Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Unterschied zwischen selbst geknüpfter oder durch die Hand der himmlischen Liebe gestifteter Freundschaft. Die Erkennung unsrer inneren Führung ist ein freies Geschenk Gottes, das er nach seinem Wohlgefallen nimmt oder gibt. Im Glauben liegt eine Gewissheit, die mehr Ruhe verleiht als alle Erkenntnis des Verstandes.
In unserm gesegneten Herrn und Heilande Jesus Christus geliebter Bruder!
Nein, mein lieber Bruder, wir vergessen einander nicht in und vor dem Herrn. Eine selbst geschlossene Freundschaft ist allen Zufällen und Veränderungen unterworfen; aber dies ist nicht der Fall mit der, die durch das Band der himmlischen Liebe geknüpft wird. Die Gemeinschaft des Geistes wird im Geiste unterhalten, obgleich die Beweise davon nicht immer äußerlich bemerkt werden, und je mehr wir in den Geist zurückgeführt und nach innen gebracht werden, desto wesentlicher wird diese Gemeinschaft; und Diejenigen, welche auf diese Art mit einander in diesem Leben bekannt werden und sich lieb haben, die erhalten auch gegenseitige Mitteilungen zu ihrer Erquickung, Stärkung und zur Verherrlichung des Herrn, der ein Gefallen hat an den Heiligen, so auf Erden sind.
Die Erkennung unsrer inwendigen Führung gibt oder nimmt der Herr nach seinem Wohlgefallen, und es ist ihm sehr angenehm, wenn es ihm nicht beliebt, sie zu geben, dass wir sie dann auch nicht nehmen wollen, sondern uns in seine Hände verlieren. Der Glaube ist der sicherste Führer; er hat hauptsächlich seinen Sitz im Herzensgrunde, und lässt uns ausgehen aus uns selbst und allen Dingen, um einzugehen in Gott und uns in jeder Hinsicht ihm zu unterwerfen; der Glaube hat für eine Seele, die recht einfältig geworden ist, eine Gewissheit in sich, die mehr beruhigt als alle Erkenntnis des Verstandes. Glücklich die Seele, der gelehrt wird, keine andere Gewissheit mit Unruhe zu verlangen, als die, welche der innige Glaube den Kindern der Gnade erteilt, und die, um so zu reden, dabei eingesunken bleibt und ihrer Führung ohne Gegenstreben folgt; eine solche Seele hat einen einfältigen, allgemeinen Eindruck, dass ihr wohl sei, der augenblicklich verschwindet, wenn sie Erkenntnisse sucht, die der Herr nicht gibt. Lass uns nur Gott dienen wie die Kindlein, und Alles wird gut gehen. Es ist sehr gut, dass der Herr uns ein Gefühl unsrer selbst gibt, wir sind eitel Schwachheit und Elend. Ich kann nicht glauben, dass Jemand sich selbst verlassen hat, der sich selbst nie gefühlt hat. Der süßeste Name des Herrn Jesu ist unsre Zuflucht und unser einziges Heil; in diesem geöffneten
Brunnen der Barmherzigkeit und Liebe finden wir Gott so innig, der uns vergönnt, darin wie Kindlein zu ihm einzugehen und uns ihm zu überlassen, obschon wir in unserm Innern solche elendige Wesen sind, wie wir sind. Herr, gib, dass wir dich dafür lieben und verherrlichen! Amen.
Ich grüße und umarme Euch Beide im Geiste. Lebt wohl im Herrn! durch dessen Gnade ich bleibe
Euer
treu verbundener schwacher Bruder.
Mülheim, den 7. Mai 1737.