Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Ohne Gott ist nichts Gutes in dem Menschen, und Alles, was Gott nicht in uns bewirkt, ist dunkel und tot. Man kann Zeiten haben, wo man wohl sieht, wie es sein soll, und doch sehen muss, dass es so nicht ist.
In Jesus, der Dein Leben und Alles sei, sehr werte und herzlich geliebte Schwester!
Wiewohl ich nichts Besonderes zu schreiben habe, so muss ich Dir doch ein Briefchen von Gemeinschaft1) zusenden, und ich tue es freudig und mit Erquickung im Geiste, einfach mit der Feder ausdrückend, was im Grunde liegt, nämlich dass, da wir mit unserm Gott Gemeinschaft haben in Christus, wir auch diese unter einander in ihm besitzen. Dass sowohl das Eine wie das Andere stattfindet, ist Gottes Barmherzigkeit, wofür er verherrlicht werde. Er selbst mache, dass wir in ihm bleiben und in ihm, der unser Licht ist, wandeln, um ganz von seinem göttlichen Leben durchdrungen zu werden. Denn es ist eine ausgemachte, aber doch sehr verborgene Wahrheit, dass ohne Gott nichts Gutes in dem Menschen ist und das Beste nichts taugt; Alles ist dunkel, tot, hässlich und widerlich, was er nicht in uns ist und bewirkt, wie schön es sich auch dem Auge zeigen mag. Ich muss gestehen, dass ich Allem, was aus dem Menschen kommt, keinen Geschmack abgewinnen, daran kein Behagen finden kann. Der Herr muss Alles in uns werden; ihm müssen und wollen wir Platz machen und stille zu ihm sein und harrend uns sehr erfreuen, dass in ihm all' unser Hort und Heil ist. (Ps. 62.) Du sagst in Deinem letzten Briefe: Müssen wir nicht so reden und handeln, als ob wir nicht dabei wären? ja, dürfen wir wohl dabei sein? usw. Du hast recht, Schwester: aber nicht von Allem, was sein muss, kann ich sagen es ist. Ich habe Zeiten gehabt und habe sie vielleicht noch, wo ich bei meinem Sprechen, Schreiben und Tun nebenher recht gut das unterscheiden konnte, bei dem ich war, und das, was reiner vom Herrn kam, obschon ich sagen musste: sowohl das Eine wie das Andere ist Wahrheit, aber in Kraft und Wert war das Eine weit verschieden vom Andern. Doch jetzt ist dieses durchgehends ganz verändert; ich habe einen kranken Kopf: ich vermag wenig von meinem inneren Stande zu erkennen, wiewohl ich darum nicht viel be. kümmert bin; das Meiste, was ich rede, scheint einigermaßen nur auf den Lippen zu schweben; kurz gesagt, es ist zuweilen, als ob ich so natürlich hin zu Werke ging; doch immer ist es nicht so. Ich bin sehr gebrechlich, aber ich will nicht danach umsehen, und wünsche nur Gott zu folgen und in ihm zu Werke zu gehen und dabei stets zu bekennen, dass ich ein gebrechliches, armes Kind bin. Jetzt grüße ich Dich auch noch, meine geliebte Schwester, innig im Geiste der Liebe Jesu, die Dein Herz je länger je reiner beseelen und Dich bewegen möge, auch mich seiner göttlichen Majestät aufzuopfern zum Festhalten und Vollbringen seines göttlichen Werkes.
Ich bleibe
Dein
in dem Herrn verbundener Bruder
Mülheim, den 2. November 1745.