Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die zweite Bitte - "Dein Reich komme."
„Ich bitte meinen Herrn und Gott, unseren himmlischen Vater… Er wolle Seinen Sohn vom Himmel senden, damit alle Völker Ihn ehren und Ihm gehorchen, und die Reiche dieser Welt unseres Herrn und Seines Christus werden.“
Wenn wir hier von Gottes Reich reden, so denken wir dabei nicht an das Reich der Natur, das durch Gottes Allmacht gegründet ist und erhalten wird, an das Reich der Vorsehung, darinnen Er über Seine vernünftigen Kreaturen waltet und Seine Kinder leitet und beschützt. Dieses Reich der Natur und der Vorsehung besteht, und es braucht nicht erst zu kommen. Bei dem Gebet haben wir das Reich der Himmel im Sinn, und dieses ist ein Reich der Gnade und Herrlichkeit. Es war verheißen durch die Propheten von Anfang der Welt, es wurde vorbereitet im alten Bund, es nahm seinen Anfang mit der Erscheinung Jesu Christi auf Erden, mit der Ausgießung des Heiligen Geistes und der Stiftung der christlichen Kirche. Seitdem ist das Reich der Himmel da, und doch ist es auch erst im Kommen. Es soll wachsen und sich ausbreiten und endlich zum Siege gelangen. Es sind nicht zwei Reiche, das Reich der Gnade und das Reich der Herrlichkeit, sondern ein und dasselbe. Die Sonne, die noch hinter den Bergen steht, und die Sonne, welche aufgeht in ihrer Pracht, ist eine und dieselbe. Jetzt besteht das Reich Gottes im Geheimnis; dann wird es offenbar werden. Jetzt hat es die Gestalt der streitenden Kirche, dann aber wird es in Gestalt der triumphierenden Kirche erscheinen. Jetzt ist die Seligkeit und Herrlichkeit der Kinder Gottes verborgen, dann aber werden die Gerechten hervorleuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Mat 13, 43.
Der Sieg und die Offenbarung des Reichs der Himmel kommt, wie die Auslegung uns erinnert, wenn Gott Seinen geliebten Sohn zum zweitenmal senden wird; nicht wie das erste Mal in Niedrigkeit, sondern in großer Kraft und Herrlichkeit. Darauf zielt diese Bitte, dann ist sie erfüllt.
Wir bitten um das Wachstum und die Ausbreitung des Reiches der Gnade. Es ist das Reich, von dem gesagt ist: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Joh 3, 5. „Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt tun, reißen es zu sich.“ Mat 11, 12. „Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenig ist ihrer, die ihn finden.“ Mat 7, 14. „Ringet danach, dass ihr durch die enge Pforte eingehet, denn viele werden, das sage ich euch, danach trachten, wie sie hinein kommen und werden es nicht tun können.“ Luk 13, 24. „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes gehen.“ Apg 14, 22. Es wird uns von dem Apostel beschrieben: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.“ Röm 14, 17. Es ist der im Acker verborgene Schatz, es ist die köstliche Perle, für die der Mensch alles hingeben muss, das er hat, um sie zu gewinnen. Mat 13, 44 - 46.
Wir bitten, dass es zu uns komme, dass uns gegeben werde in dasselbe einzutreten und darin zu beharren. Wir bitten, dass es ausgebreitet werde durch die Verkündigung des Evangeliums bis an die Enden der Erde, durch Bekehrung der Heiden und der Juden zu Gott und zu Christus. Wir bitten, dass es erstarke und aufblühe inmitten der Christenheit, dass die Abgefallenen gerettet, dass die Jugend vor dem Verderben der letzten Zeit geschützt werde, dass Gott Seiner Kirche Einigkeit und Frieden gebe.
Wir fühlen und bekennen, dass das Reich noch nicht zum Siege gelangt ist. Wir sind noch von dem Reich der Finsternis umgeben, denn der Fürst dieser Welt hat sein Reich in den Kindern des Unglaubens. Wir sind hier nicht in der Heimat, sondern in der Fremde, und sehen um uns her ein unermessliches Leid und Elend der gefallenen Menschheit. Wir werden erinnert an den furchtbaren Ernst dieser vergänglichen Lebenszeit, in der es sich entscheidet, ob wir zum Reich Christi gehören und darin geborgen werden sollen ewiglich, oder ob wir unter die Obrigkeit der Finsternis zurückfallen und aus dem Himmelreich für immer verwiesen werden.
Wir legen mit solcher Bitte ein Gelöbnis ab, nämlich in unserem Teil das Reich Gottes zu fördern und das Reich der Finsternis zu bekämpfen. Wir verpflichten uns, an der Bekehrung der Sünder, an der Ausbreitung christlicher Wahrheit und Gottseligkeit mitzuhelfen. Denn das ist Gottes Wille und Anordnung, das ist unser Beruf und unsere Christenwürde, dass wir Gottes Mitarbeiter an dem Aufbau Seines Reiches seien.
Wir erwarten den Sieg dieses Reiches auf dem Wege, den Gott in Seinem Ratschluss vorher bestimmt und in Seinem Worte offenbart hat. Wir erwarten also nicht, dass vor der herrlichen Wiederkunft Christi alle Erdenbewohner bekehrt werden, Götzendienst und Sünde verschwinden, alle Verheißungen Gottes für Seine Kirche in Erfüllung gehen werden, so dass der Herr, wenn Er kommt, nichts mehr zu tun fände, als das letzte Gericht zu halten. Wir haben aus Gottes Wort vernommen, dass das Königreich kommt, indem der König kommt. „Er kommt als Richter; Er kommt aber auch als Heiland, als Überwinder des Todes und als Friedefürst. Sein Reich und das Erbteil Seiner Heiligen, das Er ihnen dann anweisen wird, ist himmlisch; aber Seine Herrschaft wird auch die Erde umfassen, und die Erkenntnis des Herrn wird dann die Erde bedecken wie die Wasser den Grund des Meeres. Der Herr kommt in Seinem Reiche, und Sein Reich kommt mit Ihm.
Also schließt diese Bitte, wenn wir sie recht verstehen, in sich den Ruf des Geistes und der Braut: „Komm, Herr Jesu!“ Offb 22, 17. Es ist eine Bitte um die Überwindung des Todes und um die erste Auferstehung, um die Auferweckung der entschlafenen und die Verwandlung der lebenden Heiligen. „Wir bitten, dass Gott allein in uns lebe und regiere, dass der Tod hinfort keine Stätte mehr habe, sondern verschlungen werde in dem Sieg Christi, unseres Herrn, der nach Zerstörung aller feindlichen Gewalt alle Dinge Seiner Herrschaft untertänig machen wird.“ (Catech. Röm IV. 11, 14).
So bekennen wir im Vaterunser, dass wir warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi. Tit 2, 13.
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ , sagte der Herr zu Pilatus; „wäre mein Reich von dieser Welt, so würden meine Diener dafür kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von hier.“ Joh 18, 36. Die Reiche dieser Welt werden durch Krieg und Gewalttat ausgebreitet und aufrechterhalten. Nicht so Christi Reich. Er hat Seiner Kirche keine Vollmacht gegeben, Gewalt zu gebrauchen gegen die Ungläubigen und Irrgläubigen, so wenig als Er, da Er auf Erden wandelte, gegen solche Gewalt ausgeübt hat. Er sagte zu Petrus: stecke dein Schwert in die Scheide. Er schonte selbst den Judas. Er sandte Seine Jünger wie Schafe mitten unter die Wölfe. Seine Gemeinde soll nun in Seinen Fußstapfen wandeln und dem Lamme nachfolgen, wohin es geht. Sie soll hienieden keine Krone tragen, außer der Dornenkrone, die ihr Herr und Meister getragen hat. Sie soll nicht den Arm der weltlichen Macht gegen die vom rechten Glauben Abirrenden zu Hilfe rufen, womit nur der Unglaube und der Abfall vermehrt wird. Sie soll auf die Hilfe vom Himmel warten. Der Sieg des Reiches Gottes kommt durch Gottes übernatürliches Wirken, auf dem Wege, den Er im prophetischen Worte vorgezeichnet hat.
Wir dürfen uns nicht mit dem Gedanken beruhigen: Gottes Reich kommt wohl ohne unser Gebet. Die Gemeinde Christi auf Erden soll vielmehr durch ihren Glauben, ihre Leiden und ihr Gebet mitwirken zur Herbeiführung des großen Tages . „So nun das alles vergehet, was für Leute sollt ihr sein in heiligem Wandel und gottseligem Wesen, erwartend und beschleunigend die Ankunft des Tages Gottes, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen werden und die Gestirne vor Hitze zerschmelzen!“ 2 Petrus 3, 11. 12. (nach dem Grundtext). Das Gebet des Herrn ist zugleich eine Verheißung, die uns das Kommen des Herrn und Seines Reiches verbürgt. „Das Vaterunser zieht den jüngsten Tag herbei“ (Worte Luthers). Die Bitten, die Gott durch Seinen Sohn der Kirche in den Mund gelegt hat, die Er durch Seinen Geist im Herzen der Gläubigen beständig erneuert und belebt, sie sind ebensoviel göttliche Zusagen, die der Allmächtige, der Treue und Wahrhaftige, gewisslich verwirklichen wird.
Sein Rat ist wunderbar und Er führt es herrlich hinaus. Das Reich der Herrlichkeit kommt, und es wird die Antwort sein auf das Gebet des Herrn, und insonderheit auf diese Bitte: Dein Reich komme.