wer ist der, dem auch Sturm und Wellen unterthan sind!“ Aber damit nicht auch dieses Wort an eurem Ohr nur vorübergehe, und spurlos verschwinde, wie die Nebelwolke im Sonnenlichte vergeht, so darf ich auch davon nicht schweigen, daß mit Vielen von euch es noch gar nicht dahin gekommen ist. Den Kinder glauben habt ihr nicht mehr, aber ihr ringet nicht nach dem Mann es glauben. Der Zweifel nagt an eurem Herzen, aber ihr erschrecket nicht. Ein Kampf mit Sturm und Wogen sollte der Kampf mit dem Zweifel euch seyn, und er ist euch ein buntes Seifenblasenspiel. Ihr seht nicht einmal dem Zweifel ernstlich in's Angesicht, geschweige der Wahrheit! O ihr Bethörten, meint ihr denn, daß der Himmel die edelsten seiner Gaben solchen Trägen schenken wird? Wißt ihr nicht, was von den trägen Jungfrauen geschrieben steht, die kein Oel für ihre Lampe gekauft hatten: „Und die Thüre ward verschlossen,“ und als sie sagen: „Herr, thue uns auf!“ da heißt es: „Ich kenne euch nicht!“ O ist es nicht erschrecklich, wenn es heißt: die Thüre der Wahrheit ist vor einem Menschen verschlossen worden! - Aber auch euer Studiren ist noch nicht der Schlüssel, der allein sie euch öffnen wird. Ja, hat die Wissenschaft euch die Thüre zum Glauben verschlossen, so müsset ihr freilich auch an diese Thüre klopfen, damit euch der Glaube sie aufschließe. Woher aber kommen nach dem Worte des Heilandes alle argen Gedanken? „Aus dem Herzen!“ Und hätte, sagt mir, hätte der Geist der Verneinung Wurzel in eurem Geiste fassen können, wenn der Geist der Wahrheit fest darin gewurzelt hätte? Ein schweres Studium ist neben jenem in der Wissenschaft euch auferlegt, ihr müßt Gott lieben lernen, und Gott lieben, das ist kein bloßes Gefühl, das ist That; Gefühl ist die Wurzel, der Baum ist die That. „Das ist die Liebe zu Gott, daß wir seine Gebote halten,“ sagt der Jünger der Liebe. So nenne ich euch denn noch ein anderes Studium, ihr Jünglinge, an welches zu erinnern gerade hier der Ort ist. Das Studium der christlichen Selbstverläugnung und der Liebe zu Gott. Haltet seine Gebote, übt euch in der Demuth, in der Keuschheit, in der Wahrheit, in der Gerechtigkeit, und in allen Tugenden des Lichtes; übt euch im Gebete, - denn anrufen müßt ihr den, der die Gewalt über Sturm und Wogen hat, wie es die Jünger gethan haben!

Dann wird er aber auch erwachen, der Sturm und Meer bedräuen kann, er wird erwachen, und eurer Kämpfe selige Frucht wird diese seyn: seine Holdseligkeit und Lieblichkeit habt ihr erfahren, da ihr noch Kinder waret, seine Weisheit und seine Wahrheit werdet ihr inne werden, wenn ihr Männer geworden seid. „Wer ist der, dem auch Sturm und Wellen unterthan sind?“ so haben seine Jünger gerufen nach jener wunderbaren Erfahrung. „Wer ist der, dem auch Sturm und Wellen unterthan sind?“ Das wird das Bekenntniß des Ausganges eures Glaubenslebens seyn! Je mehr Stürme und Kämpfe, desto mehr Erfahrungen seiner Weisheit und Macht. Und so wollen auch wir, Geliebte und Heilige Gottes, so wollen denn auch wir getrost hineingehen in den Streit, der uns verordnet ist, und uns„ Feldgeschrey soll seyn: Der in uns ist, ist stärker, denn der, der in der Welt ist!“ Amen. Frucht wird diese seyn: seine Holdseligkeit und Lieblichkeit habt ihr erfahren, da ihr noch Kinder waret, seine Weisheit und seine Wahrheit werdet ihr inne werden, wenn ihr Männer geworden seid. „Wer ist der, dem auch Sturm und Wellen unterthan sind?“ so haben seine Jünger gerufen nach jener wunderbaren Erfahrung. „Wer ist der, dem auch Sturm und Wellen unterthan sind?“ Das wird das Bekenntniß des Ausganges eures Glaubenslebens seyn! Je mehr Stürme und Kämpfe, desto mehr Erfahrungen seiner Weisheit und Macht. Und so wollen auch wir, Geliebte und Heilige Gottes, so wollen denn auch wir getrost hineingehen in den Streit, der uns verordnet ist, und unser Feldgeschrey soll seyn: „Der in uns ist, ist stärker, denn der, der in der Welt ist!„ Amen.

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