Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die Gleichnisse Jesu Christi - Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern. Mt 21, 33-46
33 Höret ein anderes Gleichnis: Es war ein Hausvater, der pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm und tat ihn den Weingärtnern aus und zog über Land. 34 Da nun herbeikam die Zeit der Früchte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, daß sie seine Früchte empfingen. 35 Da nahmen die Weingärtner seine Knechte; einen stäupten sie, den andern töteten sie, den dritten steinigten sie. 36 Abermals sandte er andere Knechte, mehr denn der ersten waren; und sie taten ihnen gleich also. 37 Darnach sandte er seinen Sohn zu ihnen und sprach: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 38 Da aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Das ist der Erbe; kommt laßt uns ihn töten und sein Erbgut an uns bringen! 39 Und sie nahmen ihn und stießen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. 40 Wenn nun der Herr des Weinberges kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun? 41 Sie sprachen zu ihm: Er wird die Bösewichte übel umbringen und seinen Weinberg anderen Weingärtnern austun, die ihm die Früchte zur rechten Zeit geben. 42 Jesus sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen in der Schrift: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Von dem HERRN ist das geschehen, und es ist wunderbar vor unseren Augen“? 43 Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben werden, das seine Früchte bringt. 44 Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermalmen. 45 Und da die Hohenpriester und Pharisäer seine Gleichnisse hörten, verstanden sie, daß er von ihnen redete. 46 Und sie trachteten darnach, wie sie ihn griffen; aber sie fürchteten sich vor dem Volk, denn es hielt ihn für einen Propheten.
Es war schon weit gekommen mit der Feindschaft der Obersten Israels gegen den Herrn. Er war feierlich in Jerusalem eingezogen und stand in den Vorhöfen des Tempels denen gegenüber, die wenige Tage später das Urteil des Todes über Ihn fällten. Da gab Er ihnen noch eine erschütternde Warnung durch dieses Gleichnis, in welchem Er ihnen ihre und ihrer Väter Schuld und die große Gefahr, worin sie schwebten, enthüllte.
- Der Weinberg, den Gott, der HERRN, angepflanzt hat, ist, wie schon Jesaias (Jes 5, 7) verkündigt hat, das erwählte Volk Israel.
- Der Zaun, womit Er Seinen Weinberg abgegrenzt und gegen das Eindringen der Diebe und der wilden Tiere geschützt hat, ist das Gesetz. Dieses hat Er als Scheidewand zwischen Israel und den Völkern „ aufgerichtet und zur Schutzwehr für Sein Volk gegen das Eindringen heidnischer Laster und Abgöttereien bestimmt.
- Die Kelter mitten im Weinberg bedeutet den Tempel und den Gottesdienst, jene segensreiche Veranstaltung, welche dazu diente, dass Israel den HErrn durch würdige Darbringung seiner Opfer und Gebete, gleichsam der Früchte des Weinbergs, erfreuen sollte.
- Der Turm für die Wächter, die den Weinberg behüten und verteidigen sollten, bedeutet das Königtum Davids, welches Gott zum Schutz seines Volkes und Landes gegen die Feinde festgestellt hat.
- Die Weingärtner, denen Er den Weinberg zum Anbau und zur Pflege anvertraut hat, sind die Obersten des Volks: die Könige, die Priester, die Ältesten und die Schriftgelehrten.
Der hohe Rat der 72, wie er damals bestand, war aus Männern des hohepriesterlichen Geschlechts, aus Fürsten der Stämme, und aus Gesetzeslehrern zusammengesetzt, so dass jede dieser drei Klassen aus 24 Mann bestand und ihren Vorsteher hatte; diese drei Vorsteher, der Hohepriester, der Fürst und der Lehrmeister führten den Vorsitz im Synedrion. Diese waren zur Zeit Jesu die Weingartner.
Der Hausvater zog über Land, d.h. Gott der HErr, nachdem Er alles weislich geordnet hatte, hielt Sich eine Zeit lang zurück und wartete ab, wie die Früchte des Weinbergs gedeihen und wie die Weingärtner ihre Pflicht erfüllen würden.
Als nun die Zeit kam, wo Er reife Früchte erwarten und verlangen konnte, sandte Er Knechte, unterschieden von den festangestellten Hütern des Weinbergs, mit einem außerordentlichen Auftrag versehen, d. h. Propheten.
Aber die erste Schaar seiner Propheten, Elias, Elisa und ihre Zeitgenossen, wurde übel empfangen.
Dann erschien unter den späteren Königen eine zweite Schaar von Knechten Gottes; die Propheten Jesaias, Jeremias u.s.w., deren Bücher in der heiligen Schrift aufbehalten sind. Aber ihnen ging es nicht besser, wie Stephanus ausruft (Apg 7, 52):
„Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt und getötet!“
Der letzte von diesen Knechten war Johannes der Täufer. Der Herr des Weinbergs hatte die mit Recht geforderte Frucht nicht empfangen.
Er hätte die Weingärtner vor Gericht ziehen können, aber er entschloss sich zuvor noch zu einer großen Tat des Vertrauens und der Liebe. Er sandte ihnen zuletzt seinen einzigen, geliebten Sohn, indem er sprach: „Sie werden sich vor meinem Sohne scheuen.“
Aber diesem gegenüber stieg die Bosheit der Weingärtner auf die höchste Stufe; sie sprachen untereinander: „Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und das Erbe wird unser sein.“
Als Jesus Christus auftrat und in Sein Eigentum kam, nahmen Ihn die Seinen nicht auf. Die Obersten des Volks haben Ihn aus Neid an die Heiden überantwortet. Sie wollten selber die Herren bleiben; sie hatten vergessen, dass sie nur Verwalter waren. Ihr böses Gewissen ließ sie befürchten, dass ihre Zeit zu Ende ginge, sie sahen mit Verdruss, dass alles Volk Jesum für einen Propheten hielt; sie fühlten, dass ihr Einfluss schwand.
Anstatt nun selbst dem Manne Gottes zu huldigen und auf Gott zu vertrauen, sahen sie nur aus die Römer und fürchteten, diese würden einschreiten und ihnen Land und Leute nehmen.
So fassten sie den furchtbaren Entschluss, durch einen raschen Staatsstreich den Sohn Gottes aus der Welt zu schaffen, und meinten dadurch ihre Herrschaft über das Volk Israel aus immer zu befestigen. Sie stießen Ihn zum Weinberg hinaus, das ist sie taten Ihn und Seine Anhänger in den großen Bann, und ließen durch die Ungerechten, d.h. durch die Heiden, ihr Todesurteil an Jesu draußen vor der heiligen Stadt vollstrecken.
Aber so groß war die Liebe und Geduld des Allerhöchsten, dass Er noch nicht alsbald Sein Gericht an ihnen ausführte, sondern noch einmal wurde ihnen durch die Apostel und durch das Zeugnis des Heiligen Geistes Gnade angeboten.
Aber sie steinigten den heiligen Stephanus. Sie versuchten, Christum in Seinen Zeugen und in Seiner Gemeinde noch einmal zu töten.
Dann erst kam die Zerstörung Jerusalems, und die Voraussage ging in Erfüllung: „Der Herr des Weinbergs wird die Bösewichter übel umbringen und seinen Weinberg andern austun. Das Reich Gottes wird von euch genommen und den Heiden gegeben werden, die seine Früchte bringen.“
Christus wurde unter den Heiden verkündigt, diesen wendete Gott Sein Angesicht in Gnaden zu, während Er Sich vor den Juden verbarg. Er bereitete Sich ein heiliges Volk, welches fast ganz aus Heiden bestand. Von nun an ist die christliche Kirche Sein Weinberg. Die Apostel, die Bischöfe und die andern Diener Christi sind die neuen Weingärtner, denen er nun Seinen Weinberg anvertraut. So hat Gott Seinen Ernst und Seine Güte geoffenbart, und Seine Ratschlüsse, wie sie Christus durchschaut und verkündigt hat, sind in Erfüllung gegangen. Aus dem allen entnehmen wir Wahrheiten, die uns Christen nahe angehen.
1) Die Geistlichen aller Abteilungen der christlichen Kirche zusammen sind jetzt diese Weingärtner, denen der HErr Sein Erbteil anvertraut hat. Wie die Christen der verschiedenen Parteien vor Gottes Augen doch noch als die eine Kirche gelten, so bilden die Geistlichen der verschiedenen Parteien, wenn auch unter sich uneinig, die eine Dienerschaft, das eine Hausgesinde Christi.
Sie haben Auftrag von Ihm, sie sind also mit Autorität bekleidet, sie können Vertrauen, Ehrfurcht und Gehorsam von uns verlangen. Doch sind sie nicht selbst die Herren und Besitzer des Weinbergs. Sie sind nur Verwalter und sie haben die Pflicht, die Gemeinden für den HErrn zu bewahren, sie in gottgefälligen Stand zu bringen, die Früchte des Geistes und alles Gute in ihnen zu befördern. Sie müssen stets des Tages gewärtig sein, wo der HErr kommt, wo Er sie vor sich fordern, wo Er nachsehen wird, in welchem Stande die Gemeinden sich befinden und welche Früchte in ihnen gereift sind. Weil den Dienern Christi eine so mühsame Arbeit und eine so schwere Verantwortung auferlegt ist, müssen wir sie um so mehr lieben und sie mit herzlicher Fürbitte unterstützen.
2) Die große Gefahr auch für die christlichen Geistlichen, wie vor Zeiten für die jüdischen Vorsteher, liegt darin, dass sie sich als Selbstherrscher betrachten und die Macht, die ihnen nur geliehen ist, als ihr Eigentum ansehen, dass sie in ihrem Herzen sprechen: Mein Herr kommt noch lange nicht, oder: Er kommt gar nicht.
Wenn die Kirche als eine weltliche Anstalt angesehen wird, wenn sie sich als eine solche in dieser Welt festsetzt, so leidet die geistliche Amtsführung Schaden, der Segen des HErrn und das göttliche Leben in den Gemeinden wird verkümmert. So hebt der Abfall an, und wenn derselbe seine Reise erreicht, zieht er das Gericht Gottes über uns Christen, wie einst über die Juden, herbei.
3) Wir entnehmen ferner aus diesem Gleichnis: Auch die Vorsteher der christlichen Kirche müssen dessen gewärtig sein, dass der HErr von Zeit zu Zeit Knechte mit einer besonderen Botschaft an sie sendet.
Wie es im Evangelium heißt: der Hausvater zog auf geraume Zeit über Land (Lk 20, 9), so hat der HErr lange Zeit sich zurückgehalten und zu dem, was in seiner Kirche geschieht, stillgeschwiegen alles bewegte sich in gewohntem Gang, und so setzte sich die irrige Meinung fest, in der Geschichte der christlichen Kirche dürfe gar keine außerordentliche Sendung vorkommen und keine unerwartete Botschaft ins Mittel treten.
Die sogenannte natürliche Entwickelung sei das Rechte und dürfe nicht unterbrochen werden. Aber die Hand des HErrn ist nicht verkürzt. Er hat Sich die Macht vorbehalten, Seine Boten, wann und wo Er will, zu rufen, auszurüsten und mit einem Auftrag an die ordnungsmäßig bestellten Hüter Seines Weinbergs zu schicken.
Dies hat Er in diesen letzten Tagen getan und die Botschaft, die Er sendet hat den gleichen Inhalt, wie die Botschaft der Knechte im Evangelium. Sie erinnern die Weingärtner, dass der Weinberg dem HErrn gehört, dass der HErr nach den Früchten des Weinbergs verlangt, dass die Hüter ihm Rechenschaft schuldig sind, und dass bald nach diesen Seinen Knechten Er selbst, der Erbe, in den Weinberg kommen wird.
Diese Botschaft bewährt sich durch ihren Inhalt und durch den Geist, in dem sie verkündigt wird, an dem Gewissen der Hörer als echt und als wirklich von dem HErrn über alle ausgehend. Nun gilt es, die Herzen gegen diesen Ruf nicht zu verschließen, das Versäumte und Verfehlte reumütig zu bekennen und unter dem Beistande der Gnade Gottes sich auf die Ankunft des Erben bereit zu machen.
4) Wenn die bisherigen Hüter des Weinbergs ihr Herz gegen die Anforderungen des HErrn verschließen, wenn sie zögern, Seine Forderungen zu erfüllen und sich in Seine Ratschlüsse zu ergeben, so hat Er unbeschränkte Macht über Sein Eigentum zu verfügen und in dem Amt eine Veränderung eintreten zu lassen.
Wie Er anstatt des Eli und seiner Söhne einen andern Priester, den Samuel, eingesetzt hat, wie Er dem Saul das Königtum genommen und es dem David übertragen hat, so kann Er auch in Seiner Kirche verfahren, Er kann neue Aufseher Seines Weinbergs einsetzen und niemand darf zu Ihm sagen: Was machst Du?
Er ehrt und schont gerne die Weingärtner der alten Ordnung, aber mehr als alles liegt Ihm Sein Weinberg und die köstliche Frucht desselben am Herzen. Er will, dass die Pflanzung Seiner Hand gepflegt werde und dass ihre köstliche Frucht endlich reife und Ihn erfreue.
5) Wir sind nun ein solcher Weinberg, von dem Jesaias gesungen hat, an einem fetten Ort, ein Weinberg, den der HErr verzäunet und verwahrt, in den Er edle Reben gesenkt hat und auf welchen Er Regen vom Himmel kommen lässt; der HErr wartet, dass dieser Weinberg Trauben bringe (Jes 5, 1-7). Was sollte man noch mehr an uns tun, das der HErr nicht an uns getan hätte?
Darauf gründet sich unsere Verantwortlichkeit. Nun soll ein jedes von uns mit allem Ernste darauf bedacht sein, durch gute Früchte den HErrn zu erfreuen. Sehet zu, dass niemand die Gnade Gottes vergeblich empfange! Was Er uns an geistlichen und zeitlichen Gütern verliehen hat, müssen wir als geliehenes Gut ansehen, um damit für Jesum zu arbeiten und Ihm an den Brüdern zu dienen.
Der HErr erinnert zum Schluss an den Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist. Das ist vom HErrn geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen (Ps 118, 22-23). So wurde David von Saul verworfen und musste als Flüchtling in den Wüsten und Höhlen sich aufhalten; aber Gott, der ihn gesalbt hatte, erhob ihn zu Seiner Zeit auf den Thron der Ehren.
So wurde Christus von den bestellten Bauführern wie ein unbrauchbarer Stein auf die Seite geworfen; aber sie haben damit den Ratschluss Gottes nicht vereitelt, sondern vielmehr zur Erfüllung desselben beigetragen. Gerade durch Tod und Auferstehung ist Er zum unvergänglichen Eckstein Seiner Kirche geworden.
Der menschgewordene Sohn Gottes, aufgenommen in den Himmel, wahrer Mensch noch jetzt und in Ewigkeit, und wahrer Gott von Ewigkeit her, ist der Fels, auf den die Kirche gegründet ist, als ein Gebäude, das unvergänglich ist wie Er selbst.
Wiewohl im Himmel, ist Er uns doch nicht ferne und die Menschen, die Sein Wort verwerfen, stoßen sich an Ihm Selbst. Ihn können sie nicht wegschaffen, sondern nur sich an Ihm zerschellen. „Auf welchen er aber fällt, den wird er zermalmen.“
So ist es dem Daniel geoffenbart worden: der Stein, der sich ohne Zutun einer Menschenhand vom Gipfel des Bergs ablöste, schlug an die Füße des Riesenbildes und zermalmte es zu Staub. So wird Christus, wenn Er vom Himmel hernieder kommt, das letzte Weltteich und dessen Haupt, den Menschen der Sünde, vernichten. Dann wird der Stein ein Berg, der die ganze Welt füllet; dann entfaltet sich das Reich Christi in Herrlichkeit, so, dass es Himmel und Erde umfasst (Dan 2, 34-35).Wer aber auf diesen köstlichen Eckstein sich gründet, wird nicht zu Schanden (Jes 28, 16).
Wir werden auf diesem Grunde mit ausgebaut, und nun gilt es, fest auf Ihn zu vertrauen und an unserer rechten Stelle zu beharren, das ist, in der Gemeinschaft des HErrn zu bleiben und von dem Orte, der uns in der göttlichen Anordnung dieses Baues angewiesen ist, nicht zu weichen. So werden wir durch die göttliche Liebe, welche uns erwählt und uns aus Christum erbauet hat, Anteil bekommen an der gemeinsamen Vollendung und Verherrlichung dieses unzerstörbaren geistlichen Tempels Gottes.