Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Da die Seelen, von der Liebe Gottes getroffen, anfänglich nicht wissen, dass dieses von einem so innig gegenwärtigen Seelenfreund kommt, so schauen und eilen sie mit Bekümmernis nach außen hin. Wie der Herr diesem zu seiner Zeit abzuhelfen weiß, und die Seelen mehr nach innen zieht und stiller macht.
In der Gnade des Herrn werte Freundin!
Es war mir eben so angenehm als höchst unerwartet, dass ich, noch in Amsterdam mich befindend, einen Brief von Dir erhielt, wodurch Du mich zu bewegen suchtest, auch einmal an Dich zu schreiben, woran ich sonst vielleicht nicht gedacht haben würde. Ich kann sagen, liebe Freundin, dass die Erinnerung an unser Zusammentreffen und unsere Gespräche mir stets Freude macht und zur Erquickung dient. Der Herr hat es so gewollt, sein Name sei dafür gepriesen. Ich habe die Gnade Gottes an und in Deiner Seele erkannt und gefühlt. Ich kann nur ganz einfach bezeugen, dass es die wahre Gnade ist, in der Du Dich befindest, und Dir zurufen: So wie dich die Salbung allerlei lehrt, so ist es wahr und ist keine Lüge; und diese Salbung, dieser Geschmack des Herzens, dasselbe, was Du fühlst, ohne es nennen zu können, lehrt uns nur eins, nämlich dieses: dass wir bei demselbigen bleiben (1. Joh. 2, 27.). Aber an dieser einen Lehre, die uns innig zuruft: Und nun, Kindlein, bleibt bei ihm (28), daran haben die Herzenskinder genug; sie finden je länger je mehr darin alle Weisheit, alle Nahrung, allen Frieden und alles Heil für ihre Seelen. Und darum wünsche ich mit Dir, werte Freundin, noch mehr Alles zu verlieren und zu vergessen, um nur wie ein einfältiges, immer beginnendes Herzkind dieser Lehre zu genügen und durch des Herrn Gnade bei derselben zu bleiben bis an mein Ende. Nachdem unser gesegneter Seligmacher Jesus Christus sein Blut für uns vergossen hat, ist sein süßer Name wie eine heilende und belebende gute Salbe ausgeschüttet (Hohel. 1, 3.), und Gott als ein Gott der Liebe und Versöhnung ist nun uns armen Sündern auf das innigste nahe in unsern Herzen; durch diese seine zärtliche Liebe trifft er das Herz. Er versetzt es in eine heilige Unruhe und Bewegung, und macht es suchend und fragend; nun denkt und weiß die Seele anfänglich nicht, dass dieses von einem so innig gegenwärtigen und liebenden Seelenfreunde in ihr erweckt wird; sie sieht also mit Kummer nach außen hin, und verwirrt sich oft in ihre eigne Unruhe, sucht dem durch dieses und jenes, so gut sie vermag und auf die Art, wie Andere es ihr angeben, abzuhelfen; aber wenn sie nicht nach innen gewiesen wird, um sich nur mit einer wahren Loslassung ihrer selbst ohne umzusehen in die offenen Arme dieses innigen Seelenfreundes zu werfen, sondern zu viel in sinnliche, eigne oder Verstandesübungen und Tätigkeiten ein und umhergeführt wird, dann heilt das Herz nicht bis auf den Grund, die Unruhe bleibt oder ihr Frieden wird unbemerkt auf etwas gebaut, das aus ihr herrührt, und nicht rein genug ist vor dem Herrn. Doch der Herr sieht die Einfältigen an. Er weiß den rechten Augenblick zu treffen, wo er entweder durch eine kräftigere Entdeckung von innen oder durch eine mittelbare und meistenteils ungesuchte Hinweisung nach innen, den Seelen zu ihrer größten Verwunderung anzeigt, dass ihre Genesung, ihr Heil, ihr Schatz und ihr Gut ihnen auf das innigste nahe liegt, und darum nicht in der Ferne gesucht werden muss. Gott berührt ihren Grund mit dem Magnet seiner Liebe; sie empfangen dadurch einen unaussprechlich zarten Grundzug in sich, um ganz und auf das innigste vor dem Herrn zu sein; er bewirkt dadurch, dass sie ihm von ganzem Herzen anhängen; die tätigen, mannigfachen, bestimmten und Verstandes-Übungen schmecken ihnen nicht mehr; sie werden auch für einige Zeit untüchtig dazu; aber sie bekommen den Geschmack des Herzens, von dem ich oben gesprochen habe; Alles muss still, sanft, einfältig und herzlich sein; und wäre jemand der größte Philosoph auf Erden, er müsste ein einfältiges Herzkind werden, wenn er von Gott dahin gebracht würde, denn alle Weisheit ist nur Torheit gegen dasjenige, was seine Seele alsdann in dem Herrn Jesus findet. Hat uns nun, liebe Freundin, der Herr in solchem Maße dahin gezogen und uns diesen Herzensweg lieb gemacht, was bleibt dann anders für uns zu tun übrig, als nur auf diesem Wege zu bleiben und uns darauf halten zu lassen, innig diesem zärtlichen Zuge des Herrn in unserm Herzen, diesem lieblichen Grundzuge folgend, der so ganz für den Herrn, bei dem Herrn und in dem Herrn Jesus, als unserm einzigen Ruheplatze und dem einzigen Quell aller Gerechtigkeit, Heiligkeit und Seligkeit, sein will. Er ruft uns zärtlich von Allem ab; er lässt uns keine Ruhe in etwas Anderem oder in uns selbst; er zeigt uns, wie ein guter Freund, was Alles von uns abfallen muss, und wer ihn lieb hat, der will auch nichts Anderes. O, dass es doch die armen Sünder nur wüssten, wie die unendliche Fülle der Gnade in Jesus ihnen so innig nahe ist, und seine Arme so weit geöffnet sind, um auch den Größten unter ihnen aufzunehmen! Und o! dass es doch viele gutmeinende Seelen wüssten, wie sehr sie sich aufhalten, von Gott entfremden, die Salbung und den Geschmack des Herzens ersticken, durch zu vieles nach außen Kehren, durch zu vieles Hingeben an Tätigkeit des Verstandes, statt wie hungrige, nackte, stille Kindlein sich in ihrem Herzen mit dem Herrn Jesus zu vereinigen, und in ihm durch Glauben, Liebe und Gebet zu bleiben! Aber es ist der Herr, der dies aus bloßer Gnade in etwas an uns offenbart hat und es auch Andern offenbaren muss. Er mache sich dann je länger je herrlicher und liebenswerter in uns und in vielen Andern um seines Sohnes Jesu willen! Amen.
Ich schreibe mehr als ich dachte zu tun, da ich Dir anfangs bloß meinen herzlichen Gruß zusenden wollte; aber ich bin der Feder gefolgt. Der Herr mache alle Wahrheit zur Wahrheit in uns! Ich grüße Dich von ganzem Herzen wie auch Deinen lieben Mann. Der Herr, der ihn zu sich zieht, segne seine Seele und gebe, dass er sich unbedingt dem Gott hingebe, der auch mich armen Sünder aufgenommen hat! Amen. Ich bleibe durch die Gnade
Dein
verbundener Freund und Bruder.
Mülheim, den 27. August 1737.