Tersteegen, Gerhard - Der Gebrauch der Heiligen Schrift
Gewiß, es ist Unverstand, durch die Wirksamkeit des Verstandes die Erkenntnis Gottes und seiner Wahrheit zu suchen. Kann sich doch nicht allein kein Blinder, sondern nicht einmal ein Sehender durch Kopfzerbrechen und Studieren das natürliche Licht oder eine zulängliche Erkenntnis von demselben zuwege bringen; viel weniger wir vom Göttlichen. Man fülle doch seinen Kopf nicht so voll, sondern leere ihn vielmehr aus von allen vorgefaßten Bildern. Unsere Gläser sind gar zu bunt bemalt; es ist dem Licht nur hinderlich. Wir haben so viel zu tun mit unseren Puppen im Kopf, daß wir darüber versäumen, der ewigen Wahrheit Raum zu lassen, welche so gern einen hellen Schein in unsere Herzen geben will.
Diese Erleuchtung nun geschieht nicht auf einmal, sondern stufenweise nach der Beschaffenheit oder Fähigkeit der Seelen: und eben also versteht man auch die Schrift nicht auf einmal, sondern nach dem Maß der Gnade und der Erleuchtung und nicht mehr.
Alsdann werden wir bei Lesung der Schrift mit einem innigen, stillen Anblick eines Sprüchleins manchmal mehr Licht, Salbung, Kraft und Segen darin finden, als wenn wir zwanzig der berühmtesten Autoren darüber nachgeschlagen hätten.
Der Sinn und die Gedanken Gottes sind nicht unsere Gedanken. Es sind solche Dinge, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und die in keines Menschen Herz aufgestiegen sind; es sind Dinge einer anderen Welt, wovon wir uns keine Idee noch Begriff machen können. Aus eben diesem Grunde können wir nun auch unsere zweite Frage lösen: Wie man nämlich wissen könne, was der eigentliche Sinn dieses oder jenes Orts sei? Ich antworte kurz: Der ist es mir, den mir Gottes Gnade und Licht zu meiner Erbauung darin zeigt. Denn die Schrift ist nicht nur den Juden, den Römern, den Korinthern usw., sondern allen Menschen und also auch mir geschrieben. Einem andern könnte vielleicht Gottes Geist durch eben denselben Spruch einen andern Aufschluß und Eindruck geben; einem dritten wiederum einen anderen usw., und doch hätten wir alle dergestalt den rechten Sinn getroffen und würden uns miteinander in Liebe erfreuen können über die mannigfaltige Weisheit Gottes.
Bemühe dich nicht so sehr, die Worte der Schrift ins Gedächtnis zu fassen, als deren Sinn und Kraft ins Herz zu bekommen. Oft kann man die Worte vergessen und doch die Kraft derselben im Herzen haben, und wer bisweilen die wenigsten Schriftworte im Gedächtnis und im Munde hat, besitzt oft das meiste vom Sinn und Geist der Schrift in seinem Herzen. Auf den Eindruck, Licht und Salbung, welche beim Hören oder Lesen der Schrift in unserem Grunde sich eröffnet, darauf muß man am meisten merken und solches bewahren; das ist die Substanz oder Kraft des Brots; ein Wort, das aus Gottes Munde geht, wovon man allein lebt; nicht aber vom äußeren Schall oder leeren Bildern im Kopf.
Wird dir nun irgendwo ein Wort aufgeschlossen und aufs Herz gedrückt, so darfst du es eben nicht stracks andern vorschwätzen, dich damit sehen zu lassen: spiegle und verbilde dich auch mit deiner selbstliebigen Vernunft nicht darin, sondern laß den Samen des Worts tiefer hinunterfallen, in dein Herz.
Lies nicht zuviel auf einmal, wie manche dergestalt ein Kapitel nach dem anderen daherraspeln, als wenn sie es Gott in Rechnung bringen wollten, wie viele Kapitel sie in der Bibel gelesen hätten. Lies wenig, aber das Wenige mit soviel größerer Andacht und Bedachtsamkeit. Die Bibel ist durch den Geist der Weisheit so eingerichtet, daß zwar alles darin in einer schönen Verknüpfung und Ordnung aneinander hängt wie die Perlen an einer Schnur, ob wir es gleich nicht überall so sehen können, daß aber auch zugleich fast alle und jede Verse soviel kurze Worte wie einzelne kostbare Perlen, an und für sich selbst sind. Deswegen kann man sie bisweilen lesen mit dem Aufschlagen des Bums und in der Furcht Gottes erwarten, was uns etwa zu unserer Erweckung, Unterricht oder Stärkung zugeteilt wird; ein andermal kann man sie auch im Verfolg lesen und diese schöne Perlenschnur in ihrem Zusammenhang beschauen.
Geschieht es etwa, daß du unterm Lesen gerührt, gestärkt, gesammelt wirst, daß dich die Salbung des Heiligen Geistes inwendig lehren will, daß du auf eine sonderliche Weise von Gott und dessen Gegenwart oder von einigen seiner Vollkommenheiten gerührt, einwärts gezogen und im Geist damit beschäftigt gehalten wirst: ei, so lies doch aus Unverstand nicht immer weiter, damit du solche kostbare Salbe nicht wieder verschüttest, sondern halte da stille, denn der Urheber der Schrift ist dir alsdann selbst gegenwärtig -stille, mit allem deinem eigenen Denken, Wollen und Wirken, und überlaß dich ganz solchen teueren Wirkungen Gottes und seiner Gnade, um in innigster Stille und Abgeschiedenheit mit David zu hören, was der Herr selbst redet.