Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten - Röm. 2,14-16
Akademische Gemeinde! Gewissenspredigten habe ich angefangen vor euch zu halten; was das alte Testament darüber predigt, das habt ihr vernommen: hört nun heute was der Apostel Paulus darüber gepredigt hat in den Worten an die Römer, die im 2. Cap. vom 14. Verse anfangen:
Röm. 2, 14-16.
„Denn so die Heiden die das Gesetz nicht haben und doch von Natur thun des Gesetzes Werk, dieselbigen dieweil sie das Gesetz nicht haben, sind sie ihnen selbst ein Gesetz. Damit, daß sie beweisen, des Gesetzes Werk sei beschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen sie bezeuget, dazu auch die Gedanken, die sich unter einander verklagen oder entschuldigen. Auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird laut meines Evangelii. “
Ihr wißt, wie im alten Testament Israel sich rühmt, daß es das auserlesene Voll Gottes sei. „Israel zeigt er sein Werk und Jacob seine Rechte: so thut er nicht allen Heiden!“ So lobsingt der Psalmist, und der Gesetzgeber: „Israel ist sein Eigenthum, und Jacob die Schnur seines Erbes. “ -
Allein solche Fürsorge Gottes für sein Volk haben wir nicht anzusehn, als hätte er andere Völker darüber vergessen, Moses nennt schon Gott den Allerhöchsten, der Himmel und Erde besitzt, also auch alle Menschen und Heiden gemacht hat. Der Prophet Amos - was man kaum meint aus dem Munde eines Propheten zu vernehmen - ruft: „Israel, du bist mir gleich wie die Mohren, habe ich dich nicht aus Egypten geführt, und die Philister aus Kaphthor und die Syrer aus Kir?“ - also daß Gottes Vorsehung anderen Völkern nicht weniger ihre Stellung in der Geschichte angewiesen hat als euch. Und was sagt Paulus in Lystra: daß Gott sich nicht unbezeuget gelassen an der Heiden Geschlecht, sondern ihnen viele Wohlthaten gethan. So ist nun überhaupt Paulus, der ehemalige Pharisäer, der, welcher darauf hinweiset, wie - was Gott Israel gegeben, er auch den Heiden nicht ganz versagt habe.
Israel rühmt sich, daß es allein die betenden Hände ausstrecke zu dem wahrhaftigen Gott, und Paulus, indem er zu Athen auf den Altar des unbekannten Gottes hinweiset, spricht: daß er ihnen Den verkündigen wolle, nach dem auch der Heiden Hände sich bittend ausgestreckt hatten, wenn auch ohne ihn zu kennen. - Israel spricht: „Der Herr ist mein und meines Volkes Gott,“ und Paulus Röm. 3. : „ist Gott nur etwa der Juden Gott oder auch der Heiden?“ „Freilich auch der Heiden. “ Also auch in unserm Text. In Bezug auf das große Gut, das Gesetz, hatte der Psalmist gejauchzt: „Israel zeigt er sein Wort und Jacob seine Rechte,“ und von dem spricht Paulus in unserm Text, daß „des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen. “
Indem das der Apostel sagt, hat er abermals uns den Text zu einer Gewissenspredigt gegeben. Ihr erinnert euch dessen, was jenes ernste Wort im Hiob uns vom Gewissen lehrte: „Es ist ein heimlich Wort, aus Gott thut es entspringen, nur wenn der Weltlärm schweigt, kann es an's Ohr dir dringen; gebietend tritt es hin, du mußt vor ihm dich beugen, was Gott sei und was du, das will es dir bezeugen. “ Das haben wir vernommen.
Laßt uns an unserm heutigen Texte wahrnehmen und erkennen, was Gott im Gewissen den Sterblichen gegeben hat. Er hat ihnen laut unseres Textes daran gegeben „einen verborgenen Gerichtshof in der Zeit und in demselben die Mahnung an einen offenbaren Gerichtstag in der Ewigkeit.
Ich sage: laut unseres Textes hat Gott den Sterblichen an ihrem Gewissen gegeben einen verborgenen Gerichtshof in der Zeit. Was zu einem Gerichtshofe erforderlich ist, das deutet der Apostel Paulus der Hauptsache nach in diesen Worten an: Ihr habt in euerem Gewissen ein Gesetzbuch, darin die Rechte Gottes geschrieben sind und das Schuldig, das die Uebertreter trifft; ihr habt in euerem Gewissen den Kron-Anwalt Gottes, der als Wahrer der göttlichen Rechte verklagend gegen euch auftritt, und habt dagegen auch einen Anwalt von Fleisch und Blut, der euch vertheidigt und entschuldigt; ihr habt an euerem Gewissen den Zeugen in der Sache Gottes, den nichts zum Schweigen bringen kann, und diese drei Stücke, die Paulus in unserem Texte nennt, die lasset vor unserem Geiste vorübergehn.
Von dem Werke des Gesetzes hatte er gesagt, daß es eingeschrieben sei in der Heiden Herzen und hat dabei nicht an den ganzen Umfang des Gesetzes gedacht, sondern lediglich an den Inhalt jener zwei Tafeln auf Stein, der da eingeschrieben sei in der Menschen Herzen. So laßt uns denn erwägen den Urheber dieser Herzensschrift, ihren Inhalt, den Ort, wohin sie geschrieben ist, die Menschen, in deren Herzen sie geschrieben, und die Aufgabe und den Zweck, den diese Herzensschrift hat.
Zuerst laßt uns betrachten den Urheber dieser Schrift: Das Gesetz der zehn Gebote, das war vom Finger Gottes durch göttliche Machtwürkung geschrieben und nicht von Menschenhand: die Schrift, die in deinem Herzen steht, die Gottes Gericht verkündigt und das Schuldig ausspricht, auch die hat keine Menschenhand geschrieben, die ist vom Finger Gottes in dein Herz gegraben. Wodurch dies bezeugt werde - bereits in unserer letzten Andacht über das Gewissen Wen wir es vernommen. Käme die Schrift aus Fleisch und Blut, sie würde Fleisch und Blut auch das Wort reden, aber diesem hält sie das Widerspiel und kämpft mit Fleisch und Blut bis auf den Tod. Käme die Schrift aus Fleisch und Blut, Mensch! sie würde dir schmeicheln und nur Gutes von dir reden. Aber dein Ankläger ist sie, der als dein Feind gegen dich auftritt. Käme die Schrift aus Fleisch und Blut, du könntest ihr entlaufen, aber du kannst nicht, sie geht dir nach: nicht du hast das Gewissen, das Gewissen hat dich. So ist's denn also, wie wir hörten, nicht Menschen-, sondern Gottes Finger, der diese Schrift in's Herz geschrieben.
Der Inhalt aber dieses Gesetzes, wie gesagt, es ist nicht das ganze Gesetz Mosis; dazu gehörten Ceremonien und Gebräuche, Feste und Opfer, die stehen nicht in aller Heiden Herzen geschrieben, sondern in dem einen Herzen steht dieses, in dem andern Herzen steht Anderes. Das aber, was in aller Völker Herz geschrieben steht, das sind die zehn Worte des Bundes, wie sie bedeutungsvoll genannt werden, womit nämlich gesagt ist, daß das Bundesverhältniß mit Gott nicht ruht auf Ceremonien, Gebräuchen, Festen und Opfern, sondern auf jener sittlichen Grundlage, die in den zehn Geboten verzeichnet und die zusammengefaßt ist in den Worten: „Liebe Gott über Alles und den Nächsten wie dich selbst. “ „In diesen zwei Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten. “ Die zehn Gebote nun, auf denen das Verhältniß Gottes zu seinem Volke ruht, sie liegen allein in der Bundeslade, über welcher die Cherubim Gottes thronen, und alle anderen Gebote haben nur ihren Ort daneben. - Wo dies göttliche Gesetz nun geschrieben steht? Darauf antwortet Paulus: „In dem Herzen, in dem empfindlichen Theile des Menschen. Nicht bloß in den Verstand ist es also eingeschrieben, so daß es einer wieder hinwegraisonniren könnte, sondern in dem Herz, in den empfindlichsten, lebendigsten Theil von dir, auf daß du empfindest: es ist Gottes Gesetz, und nicht bloß einsehest und verstehest, und dieser empfindliche Theil ist nun auch der veränderlichste und beweglichste Theil des Menschen; gerade darum also sind sie in dein Herz geschrieben, weil da die Neigungen und Begierden auf- und niederwallen. Da sollen sie stehen wie ein Fels, und die sündlichen Begierden, wenn sie anstürmen, an ihnen abprallen. Mitten in diesem weichen, empfindlichen, beweglichen, stürmischen Herzen, da steht sie wie aus Stahl und Eisen gegossen die Schrift dieses Gesetzbuches und läßt sich nicht mehr wegbringen.
Und in welcher Menschen Herz ist dieses Gesetzbuch eingeschrieben? Nun, der Apostel sagt es uns gleich in den nächsten Versen, daß es hinweis't auf den jüngsten Tag, wo das Verborgene gerichtet werden wird. Es muß also eine Schrift seyn, die in aller Menschen Herzen steht, und so ist es. Das ist die Schrift, die im Herzen des Wilden in der Wüste steht, wie im Herzen des gebildeten Europäers; die im Herzen des Kindes groß wächst, und die, wenn Alles im Menschen altert und verbleicht, nur desto heller und erkenntlicher hervortritt. Wo ein Menschenantlitz ist, unter dem muß ein Menschenherz schlagen, und wo ein Herz ist, das hat auch das Gesetzbuch der Rechte Gottes in sich eingeschrieben. Und so können wir auch nicht anders: wer ein Menschenantlitz hat, den reden wir an: „Mensch, hast du ein menschlich Herz, so mußt du auch ein Gewissen haben. “ Es kann das Gewissen wie die goldne Ader tief in der Erzstufe liegen und oben mit Erz wieder zugedeckt seyn, aber sie kann wieder herausgehauen werden an das Tageslicht; es kann das Gewissen die chemische Schrift seyn, die unsichtbar ist, und nur sichtbar an der Wärme wird. Darum, sage ich, reden wir mit Recht jedes Menschengesicht an: „du mußt ein Gewissen haben. “
Endlich die Aufgabe, die dieses Gesetzbuch hat? Theils dem Menschen seine Pflicht vorzuhalten, theils dem Uebertreter sein Urtheil zu verkündigen. Und welches ist das Urtheil? Dort im Paradiese ist es gesprochen und hallet fort bis auf diesen Tag in deinem und meinem Herzen: „an welchem Tage du davon issest, wirst du des Todes sterben. “ Tod lautet der Richterspruch über die vielfachen Uebertretungen und in vielfachem Echo hallt dieses Tod! in deinem Herzen wieder, nämlich: zeitlicher Tod, ewiger Tod, leiblicher Tod, geistiger Tod, Tod deines inneren, Tod deines äußeren Menschen. Das ist das Gesetzbuch Gottes mit den Rechten Gottes, das Gott in das Herz jedes Sterblichen geschrieben. -
Weiter meine Brüder. Nur wo ein Gesetzbuch ist, nur da kann es auch Ankläger geben, und nur da wo ein Gesetz ist, giebt es auch einen Anwalt und Vertheidiger. Wir lesen bei dem Apostel von den anklagenden und entschuldigenden Gedanken, die der Mensch in seinem Herzen trägt, die sind also selbst ein Zeugniß davon, daß auch ein Gesetzbuch in dies Herz geschrieben seyn muß. Er schreibt von der Anklage: es hat nämlich der ewige Gott seinem Gesetzbuche in deiner eignen Brust zur Seite gestellt den Kronanwalt seiner ewigen Rechte, der dich anklagt bei deiner Uebertretung, und in der Angst deiner Seele. Dagegen rufst du auf zur Vertheidigung, deinen Anwalt aus Fleisch und Blut, und das sind die entschuldigenden Gedanken, von denen der Apostel spricht! Zuerst vor geschehener That klagen die anklagenden Gedanken deine Gelüste an, noch in ihrem ersten Ursprung; und, hilft und winkt das nicht, klagen sie deine lüsternen Gedanken an, und wenn das nicht helfen will, die verbrecherischen Worte, und wenn das nicht, nun so klagen sie deine verbrecherischen Thaten an.
Was für Schutzengel, die Gott den Menschen gegeben hat, in diesen anklagenden Gedanken! Aber du freilich siehst es ganz anders an, du siehst nur die tückischen Mächte in ihnen, die dir deine schönen Genüsse verleiden wollen, wie die Schlange ruft: „mit Nichten werdet ihr des Todes sterben!“ und weil ihr nur tückische Mächte darin kennt, werden vor der That die Bundesgenossen des Teufels herbeigerufen, die Ausflüchte, die sogenannten guten Gründe, die kommen mit den Mäntelchen und mit den Feigenblättern, da heißt es: „Sollte wohl Gott gesagt haben? Ach ein klein Wenig! Nur heute! Ach, Einmal ist ja doch keinmal!“ So führen sie ihre Anwaltschaft. - Wie sind sie so bereit dem Sterblichen als Beistand zu Hülfe zu kommen, wo der Ankläger Gottes ihn bedrängt. Das waren die „guten Gründe“ die sich bei einem David eingestellt hatten, als er der Bathseba begehrte und ihren Mann Urias hinaus auf das Feld schickte an den gefährlichsten Posten - : „bist du nicht König? Kannst du nicht mit deinen Truppen machen, was du willst? Kannst du sie nicht auf den gefährlichsten Posten stellen? Einer muß doch immer darauf stehen!“ Das sind die Bundesgenossen und Advokaten eines Judas, als der Verräthergedanke zuerst in seiner Seele aufging - „und wenn ich ihn nun nicht verrathe, ob sie ihn nicht doch finden werden im Garten? und wenn ich ihn verrathe, ob er sich nicht frei zu machen weiß? und wenn ich ihn verrathe, ob das nicht vielleicht gerade der Augenblick seyn wird, wo er sein Reich aufrichtet?“ - In sehr vielen Fällen glaubst du selber nicht, was diese Advokaten von Fleisch und Blut dir sagen; und das ist das Schrecklichste, daß der Mensch sich selber, oder vielmehr nicht sich selber, sondern den Kronanwalt der Rechte Gottes kann belügen wollen! Nur vor der That geht's indeß mit diesem Belügen, im Nothfall stürzt man sich blindlings in die Sünde hinein, aber nach geschehener That, wenn da der Kronanwalt sich erhebt und mit seinem Finger auf die Rechte Gottes hinweist, die du übertreten, da mußt du stille halten, Mensch! Freilich versuchen wirst du auch dann noch mit deinem Anwalt von Fleisch und Blut dir durchzuhelfen, suchen das letzte Wort zu behalten. Fragt Gottes Stimme: „Adam! hast du nicht gegessen von dem Baume, da ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?“ - „ei, heißt es, das Weib das du mir gegeben, das gab mir und ich aß,“ da soll der liebe Gott schuld seyn! - „Kam! wo ist dein Bruder?“ ruft Gottes Stimme. „Ei, heißt es, soll ich denn meines Bruders Hüter seyn?“ Aber Adam, warum suchst du denn beim Rauschen des Windes am Abend in den Blättern ein Versteck, wenn du so gute Gründe hast? und Kam, warum erschrickst du denn vor jedem Menschen, der dir begegnet, als möcht's der Rächer deines Bruders seyn, wenn du so gute Gründe hast? Und Judas, warum hat er nach dem Strick gegriffen trotz seiner guten Gründe? O Freunde darum, weil die anklagenden Gedanken in unserm Innern sich noch wegdisputiren lassen. Aber der Zeuge, der sich nicht zum Schweigen bringen läßt, der ist es, vor dem trotz seiner guten Gründe sich ein Adam verstecken mußte, vor dem Kam noch ehe ein Rächer aufgetreten, zusammen schrack, und Judas, trotz seiner guten Gründe, im Stricke seine Zuflucht gesucht. Und das ist das Zeugniß von dem unser Text schreibt, wenn es heißt: „Sintemal ihr eigen Gewissen sie bezeuget“ das will so viel sagen, sie überwindet mit seinem Zeugniß. Ein unergründlicher Sophist ist nämlich der Mensch in seiner eigenen Sache, darum, wenn der Kronanwalt Gottes nur mit Disputationen anklagender Gedanken vor ihm auftritt, weiß sein fleischlicher Anwalt wohl lange Zeit hindurch sich bis aufs Blut zu wehren. Aber Mensch, was fängst du an mit dem Zeugniß, das sich nicht zum Schweigen bringen läßt - mit der Gewissensangst? Du kannst dir Stück für Stück wegdisputiren, wessen das Gewissen dich anklagt, aber die Angst, die Unruh, die bleibt im Herzen zurück, und bleibt die zurück, was hast du gewonnen? Nicht bloß vor dir selber steht diese als Zeuge wider dich auf, sondern auch vor Andern, vor der ganzen Welt. Denn der Zeuge drückt der nicht dem Sünder das Kainszeichen auf in der Blässe der Wangen, in der zitternden Stimme, dem bebenden Fuße und im scheuen Auge? Das ist das Zeichen, daran alle Welt ihn erkennt. Wen Gott schwarz gemacht, den kann keine menschliche Bleiche wieder weiß machen. Der geht umher mit dem Kainszeichen und muß vor sich selber zum Verräther werden. O laßt den Gottesleugner, laßt ihn unser Gewissen einen Popanz schelten und das ewige Gericht eine Kinderfabel, mag er sich und andern demonstriren, daß die Gewissensbisse nichts anderes sind als der Verdruß und Aerger über den zeitlichen Schaden, den er mit seiner Sünde sich selber gethan und keinem ewigen Gesetze - wer erklärt das innere Beben über solche Schandthat die kein Menschenauge gesehen , und darum weil sie kein Menschenauge gesehen, kein Menschenmund verrathen kann? wer erklärt den kalten Schweiß des Entsetzens bei der Frevelthat, für die vielleicht ein jauchzend Volk dir den Lorbeer um die Stirn windet? wer erklärt den perlenden kalten Schweiß unter diesem Lorbeerkranze eines jubelnden Volks? O nicht an den Sünden, wie wir sie alle Tage thun, sehn wir was es heißt, in Gottes ewige Rechte eingreifen - ob diese aufs Gewissen brennen, hängt ja ganz davon ab, wie zart oder wie roh die Gewissen sind: wollt ihr erkennen was es heißt, in Gottes ewige Rechte eingreifen, so müßt ihr hinblicken auf jene Folterqualen, wenn ein empörtes Gewissen seine Geißel schwingt über Meineid, über Verrath, über unschuldig vergossenes Blut, wenn entsetzte Sünder, der Unerträglichkeit der inneren Folter zu entgehen, in der Verzweiflung die Hand an sich selbst legen, oder auch den Gerichten sich freiwillig überliefern, um in der richterlichen Vergeltung eine Gewissensstillung zu finden. O sagt, wer ist's, der dieses Wort „Vergeltung“ in des Menschen Brust geschrieben hat, wenn es der nicht ist der über allen Menschen als ein vergeltender Richter thront! Das führt uns zum Schluß, das leitet uns darauf, den Blick auf das zu richten, woran dieser innere verborgene Gerichtshof Gottes in der eigenen Brust uns mahnt - er mahnt uns an den offenbaren Gerichtshof in der Ewigkeit.
Paulus hat beide genau miteinander verbunden. Gerade nachdem er gesprochen von den anklagenden und entschuldigenden Gedanken, fährt er fort - auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird. Alles vorher Erwähnte also hat seine Geltung und Bedeutung auf den Tag, der offenbarlich richten wird, was hier im geheimen vorgegangen.
Das Gesetzbuch mit den Rechten Gottes, die anklagenden und entschuldigenden Gedanken, der Zeuge des Gewissens: es geht alles hin auf den Tag wo Gott offenbaren wird, was jetzt im Verborgenen vorgeht. Und so muß es auch seyn, es kann nicht anders seyn; es muß dieser verborgene Gerichtstag in der Menschenbrust eine Prophezeihung seyn auf das was einst offenbar werden wird. Wäre es anders, so könnte ja der Schuldige wenigstens tatsächlich zum großen Theile den Zweck dieses verborgenen Gerichtstages in der Menschenbrust vereiteln; jedenfalls würde dessen Werk unvollkommen bleiben, gäbe es nicht einen Gerichtstag in der Ewigkeit. Ich sage: wäre es anders, würde nicht der Schuldige wenigstens zum großen Theil, warum Gott der Herr diesen Gerichtsstuhl in der Menschen Brust aufgeschlagen, vereiteln können? Der Endzweck ist doch kein anderer, wie wir hören, als daß dem Menschen seine Pflicht kund gethan werde und daß er zugleich erfahre, was seine Schuld ist. Aber was hilft denn alle deutliche Schrift und alle deutliche Stimme, wo der Mensch nicht sehen und hören will! Was hilft es, daß ihnen die Schrift des Gesetzbuches mit noch so deutlichen Buchstaben in das Herz geschrieben ist und die Stimme Gottes ihnen ihre Pflicht vorhält? Wir haben ja in unserer letzten Andacht von dem Text unsrer Betrachtung uns predigen lassen, daß wir solche Menschen sind, die nicht stille halten, wenn das Gewissen sprechen will; von Allem, was es sagen will, hört mancher kaum den hundertsten Theil, weil wir nicht stille halten. So nun kann jener Zweck sich nicht erfüllen, denn wer die Pflicht nicht erkennt, wie kann der die Schuld erkennen? Gäbe es keinen offenbaren Gerichtstag, so wäre also auch der Zweck verloren, den der verborgene in unserer eignen Brust hat; jedenfalls wäre es ein unvollkommenes Stückwerk, gäbe es keinen Gerichtstag in der Ewigkeit. Denn die Sünden, die wir thun, meine Sünde und deine Sünde, mein Bruder, sie stehen alle hier noch in der Zeitlichkeit unter der Langmuth Gottes; das Gericht des Gewissens aber hier in der Brust, das ist das Grollen der Donnerstimme des ewigen Gerichts, wenn du die Zeit der Langmuth verstreichen läßt, ohne Christum zu ergreifen.
So sagen wir denn: Ja, er wird erscheinen, laut dieses Wortes, der Tag, wo das Verborgene aller Menschenherzen wird offenbar werden und gerichtet werden wird durch Jesum Christum, wenn - da wir denn hier in der Zeitlichkeit unter der Langmuth Gottes stehen - alle Menschenseelen werden ausgereift seyn, wenn die Entwicklung aller menschlichen Geister wird zu einem Abschluß gekommen seyn, wenn es keine andern Sünder mehr geben wird, als - die verstockten Ungläubigen. Dann, dann in dem letzten Ausgange, da werden sie alle gerichtet werden zum ewigen Leben oder zum ewigen Tode, und. zwar wie der Apostel spricht - durch Jesum Christum. Ihr könnt auch sagen an Jesu Christo, denn wer den Sohn dann haben wird, der wird an ihm und in ihm das ewige Leben haben, wer aber gegen den Sohn sich verstockt hat, über den wird der Zorn Gottes bleiben in Ewigkeit. Und zwar spricht der Apostel von „allem Verborgenen der menschlichen Brust,“ was dann wird gerichtet werden, denn kein noch so verborgner Gedanke in deiner Brust, der nicht von bestimmendem Einfluß gewesen für dein ganzes Seyn und Leben; jedwede Gewissensanklage, magst du sie angenommen oder zurückgewiesen haben, sie hat ihren Finger in deinen Geist gedrückt und du nimmst sie mit hinüber in die Ewigkeit, und wenn dann im letzten Ausgange der ganze Mensch gerichtet werden wird, dann wird auch jede abgewiesene Gewissensstimme mitgerichtet werden.
O sollen wir nicht beten: „Du gerechter und zugleich barmherziger Gott, du hast uns hier in der Zeit die Offenbarung deines Gerichtes ins Herz gegeben, damit wir uns mahnen lassen dein ewiges Gericht zu fliehen, o hilf, daß wenn sich der Anwalt deiner ewigen Rechte mit seiner Klage gegen uns erhebt, daß wir keinen zeitlichen Anwalt aus Fleisch und Blut herbeirufen, sondern vielmehr uns willig unter ihn beugen! Amen. “