Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die fünfte Bitte - "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."

Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die fünfte Bitte - "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."

„Ich bitte Gott, Er wolle uns unsere Sünden vergeben.“

Wohl uns, dass im Gebet des Herrn diese Bitte vorkommt! Was sollte sonst aus uns werden? Niemand vermöchte das Vaterunser zu sprechen, wenn der Herr uns nicht erlaubt hätte, die Bitte um Vergebung der Sünden in dasselbe einzufügen. Wir bitten in diesem Gebet, dass der Vater im Himmel nicht ansehen wolle unsere Sünden, und um derselben willen solche Bitte nicht versagen.

„Denn wir sind der keines wert, das wir (in dem Vorhergehenden) bitten, haben's auch nicht verdienet; sondern Er wolle uns alles aus Gnaden geben, denn wir täglich viel sündigen und wohl eitel Strafe verdienen, so wollen wir zwar wiederum auch herzlich vergeben und gerne wohltun denen, die sich an uns versündigen.“ (Luthers Katechismus.)

Ist dies wirklich das Gebet des Herrn? Und wenn es sich so verhält, dass Er es aus dem Heiligtum Seines verborgenen Lebens geschöpft und uns mitgeteilt hat, ist es denn möglich, dass Er selbst gebetet habe: Vergib uns unsere Schulden - Er, der keine Sünde getan hat, und in Seinem Munde ist kein Betrug erfunden, Er, der da ist heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern abgesondert und höher denn der Himmel ist? Heb 7, 26. So ist Er, und doch ist Er, von Liebe bewogen, in unsere Mitte gekommen, hat sich mit uns im Geiste vereinigt und unsere Sache zu der Seinigen gemacht. Kam Er nicht zu der Taufe Johannis, die bestimmt war zur Vergebung der Sünden? Johannes wehrte Ihm anfangs, dann ließ er es Ihm zu, und erleuchtet von Gott rief er aus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“

Der Herr Jesus bekannte die Sünden Seines Volkes! Er ging allen voran als der große Büßer. Zu Seinem Wandel mit Gott gehörte auch dies, dass Er an unserer Statt für unsere Sünden Vergebung erflehte. Nicht erst in Seinen letzten Leiden trat Er für uns ein. Dank sei Ihm für dieses Wunder Seiner Liebe und Herablassung! Mit uns bittet Er, und uns betet Er es vor: Vergib uns, o Vater, unsere Sünden. In den Leidenspsalmen sehen wir in Sein Herz. Da vernehmen wir, wie Er sich in unsere Lage versetzt, wie Er unsere Schulden, als wären sie Seine Schulden, gefühlt und vor Gott gebracht und Erlassung derselben gesucht hat. Psalm 40, 13; 69, 6.

Und auch jetzt, da Er in das himmlische Heiligtum eingetreten ist, zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes für uns als ein treuer Hoherpriester zu versöhnen die Sünde des Volks, bringt Er unsere Bitten vor den Vater - anders als durch Ihn können wir ja nicht zu Gott kommen - und auch diese fünfte Bitte eignet Er sich an, macht sie zu der Seinigen, heiligt sie durch Sein Verdienst, und erlangt für uns die göttliche Erhörung.

„Vergib uns unsere Sünden, denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind.“ Luk 11, 4.

Unser Sündenbekenntnis sei volle Wahrheit. Wir verzichten auf jede Entschuldigung, wir werfen keinen Vorwurf auf andere, wir beugen uns als arme Sünder unter Gottes Urteil, wir richten uns selbst; wir werfen uns ganz auf Gottes Barmherzigkeit; wir beschuldigen uns ohne Vorbehalt. Woher bekommen wir den Mut, unser ganzes Herz vor Gott auszuschütten und die ganze Größe unserer Sünden zu bekennen? Aus der Liebe Gottes, die uns hier erscheint. Denn indem Gott durch den geliebten Sohn uns zu diesem Bekenntnis auffordert, offenbart Er uns Seine Bereitwilligkeit, uns um Seines Sohnes willen alles zu vergeben.

Er hat uns über die Ordnung des Heils erleuchtet, an diese wollen wir uns halten und mit Jesaja (Jes 26, 8) sprechen: „Wir warten auf Dich, Herr, auch auf dem Wege Deiner Gerichte; des Herzens Begehren steht nach Deinem Namen und Deinem Lobpreis.“

Der Herr Jesus lehrt einen jeden Seiner Jünger sprechen: Vergib uns unsere Schulden. Auch hier darf nicht der Einzelne sich absondern von der Gemeinschaft, nur das Seine suchen und allein seine Anliegen vor Gott bringen. Er lehrt uns jedes Mal auch für die Brüder um Vergebung bitten. Wenn wir andere sündigen sehen, wenn wir von Gräueln und Lästerungen hören, so soll Schmerz und Abscheu, es soll aber auch Mitleid uns erfüllen. Wir dürfen nicht bei Seite treten und wie der Pharisäer auf den Zöllner herabsehen. Nein, wir wollen mit den groben Sündern und neben ihnen niederknien und für sie, auch wenn sie noch nicht Buße tun, sprechen: Vergib uns unsre Schulden.

Es gibt eine Gesamtschuld des Volkes Gottes. Sie liegt auf der Christenheit. Keine der Abteilungen der Kirche ist davon frei und wir fühlen uns, wenn wir Christi Sinn haben, eins mit allen, die auf Seinen Namen getauft sind. Wir wollen ihr Elend und die Gefahr ihrer Seelen zu Herzen nehmen und, durchdrungen vom Gefühl unserer Einheit vor Gott, in aller Christen Namen wie in unserem Namen sprechen: Vergib uns unsere Schulden. So tat Daniel, als er in Babylon seine und seines Volkes Sünde bekannte. Dan 9, 20.

„Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Diese Worte ausgesprochen vor Gott, sind ein Bekenntnis und Gelübde. Damit suchen wir die Bedingung zu erfüllen, die der Herr uns auferlegt und an die Er die Erhörung unserer Bitte geknüpft hat. Denn so sagt Er selbst, und zwar im Anschluss an das Vaterunser: „So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben; wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.“ Mat 6, 14. 15.

Fragst du: wie sollen wir einander vergeben? So antwortet der Apostel: „Seid untereinander herzlich, freundlich, und vergebet einander, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christus.“ Eph 4, 32.

Fragst du: wie bald? So antwortet derselbe Apostel: „Lasset die Sonne über eurem Zorn nicht untergehen.“ Ebenda, Eph 4,26.

Fragst du mit Petrus: „Wie oft soll ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal?“

So antwortet der Herr selbst: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ Mat 18, 21 - 22.

Das Aussprechen dieser Worte ist eine sehr ernste Sache. Nicht genug, dass die Unversöhnlichkeit die Vergebung unserer Sünden ausschließt, wir begehen eine neue Sünde, wenn wir darum bitten, ohne dem Nächsten zu vergeben. Aus unserer Bitte wird eine unverschämte Zumutung an Gott den Herrn, und unser Gebet, das uns zum Segen werden sollte, verwandelt sich in eine Selbstverwünschung. Mit Recht wird der Herr zu einem solchen Beter sagen: Aus deinem Munde richte Ich dich, du Schalk; wie du sprichst, so geschehe es; so gewiss du deinem Bruder nicht verziehen hast, wird auch dir deine Sünde behalten.

Spürt Jemand in seinem Gewissen, dass er die Bitterkeit gegen den Nächsten noch nicht ganz überwunden hat, so sei ihm das Vaterunser eine göttliche Mahnung, es nicht dabei zu lassen, und nicht zu ruhen, bis er in der reinen Liebe zu allen Menschen, auch zu dem Beleidiger, steht. Nehmen wir es ernst mit dem Gebet, blicken wir auf die Majestät und Liebe Gottes, erkennen wir die Größe unserer Schuld Ihm gegenüber, wogegen die Verfehlungen der Brüder gegen uns nur Kleinigkeiten sind, so bekommen wir im Gebet und im Aussprechen dieser Worte Kraft von oben, zu lieben, zu hoffen, zu verzeihen, für die Widersacher von Herzen zu bitten. Wäre es uns nicht ernst damit, so sind wir in Gefahr, die Worte des Herrn hören zu müssen: „Du Schalksknecht, alle diese Schuld (die 10 000 Talente) habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht (der dir nur 100 Groschen schuldete), wie ich mich über dich erbarmet habe?“ Mat 18, 32. 33.

Dann schwindet die Gnade, die Vergebung wird widerrufen, und die strenge Gerechtigkeit tritt in Kraft.

Unsere Versöhnlichkeit ist nicht ein Verdienst, worauf gestützt wir Vergebung von Gott fordern dürften. Das sei ferne! Der einzige Grund der Vergebung ist das teure Verdienst Jesu Christi, wie Er spricht: „Das ist Mein Blut des Neuen Testaments, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ Mat 26, 28.

Das bittere Leiden und der Versöhnungstod des Herrn ist die einzige Quelle, aus der Gnade und Vergebung für die Sünder fließt.

Die hier gestellte Bedingung ist so zu verstehen, wie wenn man einen Dorn auszieht, der Schmerz und Fieber verursachte; ist er fort, so kann durch die von Gott in den Leib gelegte Lebenskraft Heilung erfolgen. In ein unversöhnliches Herz kann sich die Liebe Gottes nicht ergießen; das Hindernis muss weggeräumt werden, dann kann die Liebe Gottes einziehen und uns der göttlichen Vergebung versichern. „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Mat 5, 9.

Noch einmal. Die Friedfertigkeit ist kein Verdienst vor Gott mit Anspruch auf Lohn, doch ist sie ein Zeichen, dass wir wirklich Gottes Kinder sind.

Sollen wir denn aber nichts sagen zu dem, der uns beleidigt hat? Sollen wir ihn nicht auffordern, dass er es bereue?

Gewiss. Dies eben ist des Herrn Gebot, dies ist die Weisheit von oben, wie wir uns bei der Betrachtung des achten Gebots erinnert haben.

„Sündigt dein Bruder an dir, so rüge ihn zwischen dir und ihm allein, höret er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.“ Mat 18, 15.

Abermals spricht der Herr: „Hütet euch! So dein Bruder an dir sündigt, strafe (rüge) ihn; und so er sich bessert, vergib ihm. Und wenn er siebenmal des Tages an dir sündigen würde, und siebenmal des Tages wiederkäme zu dir und spräche: es reuet mich; so sollst du ihm vergeben.“ Luk 17, 3.

Diese Reue, diese Abbitte gehört zur wirklichen Aussöhnung. Dennoch steht auch dieses fest, dass wir innerlich, soviel an uns liegt, verzeihen, schon ehe der andere sein Unrecht einsieht. Wie könnte sonst der Herr sagen: „Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ Mat 5, 44. 45.

Dies ist die Gesinnung, in der wir das Vaterunser beten sollen, nur so können wir Gott gefallen; vor Ihm sprechen wir es aus, dass wir verzeihen, dass unsererseits kein Hindernis gegen eine tatsächliche Aussöhnung besteht. Wir warten nicht erst, bis der Nächste kommt, um dann erst die Bitterkeit gegen ihn fahren zu lassen.

So betete der Herr für Seine Kreuziger: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Luk 23, 34.

So bat Stephanus für die, die ihn zu Tode steinigten: „Herr behalte ihnen diese Sünde nicht.“ Apg 7, 59.

Während wir diese Friedfertigkeit im Herzen tragen, ist es ganz in Ordnung, dass wir auf unserem guten Recht bestehen, gegen das Unrecht auftreten, und Gutmachung der erlittenen Kränkung verlangen. Denn der Herr selbst sagte zu dem, welcher Ihm einen Backenstreich gab: „Habe ich übel geredet, so beweise es, dass es böse sei; habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ Joh 18, 23.

Eine ernste Entgegnung streitet nicht gegen die christliche Liebe. Denn sie soll ja dazu dienen, dass der Nächste sein Unrecht einsehe und bereue und also seine Sünde loswerde; wie der Herr sagt: „Höret er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen“ - gewonnen nicht nur für dich, sondern auch für Gott.

Es gibt eine falsche Liebe. Diese empfiehlt der Herr nicht. Die Gottlosen missbrauchen Seine Worte: Richtet nicht - vergebet, so wird euch vergeben -, und verlangen, wir Christen sollen zu ihren Gräueln stillschweigen und ihren Unglauben in Ordnung finden.

Nein! „Die Liebe sei nicht falsch. Hasset das Arge, hanget dem Guten an.“ Röm 12, 9.

Wenn wir das Böse nicht verabscheuen, so ist die vermeintliche Liebe eine Heuchelei und eine Verleugnung der Gebote Gottes. „Habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis. Straft (rügt) sie aber vielmehr.“ Eph 5, 11.

„So jemand ist, der sich lässt einen Bruder nennen, und ist ein Hurer, oder ein Geiziger, oder ein Abgöttischer, oder ein Lästerer, oder ein Trunkenbold, oder ein Räuber, mit demselbigen sollt ihr auch nicht essen.“ 1 Kor 5,11.

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