Tersteegen, Gerhard - An eine christliche Freundin.
Mühlheim, 21. Aug. 1736.
Jesus nehme uns ein, und halte uns ewig. In ihm herzlich geliebte Schwester! Der Herr sei gelobet für alle Gemeinschaft des Geistes, so er uns in seiner Liebe vergönnet. Wir wollen ihm noch einmal dafür danken im Vaterlande, gleichwie wir jetzt dadurch erquicket und gestärket werden auf der Pilgerreise. Ja es ist meinem armen Herzen ein rechtes Labsal, wann mein Geist an eine Seele gedenket, die so auf was Ganzes und Inniges gezogen und ergeben ist. Ich liebe alle erweckte Seelen; ich kann's aber nicht ändern, daß der Ausfluß meiner Liebe zu einigen ungezwungener ist, als zu andern. Zu einigen gehet man in Liebe heraus: andere aber findet man drinnen, und diese bringen keine Hinderung oder Vermittlung in der Gemeinschaft mit Gott. O wie gut sind solche Freunde, die uns von dem besten Freunde nicht abziehen, der uns alles und in allem genug sein will! Ach man erkennets und erfähret's nicht genug, daß uns dieses ewige Gut so innig nahe, und in dem Namen Jesu, im Geist unsers Gemüths, solch ein offener Weg in's Heiligthum gebahnet sei, woraus der Brunn wider alle Sünde und Unreinigkeit in die Gläubigen Herzen quillet, die sich nur kindlich hineinwenden. Ich sehe es klar, daß die ernstlichsten Seelen öfters zu sehr in sich selbst stehen bleiben, und sich plagen in ihrem eigenen Gewirk, wodurch man sich auch selbst hindert, Gottes Nahheit und geheime Wirkungen recht zu erfahren und ihnen recht Raum zu lassen. Es ist wahr, ein ungestorbener Mensch kann wohl in eine falsche Ledigkeit gerathcn, aber das gehet bei aufrichtigen Herzenskindern nicht an, die sollten sich ja gerne helfen, wenn's in ihrem Vermögen wäre, wie sie dann auch ihr Bestes schon gethan haben; sie erfahren's aber nicht ohne Wehethun, daß ihre Kräfte sinken und nicht zulänglich sind, ihrem Uebel abzuhelfen. In dem Gewirk und in der Mannigfaltigkeit werden sie geschwächt, in der inneren Einfalt und Stille aber verborgentlich gestärket. Die Liebe locket und führet sie immer auf Eines, welches alles in sich fasset, nehmlich auf die innigste Loslassung ihrer selbst und alles Geschaffenen, damit der Herr ihr Herz und Willen ungetheilt haben und behalten möge in seiner Hand. Es denket manche Seele nicht, daß dieses alles von der Liebe in ihr gewirkt werde; nur spüret sie öfters die allerzartesten Neigungen zu einem solchen völligen und innigen Wesen; wann sie nur daran gedenket oder ein Wort davon höret, so wird ihr Gemüth davon wie gesalbet, und alles in ihr muß solchem Sinne zustimmen. Will sie in eigenem Wirken die Sache angreifen, und diesem völligen Sinn nach Christo ein Genüge leisten, so sinkt sie bald wieder in ihre Ohnmacht, und das Gemüth wird trübe, hart und unruhig; sinkt sie aber wieder in die innere Einfalt und Stille, so wird ihr wieder sanft und wohl. Solche Seelen nun müssen durch keinen gesetzlichen Trieb von außen noch von innen sich irren lassen, sondern alle Anforderungen des Gesetzes durch ein solches einfältiges, ruhiges, vertrauliches Hineinneigen in Jesum beantworten, diesem trauten Seelenfreund im willenlosen Sinn seiend und anhangend, daß er selbst alle Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllen möge; welches er auch gewiß und mächtiglich thun wird, wo wir nur in ihm bleiben, denn er ist unser Friede und ganzes Heil. Der geringste Schatten der Offenbarung Jesu in uns, eine einige Centralberührung seiner göttlichen Liebe oder einige andere Wirkung Gottes im Innern, wie schwach sie auch den Sinnen und der Vernunft vorkommen möchte, gibt dem Gemüthe mehr Gewißheit, und schwächet das Reich der Finsterniß weit mehr, als 20 Jahre, die im eigenen Wirken, ohne ein solches Innebleiben in Jesu zugebracht werden. Und diese Uebung des Innebleibens in Jesu ist nicht nur für große Heiligen, sondern eben für solche arme, ohnmächtige Kinder, wie ich und meinesgleichen sind. Ach, welche Wunder göttlicher Kraft, Gnade und Liebe kann der ärmste Sünder erfahren, wann er sich also mit geschlossenen Augen in Jesum einsenket und im kindlichen Sinn auf ihn wartet an den Pfosten seiner Thür! Ja wahrlich, Gott will in uns wohnen, wir sollen sein Heiligthum werden, worin er im Geist und Wahrheit kann angebetet und gedienet werden; ihm sei unser Ganzes dazu aufgeopfert! Seine Liebe prätendirt alles, und wer solle ihr etwas vorenthalten wollen? Er selbst aber erfülle in uns allen sein Wohlgefallen: er halte uns fest in allen Proben und Leiden, und gründe uns immer inniger in seiner Hochwerthesten Gemeinschaft, damit er hier und ewig Freude an uns und in uns habe. Amen, du treue Liebe! -
Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren