Theremin, Franz - Die zehn Jungfrauen.
Am 30sten October 1831.
Evang. Matthäi K. 25, V. 1-13.
Dann wird das Himmelreich gleich seyn zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen, und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren thöricht, und fünf waren klug. Die thörichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen nicht Oehl mit sich. Die klugen aber nahmen Oehl in ihren Gefäßen, sammt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig, und entschliefen. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf, und schmückten ihre Lampen. Die thörichten aber sprachen: Gebt uns von euerm Oehl; denn unsere Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen, und sprachen: Nicht also; auf daß nicht uns und euch gebreche. Gehet aber hin zu den Krämern, und kaufet für euch selbst. Und da sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und welche bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit; und die Thür ward verschlossen. Zuletzt kamen auch die andern Jungfrauen, und sprachen: Herr, Herr, thue uns auf! Er antwortete aber, und sprach: wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht. Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.
Als die Zeit herannahte, wo der Herr zu seinem Vater heimgehen sollte, redete er oft von seiner dereinstigen Wiederkehr; er beschrieb die Zeichen derselben, und er schilderte in Gleichnissen die Gesinnung und das Verhalten, die er bei den Seinigen antreffen müßte, wenn sie sein Wohlgefallen erwerben, und seiner höchsten Gnadengaben theilhaftig werden sollten. Zu diesen Gleichnissen gehört auch das von den zehn Jungfrauen, das Ihr so eben vernommen habt.
Ihr habt es oft gelesen, dieses Gleichniß, aber vielleicht seyd Ihr noch nie so davon ergriffen worden, als in diesem Augenblick. Ein neues Licht wird durch die Umstände, in denen wir uns jetzt befinden, über dasselbe verbreitet, und so ist es auch im höchsten Maaße geeignet, unter diesen Umständen uns zu erleuchten. Denn jetzt, in dieser Zeit der großen, göttlichen Schickungen und Gerichte, wer unter uns legt sich nicht oft die Frage vor: Was fordert der Herr von mir; wie werde ich diese Prüfungen bestehen; welche Gesinnung muß mich erfüllen; welch Verhalten muß ich beobachten? Wer fühlt nicht, daß er eine genügende Auskunft Ueber diese Fragen nur in dem Worte des Herrn finden kann? Und diese Auskunft, sollten wir sie nicht vornehmlich in den Stellen suchen, wo er von Zeiten redet, die mit den unsrigen doch ohne Zweifel eine große Aehnlichkeit haben?
Wir also, die wir jetzt von manchen göttlichen Prüfungen sind heimgesucht worden, wir wollen nach Anleitung unserer Parabel erwägen: erstlich, die nothwendige Vorbereitung auf die Prüfung; zweitens, die Prüfung selbst; drittens, den Ausgang der Prüfung; indem wir den Herrn bitten, daß durch seine Gnade dieser Ausgang für uns derselbe seyn möge, dessen die klugen Jungfrauen sich erfreuten, und daß er dazu auch unsere gegenwärtige Betrachtung segnen wolle!
I.
Erstlich: die Vorbereitung auf die Prüfung. Alle Prüfungen, die uns erwarten und auf die wir uns vorbereiten sollen - was sind sie, wenn wir die Schrift in unserer Parabel und in vielen andern Stellen befragen? Sie sind eine Zukunft des Herrn. Christus, welcher zu der bestimmten Zeit gekommen ist, uns zu erlösen, der am Ende der Zeiten kommen wird, uns zu richten, er ist auch in der Zwischenzeit nicht von uns geschieden, sondern, wie sein Reich, so ist auch Er im Kommen begriffen. Alle Ereignisse, frohe oder traurige, die, recht benutzt, für die Gemeine oder ihre einzelnen Mitglieder von heilsamer Wirkung seyn können, sie wer- den nicht nur von dem Herrn gesendet, sie sind auch eine Hülle und Umgebung, in welcher er selber erscheint. Was ist also die Zukunft, was ist sie für die Kinder der Welt, und was ist sie für die Gläubigen? Für die ersten ist sie ein ungeheurer finsterer Raum, in den sie ihre eigenen Träume hineintragen, um dann vor ihren eigenen Traumen zu erschrecken, aus welchem ein unerbittliches Schicksal mit ehernem Fußtritte ihnen naht. Für die Gläubigen ist die Zukunft zwar auch dunkel; aber sie sehen doch Eine Gestalt, welche durch dies Dunkel ihnen entgegenkommt: dies ist Christus, der nur Gedanken der Liebe und des Friedens haben kann, und der sie durch die Schickungen ausführt, die in seinem Gefolge erscheinen. Die Kinder der Welt zittern vor der Zukunft; die Gläubigen freuen sich ihrer, denn sie ist eine Zukunft des Herrn. Christus, der himmlische Bräutigam kommt: wie sollte die Kirche, seine Braut, ihn nicht mit Sehnsucht erwarten? So erwartete, nach der Sitte des Alterthums, die Braut, von ihren Freundinnen umgeben, den Bräutigam, welcher kommen sollte, sie in seine Wohnung heimzuführen. Dann wird das Himmelreich, heißt es in unserm Texte, gleich seyn zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen, und gingen aus, dem Bräutigam entgegen.
Diese Jungfrauen sind alle Freundinnen der Braut, Mitglieder, die zur Gemeine des Herrn gehören. Aber fünf unter ihnen waren thöricht, und fünf waren klug. Thöricht? Was ist darunter zu verstehn? Sind diese thörichten Jungfrauen etwa bloße Namenchristen, denen es gänzlich an Glauben fehlt? Nein, das sind sie nicht, denn sie gehen ja aus, wie die andern, dem Bräutigam entgegen; sie müssen also, da sie die Zukunft Christi erwarten, auch an ihn glauben, und in einer gewissen Beziehung zu ihm stehn. Oder sind es vielleicht solche Christen, die den Erlöser, den sie mit dem Munde bekannt haben, durch einen sündlichen Wandel verleugnen? Nein, das sind sie auch nicht; denn sie nehmen ja ihre Lampen; ihre Lampen brennen, wie die der übrigen; sie lassen, wie diese, ihr Licht leuchten vor den Leuten, sie erfüllen ihre Pflichten, sie üben manche christliche Tugend; daß um ihretwillen der Name des Herrn verlästert werde, dazu gaben sie keine Veranlassung. Und dennoch sind sie thöricht; und dennoch ist ein so großer Unterschied zwischen ihnen und den klugen Jungfrauen? Worin liegt denn dieser Unterschied? Die thörichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen nicht Oehl mit sich. Die klugen aber nahmen Oehl in ihren Gefäßen sammt ihren Lampen. Die Flamme der Lampe zieht ihre Nahrung aus dem Oehl, und soll die Flamme fortbrennen, so darf der Vorrats) des Oehls nicht versiegen. Das christliche Leben zieht seine Nahrung aus dem Glauben, aber aus einem solchen Glauben, der in der Liebe zu dem Herrn die Welt überwunden hat; und soll es sich ununterbrochen bewähren in Erfüllung der Pflichten, in Ausübung der Tugenden, im Bestehn der Prüfungen, so muß das ganze Herz von dieser Liebe erfüllt seyn. Wie die Jungfrauen in kluge und thörichte, so theilen sich also auch die Christen in Glaubensstarke und in Glaubensschwache, in solche, welche sich ganz für den Herrn entschieden haben, und solche, welche schwanken zwischen dem Herrn und der Welt.
Wir haben, so sagt Ihr, meine Brüder, nicht nur nichts einzuwenden gegen die vornehmsten Lehren des Glaubens, wir haben sie auch, nach einem innern Kampfe, in welchem wir recht lebhaft das Bedürfniß derselben fühlten, uns zu eigen gemacht. Wohl, meine Brüder, also habt Ihr angefangen zu glauben, und man hätte Unrecht, Euch den Glauben abzusprechen; aber auch Ihr hättet Unrecht, wenn Ihr euch dieses Anfangs wegen, schon zu Denjenigen rechnen wolltet, welche durch Liebe zu Gott die Welt überwunden haben. Wenn mit dem anfangenden Glauben sogleich auch die Liebe in ihrer ganzen Vollkommenheit gegeben wäre, warum unterschiede denn Paulus zwischen Glauben und Liebe, ja, warum gäbe er der Liebe den Vorzug vor dem Glauben, wenn er spricht: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, die Liebe aber ist die größeste unter ihnen? Auch der Herr spricht zu den Jüngern: Jetzt glaubet Ihr; fügt aber sogleich hinzu: Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, daß ihr zerstreuet werdet, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasset. Sie glaubten also: denn wer dürfte ihnen streitig machen, was der Herr ihnen zuschreibt? Ader dessen ungeachtet waren sie schwach im Glauben und in der Liebe, denn sie konnten den Herrn allein lassen. Christus spricht zu dem Petrus, der seinen Glauben an ihn bekannt hatte: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn, denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbaret, sondern mein Vater im Himmel. Selig würde er ihn nicht gepriesen haben, wenn nicht sein Glaube lauter und aufrichtig gewesen wäre; aber dessen ungeachtet war der Apostel noch nicht vollkommen, denn wenn er das gewesen wäre, so hätte er den Herrn nicht verleugnet. Wir selbst, wenn wir, nach der Sitte unserer Kirche, junge Christen einsegnen, thun wir es, nicht, weil sie glauben; können wir, wenn wir ihre Rührung und ihre Thränen sehen, an ihrem Glauben zweifeln? Aber meinen wir, daß sie nun auch schon auf der Stufe, wo sie stehn, jeder Versuchung gewachsen sind? Nein, das wäre eine Thorheit! Aus dem Keime des Glaubens kann freilich - denn bei Gott ist nichts unmöglich - das christliche Leben sogleich in seiner Vollkommenheit hervortreten; so wird Paulus im Augenblicke seiner Bekehrung zu einer der ersten Stufen emporgehoben; aber solche Wunder der Gnade sind selten, und zum vollkommnen Sieg über die Welt gelangen Diejenigen, in denen der Glaube angefangen hat, gewöhnlich nicht ohne anhaltendes Gebet, ohne langes Kämpfen und Ringen. Wer nun unter den Gläubigen durch solche Mittel zur heiligen Liebe emporstrebt, wer dem Herrn, der uns erlöset hat, täglich sein Herz darbietet, daß er es ganz in Besitz nehme, und alles darin vertilge, was ihm mißfällt, der ist den klugen Jungfrauen ähnlich, welche nahmen Oehl in ihren Gefäßen sammt ihren Lampen. Wer aber unter den Gläubigen sich nicht zu dieser gänzlichen, entschiedenen Hingabe des Herzens an Gott verstehen will, wer nicht einen solchen Vorrath heiliger Liebe in sich sammelt, der ist den thörichten Jungfrauen ähnlich, welche vergaßen den nöthigen Vorrath an Oehl für ihre Lampen mit sich zu nehmen.
Dieser Unterschied tritt nicht immer sogleich hervor, denn der Bräutigam zögert zu kommen, es vergehen Monate, Jahre, ohne daß der Herr schwere Prüfungen sendet, und den Einen wie den Andern, dem klugen wie den thörichten Jungfrauen, den fest- und den schwach-gegründeten Christen bleibt ihr Reichthum und ihr Mangel verborgen^ So hat auch der Herr für uns gezögert zu kommen, während jener fünfzehn Jahre des Glückes, des Friedens und der Ruhe, die zwischen den früheren und den jetzigen Erschütterungen in der Mitte liegen. Um die Prüfungen zu bestehen, die er damals sandte, um die Opfer darzubringen, die er forderte, dazu konnte in den mehrsten Fallen auch ein geringes Maaß christlicher Frömmigkeit genügen. Solche Zeiten gibt es zuweilen im Leben eines Volkes und im Leben des Einzelnen; und nicht genug, daß sie den Unterschied zwischen den Christen verhüllen, sie üben auch auf Christen sehr verschiedener Stufen eine ähnliche Wirkung aus. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und entschliefen. Sie alle? Die klugen wie die thörichten? Diese Worte mögen uns sonst dunkel und räthselhaft gewesen seyn; aber nach den Erfahrungen, die wir in der eben verfloßnen Zeit an uns und an Andern gemacht haben, sind sie es nicht mehr. O wie gefährlich sind Glück und Ruhe! O wie doch die Stärksten noch immer so schwach bleiben! Sind denn nicht in den Jahren, wo der Herr sie mit schweren Prüfungen verschonte, auch die Vollkommensten unter uns von dem Schlafe übermannt worden? Haben sie nicht nachgelassen in ihrem Eifer für die Sache des Herrn; oder wenn sie dieselbe eifrig trieben, haben sie es nicht eben so sehr gethan um ihres Ruhmes als um seiner Ehre Willen? Hat Menschengunst ihnen nicht oft eben so viel gegolten, als Gottes Gnade? Sind sie nicht, dem Genusse ihres irdischen Glückes hingegeben, oft sehr lau und nachlässig geworden im Gebet, im Lesen der Schrift, in der Ausübung guter Werke? So ist es, meine Brüder, so ist es! Auch Ihr, die Ihr die Vollkommensten seyd unter uns, leugnet es nicht. Der Herr hat es gesagt, auch von Euch gesagt: Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und entschliefen. Gesagt hat er es als Etwas, nicht das geschehen muß, sondern das gewöhnlich geschieht, auch bei den Besten. Doch sind sie, bei dieser augenblicklichen Schwäche, nicht den übrigen gleichzustellen, und wenn beide schlafen, so ist ihr Schlaf nicht derselbe. Der Schlaf der liebenden Herzen ist wie derjenige der Braut im Hohenliede, welche spricht: Ich schlafe, doch mein Herz wachet; wie der Schlaf der liebenden Gattin, die spät in der Nacht ihren Gatten, der von einer Reise zurückkehren soll, erwartet. Die Augen sind ihr zugefallen; aber ihr Herz ist voll Sehnsucht; seinen Fußtritt, sein Klopsen an die Thür vernimmt sie sogleich, und springt auf, ihm entgegen. Der Schlaf der Andern ist viel tiefer und schwerer, denn bei ihnen schlaft nicht nur das Auge, sondern auch das liebeleere und sich mehr und mehr mit Weltlust anfüllende Herz. Groß bleibt immer der Unterschied zwischen diesen und jenen, und sogleich wird er sich offenbaren: denn siehe! nun kommt die Prüfung.
II.
Der Herr selber ist's! Um Mitternacht ward ein Geschrei: Siehe! der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm entgegen. Der Herr, der einmal auf Erden erschienen ist, huldvoll und liebreich, um den Menschen Erlösung, Friede und Freude zu bringen; er, der noch stets im Weihnachtsfeste den Kindern erscheint, um sie mit dem, was ihr Herz in Unschuld wünschet, zu beschenken; er kommt nicht gerade immer im Ungewitter, sondern auch im Sonnenschein, nicht immer um zu nehmen, sondern auch um zu geben: ein Kommen, welches jedoch nicht minder eine Prüfung, und zwar eine der schwierigsten ist; denn, um den Herrn immer mehr zu lieben als seine schönsten irdischen Gaben, welche Fülle von Liebe wird nicht dazu erfordert! Aber ein solches Erscheinen ist hier nicht gemeint; denn er kommt um Mitternacht, in Finsterniß und schauervolles Dunkel gehüllt; er wird empfangen mit einem Geschrei, in welchem nicht Freude, sondern Entsetzen sich ausdrückt. Er kommt, um große Entbehrungen aufzuerlegen, um theure Güter zu entziehen, um dem Leben, das ein Jeder liebt, ein Ende zu machen. Da standen diese Jungfrauen alle auf, und schmückten ihre Lampen. Alle, die thörichten wie die klugen, erkennen, daß es der Herr ist, welcher die Prüfung sendet; alle wünschen sie nach seinem Wohlgefallen zu bestehn, und mit brennenden Lampen, in Erfüllung seines Willens ihm nachzufolgen. Aber nur die Lampen der klugen Jungfrauen brennen jetzt klar und ruhig fort; die thörichten bemerken zu ihrer großen Bestürzung, daß ihre Lampen verlöschen, weil es ihnen an Oehl gebricht um die Flamme zu nähren, daß sie die Prüfung nicht überwinden werden, weil es ihnen an Liebe fehlt.
Wie glücklich ist nicht jenes Haus! Der, welcher an der Spitze desselben steht, ist mit Ehren und Würden geschmückt; er besitzt ansehnliche Güter; seine Angehörigen, Gattin und Kinder, leben ohne Sorgen, sehen ihre kaum entstandenen Wünsche auch schon erfüllt; theilen mit ihm die Achtung, die er genießt. Zur Mitternacht aber wird ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt, gehet aus, ihm entgegen. Welch eine Trübsal ist hereingebrochen! Der Wohlstand ist verschwunden; die Würden sind auf Andere übergegangen; durch einen unglücklichen Schein, der nicht sogleich zerstreut werden kann, hat selbst die Ehre vor den Menschen gelitten. Sie, die Mitglieder dieses Hauses, die sonst Vielen geboten, sie werden dienen; sie, die sonst Wohlthaten ausspendeten, sie werden Hülfe suchen; sie, die sonst geehrt wurden, sie werden Schmach und Verachtung ertragen müssen. Vorbereitet dazu sollten sie seyn, denn frommer Sinn, christlicher Glaube hat stets in diesem Hause geherrscht. Aber dennoch rufen Einige: Unmöglich, unmöglich, es ist zu schwer! Das sind die thörichten Jungfrauen; jetzt verlöschen ihre Lampen; jetzt zeigt es sich, daß sie die Welt mehr lieben als den Herrn. Die Andern sprechen: Wenn Er es will, so wollen auch wir es; und wenn Er Gnade gibt, so können wir es auch. Das sind die klugen Jungfrauen; ihre Lampen brennen fort in der dunkelsten Nacht, denn sie lieben den Herrn mehr als die Welt.
Auch jenes Haus war glücklich, war es wenigstens so lange der zärtliche Gatte, der treue Vater, der durch seine Arbeit Gattin und Kinder versorgte, und durch sein Beispiel sie zu Christo führte, sich einer ungestörten Gesundheit erfreute. Aber schon lange ist die Abnahme derselben von ihnen bemerkt worden, und hat sie mit Besorgniß erfüllt. Plötzlich zur Mitternacht wird ein Geschrei: Der Vater stirbt, er ist gestorben! Was sieht Ihr so voll Entsetzen, Ihr Kinder und Du Gattin? Der Herr ist's, der Euch heimgesucht hat; auf, Ihm entgegen! Die Einen, welche stark sind in der Liebe, vermögen's; sie sinken auf ihre Knie, sie preisen den Herrn im Augenblicke des größten Verlustes; herrlich strahlen ihre Lampen in der Dunkelheit. Die Andern, voll eines finsteren Unmuthes, können sich nicht fassen, nicht weinen, nicht beten.- O gebt Acht, daß eure Lampen nicht verlöschen, und erkennt, wie sehr es Euch an Liebe mangelt!
Schwer erkrankt liegt dort eine junge Gattin, die in einer glücklichen Ehe erst wenige Jahre verlebte. Um Mitternacht wird ein Geschrei, die Schmerzen haben zugenommen, die Aerzte werden gerufen, sie erklären, es sey keine Rettung mehr. Sie hört das Urtheil, und es ist ein schwankender Stillstand in ihrer Seele. Mit Zärtlichkeit blickt sie auf den Gatten, auf ihr Kind, das so schön unter ihrer Pflege gedieh, auf den ganzen Schauplatz ihres Erdenglücks. Liebe Diejenigen, die der Herr dir gegeben hat, du darfst es, du sollst es, du sollst sie ewig lieben; aber ihn, ihn selbst sollst du noch viel mehr lieben als sie. Er kommt dich abzurufen; hörst du seinen Fußtritt durch das Dunkel? Geh ihm entgegen, kluge Jungfrau, mit brennender Lampe, mit alles besiegender Liebe! Die höhere Liebe, die Liebe zum Herrn hat gesiegt; um Seinetwillen verläßt sie alles; sie folgt ihm, und folgt gern.
Diese Prüfungen aber, wo Christus kommt, in grauenvolles Dunkel gehüllt, diese Prüfungen, die so oft über einzelne Menschen und Familien verhängt werden, was sind sie als ein Vorspiel der letzten großen Erscheinung des Herrn, wo er kommen wird, nicht um einzelne Bestandtheile des irdischen Glückes, sondern um den ganzen Schauplatz desselben, diesen sichtbaren Himmel und diese Erde zu zerstören; nicht nur um Einen oder Wenige, sondern um Alle, ohne Ausnahme, die da leben, abzurufen und hinüberzuführen! Es ist uns verboten, den Tag dieser Zukunft des Herrn zu bestimmen; und es ist nicht einmal rathsam, einer Wahrscheinlichkeit und einer Vermuthung darüber Raum zu geben; denn der Herr selbst hat ja gesagt: Von dem Tage aber oder der Stunde weiß Niemand, auch die Engel nicht im Himmel, sondern allein der Vater. Aber wir dürfen Euch fragen: Wünschet Ihr, daß dieser Tag, der eben so wohl sehr nahe, als sehr weit entfernt seyn kann, wünschet Ihr, daß er nahe seyn möchte? Die ersten Christen haben es gewünscht, und es ist unmöglich, in diesem Wunsche ihre Liebe zu verkennen. Und wenn dieser Tag nun wirklich hereinbricht, wie deutlich wird es sich dann zeigen, daß man nur durch Liebe in der Zukunft des Herrn bestehn kann; wie deutlich werden sich alsdann die klugen Jungfrauen von den thörichten unterscheiden! Um Mitternacht ertönt da ein Geschrei; es pflanzt sich fort von einem Volke zum andern, vom Aufgang bis zum Niedergang; nun sieht es fest durch die unverkennbaren, von dem Herrn selbst angegebenen Zeichen, daß der letzte Tag da ist, daß alles, was zu diesem vorbereitenden Zustande gehört, unser Geschlecht und sein jetziger Wohnplatz, untergehen soll. Wenn aber dieses anfängt zu geschehn, spricht der Herr, so sehet auf, und hebet eure Häupter auf, darum daß sich eure Erlösung nahet. Wer sind Diejenigen, die dies vermögen? Das sind die klugen Jungfrauen; hell brennt ihre Lampe, genährt durch einen reichen Zufluß des geistigen Oehles; eine unaussprechliche, durch Liebe erzeugte Wonne erfüllt sie. Endlich, rufen sie, endlich kommst du, o Herr; ach wie lange hast du gezögert, wie lange unsere Hoffnung getäuscht! Wir warteten auf dich von einer Morgenwache zur andern: immer kamst du nicht. Aber jetzt kommst du. Wir sehen, wie die Sterne vom Himmel fallen, die Erde bebt, das Meer und die Wasserwogen brausen. Fahr wohl, Erde, geh unter, Erde; an dir verlieren wir nichts; Sehnsucht zieht uns dem Herrn entgegen, und sie verscheucht sogar das Zittern vor seinem Gericht. So werden sie rufen; aber diejenigen, die zwar zu Christo Herr, Herr, sagten, aber kein Oehl in ihren Gefäßen, keine Liebe zu ihm in ihren Herzen haben, wie werden sie es ertragen, wenn diese Erde, an welcher sie immer noch hangen, mit allen ihren Verhältnissen, wie ein Rauch unter ihren Füßen, zergeht; und werden unter den Stürmen des jüngsten Tages nicht ihre Lampen verlöschen?
Diesem Tage, der zu einer uns verborgenen und Gott allein bekannten Zeit erscheinen wird, gehen andere ihm ähnliche Zeiten als seine Bilder voran; zu solchen Bildern des jüngsten Tages gehörte die Zerstörung Jerusalems, und auch die gegenwärtige Zeit kann dahin gerechnet werden; denn manche Zeichen, durch welche der Herr solche Tage großer göttlicher Schickungen und Gerichte schildert, sind auch jetzt unverkennbar eingetroffen. Es werden sich viele falsche Propheten erheben, und werden viele verführen. Das ist eins dieser Zeichen: und wann hat es so viele Irrlehrer, so viele durch ihre Afterweisheit Verführte gegeben, als in unsern Tagen? Es wird geprediget werden das Evangelium von dem Reich in der ganzen Welt, zu einem Zeugniß über alle Völker.
Dies ist ein anderes Zeichen, das wenigstens theilweise erfüllt ist; denn zu wie vielen Nationen, in welche unbekannte Winkel der Erde sind nicht schon die Boten des Evangeliums vorgedrungen? Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen; es wird sich empören ein Volk über das andere, ein Königreich über das andere. Dies ist noch ein Zeichen; und ist nicht jetzt ein Geist der Empörung unter die Völker der Erde gefahren; haben wir nicht stets von geführten Kriegen, und von solchen, die dem Ausbruch nahe wären, gehört? Was sollen wir denn also? Etwa wähnen, der letzte Tag sey gekommen? Nein, darüber sollen wir nichts wähnen, nichts glauben, nichts vermuthen. Aber erkennen sollen wir, die jetzige Zeit sey überaus groß und wichtig, da sie mit der allergrößten und wichtigsten, die noch bevorsteht, in so vielen Zügen übereinstimmt; prüfen sollen wir unser Herz, ob es einen Schatz von Liebe gesammelt habe; denn ohne diese werden wir nicht in den Kämpfen des Glaubens bestehn; werden wir nicht die Ungewißheit, die Unruhe ertragen, womit die jetzige Verwirrung in der Welt, und die Währung so vieler feindseligen Elemente uns erfüllen.
Und wie könnte ich eines von den vornehmsten Zeichen vergessen, das unsere Tage zu einem Vorbilde des jüngsten Tages macht? Es werden seyn Pestilenz und theure Zeit und Erdbeben hin und wieder. Wie könnte ich vergessen, Euch zu fragen, ob Ihr, da die Seuche unter uns ausbrach, den klugen oder den thörichten Jungfrauen ähnlich gewesen seyd? Ich sage: damals, als sie ausbrach; denn jetzt ist ihr Eindruck geschwächt durch die Gewohnheit, und weil manche furchtbare Nebenvorstellungen verschwunden sind. Aber damals, als es hieß: Nun ist auch jener Fluß, der nach unserer Meinung ein Bollwerk gegen die Krankheit seyn sollte, von ihr überschritten; nun hat sie sich in einem benachbarten Orte gezeigt; nun ist sie hier in unserer Stadt; nun ist ein von vielen gekannter und geachteter Mann ihr Opfer geworden: wie war Euch damals zu Muthe? Spracht Ihr: Herr, du bist es; ich erkenne dich, auch wenn du zur Mitternacht kommst, und ich preise dich auch dann. Hier sind die Meinigen - nimm sie, wenn du willst! Hier bin ich - rufe mich ab, wenn es dir gefällt. Ob ich an dieser Krankheit, die man so furchtbar schildert, oder eines sanfteren Todes sterbe; von Angehörigen und Freunden umringt, oder von gedungenen Wärtern umgeben; ob ich ruhe an der Seite der Meinigen, oder fern von ihnen, unter andern Opfern der Seuche: - alles stelle ich dir anheim? Sprachet Ihr so, und ginget Ihr nun weiter auf euerm gewöhnlichen Lebenswege, still, ruhig, unerschrocken, hülfreich? Ist dem also, dann, kluge Jungfrauen, hochbegnadigte Christen, preise und bewundere ich die Liebe, die sich durch den heiligen Geist in eure Herzen ergossen hat. War aber in Euch ein Zittern, gleich dem in den Bäumen des Waldes, wenn der Sturm herannaht; war in Euch bald eine tiefe, tiefe Niedergeschlagenheit, bald ein erzwungener und trotziger Much; - so, wenn es einer Lampe an Oehl gebricht, scheinet bald die Flamme zu sterben, bald lodert sie heftig auf, und verbreitet nicht Licht, sondern Qualm; - konntet Ihr es zu keiner ganz vollkommnen Hingebung bringen: dann, meine Brüder, habt Ihr wahrgenommen, daß es Euch an Liebe fehlt; eine traurige Entdeckung, die Euch jedoch heilsam werden kann, wie Ihr sogleich sehen werdet, wenn wir drittens den Ausgang der Prüfung betrachten.
III.
Die thörichten Jungfrauen erkennen ihre Thorheit; sie fühlen, daß sie der Prüfung nicht gewachsen sind; in der Angst ihres Herzens wenden sie sich an die klugen und sprechen: Gebt uns von euerm Oehl, denn unsre Lampen verlöschen. Wenn sie meinen, daß es sich mit den geistigen Gütern so verhält wie mit den irdischen, daß derjenige, welcher reich ist an Glauben und Liebe, dem, welcher wenig besitzt, davon abgeben könne, so ist dies freilich wiederum eine Thorheit, und sie werden auch durch die klugen Jungfrauen zurecht gewiesen, welche antworten: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche. Was ihr fordert, ist unmöglich; und wenn es möglich wäre, so dürfte es nicht geschehen, denn wie Keiner jemals an guten Werken etwas Ueberflüssiges thun kann, so wird auch Keiner jemals an Glauben und Liebe mehr besitzen, als er für sich selbst bedarf. Sie fügen einen Rath hinzu: Gehet aber hin zu den Krämern und kaufet für euch selbst. Was ist das? Sie spotten ihrer doch nicht etwa? Unmöglich; wie könnte ein Christ des andern, wie könnte er seiner Herzensangst und Seelennoth spotten? Sie können nichts anders sagen wollen, als dies: Gehet an die rechte Quelle, schöpfet da, wo auch wir geschöpfet haben, kau et ohne Geld und umsonst beides Wein und Milch, Glauben und Liebe; wendet euch an Gott, der wird euch nicht versagen was euch Noth thut.
Und das ist auch der Rath, den wir Euch ertheilen, Ihr, die Ihr unter den jetzigen Prüfungen inne geworden seyd, wie sehr es Euch noch an Glauben und an Liebe fehlt; wendet die Mittel an ihr kennet sie - durch welche euer Mangel sich in Reichthum verwandeln kann, sich schon längst in Reichthum verwandelt haben würde, wenn Ihr sie eifriger angewendet hattet. Habt Ihr wohl täglich in dem Worte Gottes die Nahrung gesucht, ohne welche alle geistigen Kräfte sich in sich selber verzehren? Thut es von jetzt an. Habt Ihr wohl täglich euer Inneres vor Gott geprüft; habt Ihr wohl recht eifrig zu erforschen gesucht, ob nicht in euern Tugenden selbst viel Sündliches, ob nicht in eurer Pflichttreue viel Ehrgeiz, in eurer Teilnahme viel Neugier, in eurer Freundlichkeit viel Eitelkeit, in eurer Zurückgezogenheit viel Hochmuth liegen möchte? Habt Ihr wohl Gott recht brünstig gebeten, das Gute in Euch von dem Sündlichen zu scheiden, sollte auch euer ganzes Herz bei der Scheidung bluten? Unterlasset künftig nicht mehr, Euch so zu prüfen, und so zu beten. Habt Ihr euch wohl recht strenge alles dasjenige versagt, was eure halb unterdrückten Schooßsünden aufs neue beleben könnte? Gebrauchet künftig diese Vorsicht. Habt Ihr wohl, so oft Ihr euch arm, elend, bedürftig fühltet, euern Hunger und Durst dort am Tische des Herrn zu stillen gesucht? Ach! Ihr versäumter es oft! Versäumet es nicht mehr. Dann werdet auch Ihr kaufen, ohne Geld und umsonst, was nicht gekauft werden kann, was aber die Gnade des Herrn allen denen schenkt, die es eifrig begehren; und wenn Ihr auch in den bisherigen Prüfungen den thörichten Jungfrauen verglichen werden konntet, in den künftigen werdet Ihr den klugen Jungfrauen ähnlich seyn.
Ist das auch gewiß? Denn was nun folgt in dem Gleichniß, das scheint diesen Bemühungen keinen günstigen Erfolg zu versprechen. Da sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und welche bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit; und die Thür ward verschlossen. Wird also Denjenigen, die einmal thöricht waren, die eine Zeitlang unterließen, sich fest in Christo zu gründen, nicht immer die Thür des Himmelreichs verschlossen bleiben? Nein, meine Brüder; denn es heißt ja; Welche bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit. Waren die klugen immer bereit, so können ja die thörichten indeß klug geworden seyn und sich bereitet haben; bestanden sie nicht in den früheren Prüfungen, so können sie doch besser in den späteren bestehen, und in der letzten, wenn der Herr kommt, die Seele abzurufen, und sie aus diesem Leben in ein anderes zu versetzen. Dann freilich müßt Ihr euch schon bereitet haben, meine Brüder; um die Vorbereitung noch anzufangen, möchte es dann schon zu spät seyn. Zwar auch dann - ach! die Gnade Gottes ist unendlich, niemals läßt sie die Hoffnung ganz ersterben - auch dann bleibt die Rettung noch möglich. Warum hätte uns sonst der Herr von Jenen erzählt, die so spät am Abend, um die elfte Stunde berufen werden, und dennoch ihren Lohn mit den übrigen empfangen; warum hätte er dem spät bekehrten Missethäter an seiner Seite zugerufen: Heute wirst Du mit mir im Paradiese seyn? Möglich bleibt immer die Rettung in den letzten Augenblicken, aber sie hat aufgehört wahrscheinlich zu seyn; der Sterbende mag und soll sie hoffen; wer noch lebet soll fürchten, daß die Mittel der Gnade, so spät angewendet, fruchtlos bleiben könnten. Zur Mitternacht wird ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt! Freue dich, christliche Seele, die Stunde deiner Erlösung ist erschienen; der Herr, der an dem martervollen Kreuze um dich geworben hat, der kommt nun, dich heimzuführen in sein himmlisches Haus. O wie wohl wird dir seyn bei ihm, wenn du nicht mehr sündigst, nicht mehr leidest, nicht mehr stirbst, nicht mehr sterben siehst, wenn du immer das Angesicht des Herrn in ungetrübter Klarheit und Freundlichkeit schaust! O schmücke deine Lampe, daß sie jetzt hell und lieblich strahle, schmücke dich selbst; fühle doch einiges Verlangen nach Dem, welcher ein so großes nach dir empfindet. Umsonst! Die Lampe erlischt; der Unglückselige klammert sich fest an das Leben, welches er mehr liebt als den Herrn und als seinen Himmel. Aus, vorbei, fromme Angehörige und Freunde, und du, Diener des göttlichen Wortes! Wer wollte einen Sterbenden verlassen? Versuchet Alles, was die erlöschende Flamme beleben, was aus dem kalten, todten Herzen Glauben und Liebe hervorrufen kann. Sie thun es; wie eifrig und - ach, wie vergeblich! - sind sie bemüht. Der Eine nimmt die Bibel. Höre, so spricht er, die Worte des Herrn, diese lieblichen, allmächtigen Worte, wenn er von der Erlösung und dem ewigen Leben redet; er redet sie auch zu dir; fühlst du nicht ihre Kraft tief in deiner Seele? - Er würde sie tief in seiner Seele fühlen, diese Kraft, wenn sie ihm durch häufige, frühere Erfahrungen bekannt wäre; aber ach! an solchen Erfahrungen fehlt es. Ein Anderer betet; laut ruft er den Herrn an; laut und inbrünstig bittet er ihn um seinen Trost für die, welche zurückbleiben, um seine Gnade für den, welcher scheidet. Dieser spricht die Worte des Gebetes nach, aber seine Seele dringt nicht zum Himmel; ach, sie ist ja nicht gewohnt, diesen Flug zu nehmen! Der Diener des göttlichen Wortes erscheint, um die höchste christliche Feier zu begehen. Selig, spricht er, die zum Abendmahle des Herrn berufen sind! Empfange es jetzt, um dort zu demselben einzugehn; und möchten alle Segnungen, die ein oft wiederholter Genuß dir gewährte, in diesem letzten Genusse zusammenströmen! Alle Segnungen; oft wiederholter Genuß? Ach! wie selten hat er es genossen; wie wenig nach diesem Segen gedürstet; wie wenig Segen wird er auch jetzt daraus schöpfen! Der Tod kommt immer näher, die Schmerzen nehmen zu, so auch die Verwirrung der Gedanken; und jetzt, in diesem Zustande, soll die Seele, aus der Halbheit des früheren Lebens, schnell, plötzlich zur völligen Kraft des Glaubens und der Liebe gelangen? Wenn sie jetzt erst kaufen will, was schon längst eingesammelt seyn sollte, so wird sie zu spät kommen, sie wird die Thüre verschlossen finden; sie wird mit den thörichten Jungfrauen sprechen: Herr, Herr, thue uns auf. Er wird aber antworten: Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht.
Wir haben uns heute vornehmlich an diejenigen unter Euch gewendet, meine Brüder, die einige Erkenntniß Christi haben; die aber nun wie am Scheidewege stehen bleiben, unschlüssig ob sie zur Welt zurückkehren, oder ihm nachfolgen sollen, deren Verhältnis; zu ihm also eine festere Begründung nöthig hat. Diese, wir gestehen es, sind es überhaupt, die wir gewöhnlich vor Augen haben, wenn wir hier reden, und denen wir am liebsten unsere Arbeit widmen; denn der Vollkommnen gibt es wenige; die ganz Ungläubigen aber, die Widerstrebenden, wo sollen wir sie antreffen, wie soll unsere Stimme sie erreichen? denn bei unsern Versammlungen möchten sie wohl nicht eben zahlreich sich einfinden. Auch der Herr liebt diese Seelen, die ihm noch nicht ganz gehören; er möchte sie vollständig sich zum Eigenthum erwerben; er hat für sie das Gleichniß von den zehn Jungfrauen erzählt, er fügt am Schlusse hinzu, und auch vornehmlich für sie: Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des. Menschen Sohn kommen wird. Und diese Worte sind es auch, die ich zum Schlusse Euch jetzt noch zurufe. Ihr wißt weder Tag noch Stunde, wo des Menschen Sohn für Euch kommen, das letzte Mal kommen wird, um Euch abzurufen aus diesem Leben; und wo Ihr bereit seyn müßt, wenn Ihr mit zur Hochzeit eingehen wollt. So haltet Euch denn immer bereit! Wachet! Zum Wachen ermuntere Euch jeder Tag, wo der Herr in vorbereitenden Prüfungen erscheint; solcher Tage gibt es ja viele! Und wenn der Herr auch nicht zu Euch kommt, um Euch zu prüfen, so kommt zu ihm; zu ihm sey stets, auch wenn keine Noth Euch drängt, euer Herz aus freier Liebe erhoben; man wachet überhaupt nur recht, wenn man bei ihm ist. Dann mag um Mitternacht ein Geschrei werden, es wird ein Geschrei der Freude seyn, denn Ihr werdet dahin mit ihm eingehen, wohin wir Alle uns sehnen, und wohin seine Gnade uns Alle führen wolle! Amen.