Theremin, Franz - Der Werth der Sündenvergebung
Evangelium Lucä, K, 15 V. 1-10.
Es naheten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn höreten. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murreten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an, und isset mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichniß und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schaafe hat, und so er der Eins verlieret, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem verlornen, bis daß er es finde? Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heim kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn, und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaaf gefunden, das verloren war! Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel seyn über Einen Sünder der Buße thut vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Oder, welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der Einen verlieret, die nicht ein Licht anzünde, und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn habe. Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte! Also auch, sage ich euch, wird Freude seyn vor den Engeln Gottes über Einen Sünder, der Buße thut.
Die große Verschiedenheit unter den Menschen, von welchen die Einen gerade durch das am meisten angezogen werden, was die Andern am meisten zurückstößt, zeigt sich, wie bei manchen anderen Gegenständen, so auch vornehmlich bei der Heilsanstalt Gottes durch Christum. Fragte man die Gegner derselben, wodurch ihre Abneigung erregt werde? Dadurch, würden sie antworten, daß den gläubigen und bußfertigen Sündern ganz umsonst Vergebung der Sünden verheißen wird. Fragte man die Freunde derselben, wodurch ihre innige und feste Anhänglichkeit entstanden sey? Sie würden dieselbe Antwort ertheilen; dadurch, würden sie sprechen, daß wir ohne eigenes Verdienst, um Christi Willen, an den wir glauben, Vergebung der Sünden empfangen. Die Vergebung der Sünden! Sie also ist es, welche die Einen anzieht, und die Andern zurückstößt; sie ist, wie Christus selbst, gesetzt zum Fall und zum Aufersteht, vieler in Israel; sie ist den Einen ein Geruch des Todes zum Tode; den Andern aber ein Geruch des Lebens zum Leben.
Auch in unserm heutigen Evangelium finden wir Gegner und Freunde der Sündenvergebung. Ihre Gegner, das sind die Pharisäer und Schriftgelehrten, die gegen Jesum murren und sprechen: Dieser nimmt die Sünder an, und isset mit ihnen. Ihre Freunde, das sind die Engel Gottes, die sich freuen über Einen Sünder, der Buße thut. Und was seyd denn Ihr, meine Brüder? Seyd Ihr Gegner oder Freunde der Sündenvergebung? Steht Ihr auf der Seite der Schriftgelehrten und Pharisäer oder auf der Seite der Engel? Was uns betrifft, so erklären wir, daß wir zur Parthei der Engel gehören; daß unter allen Lehren und Verheißungen der Schrift es die Sündenvergebung ist, die den höchsten Werth und die größte Wichtigkeit für uns hat, die uns am meisten anzieht und beseligt, die der tiefste Grund unserer Liebe für Christum ist; und zwar aus folgenden Ursachen: erstlich wegen der Allgemeinheit des Bedürfnisses, dem sie entspricht; zweitens wegen der Größe des Sündenelends, dem sie ein Ende macht; drittens wegen der Verherrlichung Gottes, die daraus hervorgeht. Dieß Alles werden wir versuchen, Euch nachzuweisen, indem wir Schritt für Schritt den Worten des heutigen Evangeliums folgen.
Die Sündenvergebung hat unter allen Lehren und Verheißungen den höchsten Werth und die größte Wichtigkeit erstlich wegen der Allgemeinheit des Bedürfnisses, dem sie entspricht. Dreierlei Menschen werden in unserem Evangelium erwähnt, Zöllner, Sünder und Pharisäer; Zöllner - die, um den ungerechten Mammon zu erwerben, Betrug und Erpressung nicht scheuten; Sünder - die keinem Gebote der Pflicht, sondern nur den Lüsten ihres bethörten Herzens folgten; Pharisäer - die, ohne besser zu seyn als die Uebrigen, doch in ihrem Hochmuthe es glaubten, und es auch Andere glauben zu machen sich bemühten. Diese drei hier Erwähnten bezeichnen die drei Hauptsünden, denen alle durch den Glauben an Christum noch nicht Wiedergeborne ergeben sind; sie sind entweder Zöllner, oder Sünder, oder Pharisäer; sie dienen entweder der Habsucht, oder der Lust, oder dem Stolz, oder allen dreien zugleich.
Von dem Geize nun, sagt die Schrift, er sey eine Wurzel alles Uebels; und von denen, die da reich werden wollen, von den Zöllnern, sagt sie, daß sie fallen in Versuchung und Stricke, welche versenken die Menschen in Verderben und Verdammniß. Eben dieß gilt von den Sündern, den Knechten der Lust, und von den Pharisäern, den Stolzen und Hochmütigen. Diese Alle tragen in sich den Keim und die Wurzel aller möglichen Vergebungen; wie denn nie, so lange es Menschen gibt, ein Verbrechen und eine Greuelthat ist begangen worden, die nicht auf einen dieser Triebe als auf ihren Quell und Ursprung zurückgeführt werden müßte; wie es denn keinen Menschen gibt - da jeder Mensch gleichsam ein geborner Zöllner, Sünder und Pharisäer ist - der nicht, diesen Trieben folgend, durch Thun oder Unterlassen die göttlichen Gebote übertreten hätte. Es kommt mir hier nicht darauf an Denen, die mich hören, das Geständniß grober Vergehungen abzupressen; aber wenn ich Euch einen nach dem andern, wenn ich alle Menschen, wenn ich mich selber fragte: Hast du nie aus Eigennutz die Rechte deiner Brüder verkannt; hast du nie die Pflicht der Neigung aufgeopfert; hast du nie dich erhoben, statt dich zu demüthigen: so müßte ein jeder, wenn er der Wahrheit die Ehre geben wollte, antworten: Ach, leider, das Alles habe ich gethan.
Sollte aber Jemand sprechen: Hier ist mein Leben; untersucht es, und ihr werdet keine Flecken darin finden - ach! es mag wohl manche geben, die in einem solchen ungeheuren Irrthum befangen sind! - so würde ich gelten lassen, was ich mit Recht leugnen könnte, und würde antworten: Wohl! Dein Leben hast Du uns gezeigt; nun zeige uns auch dein Herz; oder vielmehr enthülle es Dir selbst; erkenne Dich, wie Gott Dich erkennt. Wen liebst Du, Gott oder Dich selbst; wer ist Dir gegenwärtig, Gott oder dein Ich? An wen denkst Du, wen suchst Du, auf wen beziehst Du Alles? Immer bist Du es selbst, da es doch immer Gott seyn sollte. Und nun meinst Du kein göttliches Gebot übertreten zu haben? Hat er denn keine anderen gegeben, als solche, die im äußeren Leben zu beobachten sind? Hat er nicht auch gesprochen: Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe? Thust Du das? Du thust, wenn Du noch ein natürlicher Mensch, sey's auch unter diesen der edelste bist, Du thust in jedem Augenblicke das Gegentheil. Du übertrittst Gottes höchstes Gebot, also genau genommen, übertrittst Du sie alle, weil sie alle in diesem enthalten sind. Eine Ausnahme willst Du für Dich gelten machen, und daß Du es willst, ist noch eine Sünde mehr, die des Hochmuths. Keine Ausnahme findet hier Statt; alle Menschen, bei der größten Verschiedenheit der Anlagen und der Verhältnisse, berühren sich in der gemeinsamen Schuld - sie sind, allzumahl Sünder; und in dem gemeinsamen Bedürfniß der Sündenvergebung.
Wenn nun nicht alle Menschen ohne Ausnahme dem schrecklichen Schicksale das sie verdienten, anheimfallen; wenn nun nicht alle, deren Stammeltern Gott nach seinem Ebenbilde geschaffen hatte, von seinem Anschauen entfernt und in die äußerste Finsterniß verstoßen werden sollten: so mußte ein Mittel angewendet werden, die Gerechtigkeit Gottes zu versühnen, die Menschen zu ihm zurückzuführen, die Sünde in ihnen zu vertilgen. Die Allgemeinheit des Bedürfnisses rechtfertigt die Staunen erregende Größe des angewendeten Mittels; um nicht alle seine Kinder zu verlieren, mußte Gott seinen eingebornen Sohn hingeben, und er gab ihn hin, gab ihn hin in den blutigen Kreuzestod, in die bittern Leiden des Körpers und der Seele, machte ihn zur Sünde, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit die vor Gott gilt, auf daß, nachdem ein Anderer an unserer Statt erduldet hatte, was wir verdienten, wir Gnade und Barmherzigkeit finden könnten. Kommt denn Ihr Alle, sündige Nachkommen der ersten Eltern, die gesündigt haben; Ihr, die Ihr zahllos wie die Sandkörner am Ufer, wie die Tropfen des Meeres, den Erdboden bedecket; kommt zu Christo, er nimmt Euch an, nachdem er gestorben ist, wie er damals, als er noch auf Erden wandelte, die Sünder annahm, für die er sterben wollte. Kommt, Euch Alle treibe das Gefühl eines dringenden, zwingenden Bedürfnisses. Ihr bedürft der Luft, um zu athmen, der Speise, um zu leben: ist das Alles? Gibt es nicht etwas, das Euch noch viel nothwendiger ist, ohne das Ihr noch viel weniger leben könnt? Ist das nicht die Vergebung der Sünden? Findet Ihr sie nicht bei Christo? Kommt, ihn einzuathmen, diesen Himmelshauch der Begnadigung; kommt, sie zu genießen, diese seligmachende Speise; esset das Fleisch des Menschensohnes und trinket sein Blut, denn sein Fleisch ist die rechte Speise und sein Blut ist der rechte Trank.
Auch sind immer Einige gekommen. Es naheten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, baß sie ihn höreten, heißt es in unserm Text. Matthäus der Zöllner folgte dem Herrn, da er ihn rief, und ward ein Apostel. Zachäus, ein Oberster der Zöllner, trat vor ihn und sprach: Die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vielfältig wieder. Jene in der ganzen Stadt berüchtigte Sünderin kam, als er zu Tische saß, und weinete und fing an seine Füße zu netzen mit Thränen, und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küssete seine Füße, und salbete sie mit Salben. Manche, erschreckt durch die Sünden, die sie um schnöden Gewinnes, um schnöder Lust willen begangen haben, sind gekommen, und kommen auch noch jetzt, und empfangen dankbar und begierig von dem Herrn das, was mehr als Alles ihnen Noth thut. Die Zöllner und Sünderinnen kommen ins Himmelreich - und die Pharisäer - ich meine die Stolzen? Die stehn von fern, sehen zu, und verspotten beide, den Herrn und die, welche an ihn glauben. Die Pharisäer und Schriftgelehrten murreten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an, und isset mit ihnen. Pharisäer und Schriftgelehrte, ich begreife Euch nicht. Ihr seyd die Weisen in Israel; seyd Ihr denn nur darum so weise geworden um die thörichtsten unter den Thoren zu seyn? Habt Ihr denn nur darum euren Blick so durch Nachdenken geschärft, um nicht zu sehn, was ein Blinder sehen kann, daß alle Menschen Sünder sind, und Ihr, ja Ihr selber, die größten, weil Ihr nicht nur eben das Verderben wie Andere im Herzen tragt, sondern auch die große Sunde hinzufügt, es zu läugnen, Euch zu täuschen, Eure Brüder zu hintergehen, und sie von dem Gottesreiche entfernt zu halten. Ihr murret, weil Ihr trotz eurer Weisheit weder Euch selbst, noch die andern Menschen kennt; die Engel freuen sich, denn ohne die Sündenvergebung, das wissen sie wohl, würden sie im Himmel allen, bleiben, und aus dem Menschengeschlecht würde Keiner zu ihren seligen Chören hinzugethan werden.
Ist das Bedürfniß der Sündenvergebung allgemein, so ist es auch zweitens ein großes und entsetzliches Elend, dem sie ein Ende macht. Die Sünde kann von zwei Seiten betrachtet werden, als Schuld und als Unglück. Keine Sünde ist ohne Schuld; denn eine jede ist ein freiwilliges Uebertreten eines dem Gewissen bekannten und ihm eingeprägten Gesetzes, das durch Anwendung der von Oben gegebenen Kraft und Gnade beobachtet werden konnte. Deshalb empört jede Sünde das Gerechtigkeits-Gefühl in der Brust des Menschen, und sie muß noch mehr den Zorn des göttlichen Richters entflammen. Wenn nun aber dieser göttliche Richter selbst in unserm Texte von der Schuld der Sünde hinwegsieht, um nur ihr Elend ins Auge zu fassen, warum sollte auch uns nicht diese Absonderung geziemen? Wir wollen heute einmal nicht zürnen über unsere und Anderer Sünde, wir wollen darüber weinen, denn recht geeignet, Thränen zu entlocken, ist das rührende Bild, dessen sich der Herr bedient, das Bild eines verirrten, verlornen Schaafes. Welcher Mensch ist unter euch, spricht er, der hundert Schaafe hat, und so er der Eins verliert, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem verlornen, bis daß er es finde? Und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heim kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn, und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird Freude im Himmel seyn über Einen Sünder, der Buße thut, vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.
Etwas ungemein Rührendes, sagte ich, liegt in diesem Bilde von dem verirrten Schaafe. Angelockt durch einen grünen Weideplatz, hatte es sich von der Heerde entfernt, und war nicht mit dieser, als der Hirte sie heim trieb, zurückgekehrt. Plötzlich sieht es sich allein; nun sucht es die Heerde, will ihr folgen, kann sie aber nicht finden, denn sie ist schon weit entfernt; angstvoll läuft es umher, und vertieft sich nur mehr in die Wildniß. Indessen ist es Nacht geworden. Horch! durch die Stille Geheul von wilden Thieren! Sie nahen heran, und wenn der Hirte nicht zur rechten Zeit herbeieilt, so werden sie es zerfleischen. - Sollte dieß aus einem Schäferleben entlehnte Bild Euch nicht anschaulich seyn, so ist hier ein anderes, das mehr zu unseren Verhältnissen paßt. In den Straßen einer großen und volkreichen Stadt hat ein Kind wohlhabender Eltern, das einem nachlässigen Führer anvertraut war, sich verirrt. Eine Zeitlang ergötzt es sich an der ungewohnten Freiheit, und an den vielen nie gesehenen Gegenständen. Nun aber wird ihm bange, es will zurückkehren, läuft, läuft in falscher Richtung, und entfernt sich nur noch mehr. Es ist Nacht geworden, da nahen ihm Menschen, liebkosen ihm, versprechen, es nach Hause zu führen. Was thun sie aber? Sie reißen ihm seine schönen bunten Kleider vom Leibe, und lassen es verwundet am Boden liegen. - Doch was haben wir nöthig, hier etwas Neues zu erfinden? Das Vollkommenste, das in dieser Art erfunden oder geschaffen werden konnte, ist wohl das auf unser Evangelium folgende Gleichniß von dem verlornen Sohne; von diesem Sohne, der, begierig seine Güter selbst zu verwalten, die Theilung derselben von dem Vater verlangt, und sobald er die ihm zukommenden empfing, sich in ein fernes Land begibt, wo er sie in einem ausschweifenden Leben vergeudet. Da entsteht eine Theurung; er fängt an zu darben, in seiner Verzweiflung geht er hin und hänget sich an einen Bewohner dieses Landes der Noth und der Theurung. Der verlangt von ihm die schmachvollsten Dienste, die er ihm leistet, ob er gleich das, was er bedarf, um seinen Hunger zu stillen, auch dadurch nicht erwirbt!
Habt Ihr in diesen Bildern das Elend der Sünde geschaut, so schaut es jetzt auch in Euch selbst, in eurer Erinnerung, vielleicht in dem gegenwärtigen Zustande eures Herzens. Man hat, durch Lust getrieben, Gottes Gebot übertreten. Den Genuß, den man sich versprach, den findet man nicht, aber seine Ruhe hat man verloren. Sonst wohnte doch ein so schöner Friede im Innern, man hatte so manche Freude an geistigen, an erlaubten irdischen Dingen. Alles dahin! die ganze Welt hat ihre Farbe verloren; sonst so heiter, ist sie jetzt dunkel und trübe. In dem Herzen ist ein Kampf der Gedanken, ein Zurückbeben vor den Bildern der Vergangenheit, eine bange Ahndung der Zukunft, eine Angst, die von einem Orte zum andern treibt, die den tiefen Schlaf durch bange Träume unterbricht, so daß der Schlafende sich aufrichtet und schreit: Wo bin ich, wer sieht um mich? - Wie bin ich denn, fragt man sich wohl, in diesen Zustand gerathen? Vielleicht weil ich damals jenes gethan habe? Nein, antwortet man sogleich, das muß ja von Allen, die sich nur über Vorurtheile hinwegsetzen können, entschuldigt werden. - Das Widerstreben gegen alles Mahnen des Geistes führt einen tieferen Verfall herbei. Wie dort das Kind seiner schönen Kleider beraubt ward, wie der verlorene Sohn sein väterliches Erbtheil vergeudete, so wird nun das Gewand der Gerechtigkeit eingebüßt, das man schon in der Taufe empfangen hatte, so zieht sich die Gnade zurück, so verschwinden die Vorzüge, womit sie die Seele schmückte; und dagegen tritt die ganze natürliche Häßlichkeit der Seele in ihren abscheulichen, ihr selbst unbekannten Gestalten deutlich hervor. Sie erschrickt vor sich selber, sie findet in sich Gedanken, Regungen, Bilder, Lüste, deren sie sich nie fähig geglaubt hätte; sie muß Zeuge ihres eigenen geistigen Todes seyn. - Auch die Menschen haben etwas davon gespürt; seltsame Gerüchte kommen in Umlauf, gelangen zu Dem, welchen sie betreffen, und verwunden ihn tief. Die frommen Freunde betrachten ihn mit schmerzlichem Mitleid; Andere, die er sonst verachtet hatte, wagen ihm zu nahen, und beleidigen ihn durch ihre entehrende Vertraulichkeit. Er bedarf ihrer, sie wissen es; sie dienen ihm, er muß ihnen dienen, sie halten ihn in ihren Schlingen und verschließen ihm den Rückweg. - Gott sieht es vom Himmel, und obgleich das Herz ihm blutet, so läßt er doch seiner Gerechtigkeit ihren Lauf, die ein in Sünden geführtes Leben mit vielen bittern Strafgerichten anfüllt, die sie einem frommen Leben erspart haben würde.
Sollen diese Strafgerichte niemals aufhören? Sollen sie den unglückseligen Sünder bis hinein in die Ewigkeit verfolgen, wo der Wurm der Verdammten niemals stirbt, wo ihr Feuer nicht verlöschet, wo sie immerdar rufen: Ich leide Pein in dieser Flamme? Soll die Unruhe, die ihn hier quälte, zur ungeheuren Angst herangewachsen, ohne Ende ihn martern? Soll er, von dem Gott, der ihn allein selig machen kann, getrennt, unwiderruflich verstoßen seyn unter die Feinde Gottes, die ihn peinigen? Denn dieß, armes, verlorenes, verirrtes Schaaf, dieß wäre doch ohne den guten Hirten und seine Hülfe, dein Schicksal gewesen! Aber er fühlt ein unaussprechliches Mitleid und Erbarmen: wie sollte er nicht, da er die Liebe selber ist? Er kommt Dich zu retten, und so Du nicht widerstrebst, so wirst Du sicherlich gerettet werden. Dir nach, in die grausenvolle Wildniß, worein Du Dich verirret hast, schickt er seine rufende Stimme; vielleicht in diesem Augenblicke schlägt sie an Dein Herz! Vernimm sie, und zeige dadurch, daß Du noch zu den Seinigen gehörst. Er kommt, er tödtet den Wolf, der im Begriff ist, Dich zu zerreißen: ach! indem er ihn tödtet, verliert er selber das Leben! Gern gibt er es für Dich dahin. Aber er nimmt es wieder, er sieht auf zu deiner Rechtfertigung, er erhält vom Vater deine Seligkeit zum Lohn seines großen Opfers. Nun legt er sein gerettetes Schaaf auf seine Achseln mit Freuden; und wenn er heim kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn - die Seligen und die Engel - und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaaf gefunden, das verloren war.
Und siehe! der ganze Himmel freuet sich mit ihm. Also wird auch Freude im Himmel seyn, spricht der Herr, über Einen Sünder, der Buße thut, vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Ist dieser Ausdruck nicht zu stark? Wie könnte es zu stark und zu viel seyn, wenn der Herr sagt, daß ein einziger bußfettiger Sünder vor ihm und vor seinen heiligen Engeln einen größeren Werth habe, als eine große Anzahl selbstgerechter Pharisäer, die da fälschlich meinen, daß sie der Buße nicht bedürfen? Engel, liebreiche, theilnehmende Geister, so fahret denn fort, den Herrn zu preisen für die große Barmherzigkeit, die er nicht Euch, die er uns, die wir hier im Staube wallen, erzeigt hat! Sollten denn wir, die wir diese Gnade empfingen, die wir von dem schrecklichen Sündenelend erlöset sind, nicht ohne Aufhören jubeln und danken? Und Du, geliebter Bruder, der Du bisher zu den Pharisäern und Schriftgelehrten gehörtest, solltest Du Dich nicht mit uns freuen? Du suhlst Dich gekränkt, daß Dir die Wohlthat der Erlösung so ganz umsonst dargeboten wird, Du willst nichts der Gnade, Du willst Alles deinem eigenen Verdienste zu danken haben? Wie sehr verkennst Du die Größe des Elends, worein die menschliche Natur versunken ist! Das verirrte, das von dem Wolf angefallene Schaaf, kann es sich allein gegen ihn vertheidigen, und gebührt nicht dem Hirten, der den Wolf getödtet hat, die ganze Ehre seiner Errettung? Der verlorne Sohn, der in Lumpen gehüllt, den Wanderstab in der Hand, zurückkehrt, besitzt er etwa irgend ein Verdienst, das ihm die Thür des Hauses, die Arme des Vaters öffnen müßte, und ist es nicht Gnade, nicht Erbarmen allein, was sie ihm aufthut? O wenn Du diese Gnade annehmen, wenn Du Buße thun wolltest: wie groß würde auch über Dich die Freude im Himmel seyn!
Die Sündenvergebung, die unserm tiefsten Elende ein Ende macht, dient auch drittens zur Verherrlichung Gottes. Diesen Gedanken drückt Christus durch das folgende Gleichniß aus. Welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie davon einen verlieret, die nicht ein Licht anzünde und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde? Und wenn sie ihn gesunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen, und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Dieses Gleichniß von dem Groschen scheint auf den ersten Anblick mit dem von dem Schaafe ganz gleichbedeutend; aber es ist doch zwischen beiden ein Unterschied. Das Schaaf fühlt, der Groschen ist fühllos; wenn das Schaaf sich verirrt, so leidet es selber dadurch am meisten; wenn der Groschen verloren geht, so ist es der Besitzer allein, welchen der Schaden trifft. Der Sünder, der von Gott abfällt, stürzt sich also nicht nur selber ins Elend, er entzieht auch Gott die Ehre, die ihm gebührt; und durch seine Buße, seine Begnadigung wird Gott verherrlicht.
Man sollte es kaum glauben, daß der reiche Gott durch den Verlust einer Seele etwas verlieren könnte - aber so verhält es sich in der That. Er hat sie geschaffen, und sie ist sein Eigenthum; der Sohn Gottes hat sein Blut für sie verströmt, und hat sie dadurch „och einmal erkauft; sie soll in seinem Reiche wohnen, soll durch die Heiligkeit und Seligkeit, die er ihr schenkt, sein Reich schmücken, seinen Ruhm vermehren. Verläßt sie ihn, wählt sie sich einen andern Herrn - ach! es gibt ja noch ein anderes Reich und ein anderes Oberhaupt! - so wird Christo entzogen, was ihm gebührt, und die Ehre, worauf er eifersüchtig ist, gekränkt. Er ist nicht damit zufrieden, daß ihm Himmel und Erde gehorcht, daß aus allen ihren Bezirken so viel Stimmen zu seinem Lobe und Preise sich erheben; daß in seiner himmlischen Wohnung sich die Millionen der Seligen, die tausend Mal tausend der Engel versammeln; daß auch hier auf Erden eine so große Anzahl Erlöseter ihm dienet im heiligen Schmuck: er verlangt auch, daß diejenigen, die noch in den Reihen seiner Anhänger fehlen, ihnen hinzugefügt werden sollen, er bemerkt jede Lücke, die ihr Austritt gelassen hat, er trauert darüber. Ihm ist zu Muthe wie der armen Frau, die nur zehn Groschen hat, die Einen derselben verlieret, und die nun sogleich - denn unter zehn wie wichtig ist nicht der Eine! - das ganze Haus umkehrt, um ihn wiederzufinden. Und Du solltest nicht, o Mensch, vor Rührung zerschmelzen? Bedenke, was der Herr ist, und was Du bist von Natur! Bedenke, wie Du Dich noch mehr herabgewürdigt und erniedrigt, Dich im Schlamme der Erde gewälzt, Dich mit unaussprechlicher Schmach bedeckt hast, daß Du selbst kaum deinen eigenen Anblick erträgst; aber Er richtet seine Blicke auf Dich, Er sucht Dich, er sieht Dich in deinem Blute liegen und spricht: Du sollst leben; er will Dich nicht nur herrlich machen, er will auch durch Dich verherrlicht werden. Wahrlich, wenn Du nicht kommst, Dich ihm darbietest, nicht die Ewigkeit hindurch diese grenzenlose Gnade bewunderst, so mußt Du aufgehört haben Mensch zu seyn.
Aber daß Gott den Sünder von allen seinen Sünden freispreche, das, meinst Du, Pharisäer, das sey eigentlich Gottes unwürdig und verherrliche ihn keinesweges. Wir dagegen finden, daß unter allen Thaten Gottes keine so glänzend und wunderbar sey, als die der Begnadigung. Wenn ich mich zuerst in die Tiefen Gottes versenke, so staune ich freilich; aber alle übrigen Wirkungen Gottes können nun kein Staunen mehr erregen, weil sie sich bei dem unendlichen, vollkommenen Wesen von selbst verstehn. Ich staune nicht, daß er Alles aus Nichts geschaffen; denn so gebührt es der unendlichen Macht. Ich staune nicht mehr, daß er die ganze Zukunft wie eine Gegenwart schaut; das läßt sich von seiner unendlichen Weisheit erwarten. Ich staune nicht mehr, daß er einen Tag bestimmt hat, wo er den Kreis des Erdbodens richten, wo er vergelten wird einem jeglichen nach seinen Werken; denn seine Heiligkeit und Gerechtigkeit fordern es. Aber ich staune immer aufs Neue, und ich werde die Ewigkeit darüber staunen, daß er sich zu mir herabläßt und spricht: deine Sunden sind Dir vergeben. Ja ich staune nicht nur, ich fühle mich bis in die Tiefen meines Herzens gerührt, ich weine, ich bete an; so bewegt mich seine Liebe, und ihr großes Werk, meine Begnadigung; sie muß also, diese Liebe, sie muß noch höher stehn als Allmacht, Weisheit, und Gerechtigkeit, denn sie erschüttert mich so, wie keine von jenen es vermochte. Was thust Du denn eigentlich, Pharisäer, der Du nicht willst, daß Gott ganz umsonst, aus reiner Gnade die Sünden vergeben soll? Du raubst ihm seine größte Ehre, Du entziehst ihm den Ruhm, darauf er stolz ist; Du willst nicht, daß er sich noch mehr, als durch die Erschaffung der Welt, noch mehr, als durch das Gericht über solche stolze und hochmüthige Menschen, wie Du bist, verherrliche. Merke Dir das, und höre auf, Dich gegen Gott zu versündigen.
Der Pharisäer beruhigt sich noch nicht, und fährt fort: Ich liebe nicht, daß eine Vollkommenheit Gottes ohne die andere wirke, ich liebe namentlich nicht eine Liebe, der es an Heiligkeit und Gerechtigkeit mangelt. - So? - Nun, wenn es Dir darauf ankommt, so will ich Dir zeigen, daß alle Vollkommenheiten Gottes, unter Leitung der Liebe, bei der Sündenvergebung wirksam sind. Die Liebe brennt vor Verlangen, die Sünder zu begnadigen; aber sie thut es nicht eher, als bis Christus alle Strafen, die sie verdienen, erduldet hat: erkennst Du darin nicht Gottes Gerechtigkeit? Er vertilgt nun die Sünde sammt ihrem Elend; er setzt an die Stelle desselben ein neues, seliges Leben: dieß Schaffen, dieß Vernichten, ist es nicht ein glänzendes Werk der Allmacht? Und wenn noch die Heiligkeit, die uns nach ihrem Bilde heiligen will, von Dir vermißt wird, so beruhige Dich auch darüber, denn wahrlich dadurch, daß Gott die Sünden vergibt, heiligt er uns.
Hier sollen alle meine Zeugen senn, die im Himmel und auf Erden zum Reiche des Herrn gehören; die Seligen, die dort eine unverwelkliche Krone tragen; die Apostel und Märtyrer, die durch ihre Worte, ihre Thaten und durch ihr Blut für ihn zeugten; die wahren Christen alle, welche die Kirche, seitdem sie besieht, in ihrem Schooße getragen hat, durch die in allen Jahrhunderten ein helles Licht verbreitet, durch die Glaube und Frömmigkeit bis auf uns fortgepflanzt worden ist; alle echten Freunde und treuen Jünger, die der Herr in unsern Zeiten, unter diesem Volke, vielleicht unter dieser Versammlung besitzt, sie alle sollen mir Zeugniß geben von der Wahrheit dessen, was ich behaupte. Denn wenn ich fragte: O Ihr heiligen Seelen, seyd Ihr denn immer so heilig gewesen? Nein, würden sie antworten, wir sind Sünder gewesen, wie alle anderen Menschen. Und wenn ich weiter fragte: Was hat Euch denn von der Sünde gereinigt, was hat Euch mit Abscheu gegen sie und mit brennender Liebe zum Herrn erfüllt, was hat Euch angetrieben, ihm euer Leben zu widmen, und es, wenn er gebot, für ihn zu lassen? Seine Gnade - so denke ich mir, daß sie laut, mit Einer Stimme, im Himmel und auf Erden rufen würden - seine Gnade, die uns die Sünden vergeben hat. Wie hätten wir jetzt noch die Sünde lieben können, da sie nicht mehr die unsrige, da sie sammt ihren Strafen uns abgenommen und vertilgt war? Wie hätten wir jetzt nicht den Herrn, der uns mit seinem Blute erkauft hat, wie nicht in ihm seinen himmlischen Vater und dessen heilige Gebote lieben sollen? Wie hätten wir nicht unser Leben, das er der Verdammniß entriß, ihm widmen, und lieber den Tod, als eine Untreue gegen ihn, wählen sollen? So würden sie sprechen, diese Zeugen, deren Wolke, wie der Apostel sagt, uns umgibt; und sie würden hinzufügen: Wehe dem Zeitalter, wo die Sündenvergebung durch Christum ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung ist; wo die Lehrer sich schämen, sie zu verkündigen und die versammelten Christen, sie zu hören; wo ein anderes Mittel, als das Kreuz Jesu Christi und sein blutiger Tod, um zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen, angepriesen wird. Auf, Ihr Wächter, steiget auf die Mauern Zions, und predigt Buße und Vergebung der Sünden im Namen Christi, wie er es Euch befohlen hat. Heil Euch, wenn Ihr, wie Paulus, dahin gelanget, nichts unter euren Zuhörern zu wissen, denn allein Jesum Christum den Gekreuzigten!
Diese Ermahnung haben wir vernommen, und diesen Rath haben wir heute befolgt. Welches ist die Frucht unserer Predigt gewesen? Wenn Pharisäer und Schriftgelehrten unter unseren Zuhörern waren, sind sie bekehrt worden? Ich weiß es nicht; ich weiß, daß dieß sehr schwer, aber auch, daß der Gnade Gottes nichts unmöglich ist. Was wir gewißlich hoffen, ist, daß einige gläubige Christen heute dem Herrn mit noch größerer Inbrunst als sonst für seinen blutigen Tod, und für seine große Gnade und Liebe danken werden, die uns alle unsere Sünden vergeben will. Ach! und dieß ist freilich auch ein sehr angelegentlicher Wunsch meines Herzens: Ist unter uns ein verlornes Schaaf - Eins? Ach, es mögen vielleicht manche unter uns senn! - Möchten diese Alle, oder möchten von diesen Allen nur Eins heute zum guten Hirten zurückkehren! Amen.