Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Trost eines Freundes bei dem Verlust seiner Gattin.
In der teuren Gnade Jesu Christi herzlich geliebter Bruder!
Die Weisheit wird Dich bei dem schmerzlichen Verluste Deiner geliebten Ehefrau belehren, dass es gerade der Hauptzweck bei dieser und allen andern ähnlichen Führungen des HErrn ist, uns alles zu nehmen, und uns von allem zu entwöhnen, wie heilig und unschuldig es auch sein möge, damit er uns in eine Wüste und innerliche Einsamkeit führe, um darin desto freier und freundlicher zu unserm Herzen reden zu können. O, Einsamkeit voll göttlicher Verborgenheiten und Wunder! Wie wenig wirst du erkannt! Wie wenig Seelen verstehen, was es heißt, recht einsam mit Gott umzugehen! Wir nehmen eine Kreatur, ein Bild; wir nehmen uns selbst mit dahinein, und können darum nicht die Vertraulichkeit der göttlichen Liebe in ihrer ganzen Reinheit schmecken. Gott und Geist müssen allein sein und immer einsamer werden. Ach! dass doch alles abfallen möchte, was unserm Geist so vielfach anklebt und ihn umgibt, auf dass er in nackter Einfalt zu allen Zeiten wieder einen freien Eingang finde in das innerste Heiligtum! Höchst anbetungswürdig, wenn gleich oft schmerzlich, sind alle Wege des HErrn, auf denen Er seine sich ihm hingebenden Seelen wunderbar führt, um ihnen dann dieses, dann jenes, und endlich alles, worauf ihr Fuß sich stützen und woran ihre Hand sich festhalten will, zu entziehen, damit sie sich ganz Ihm überlassen, und alle ihre Hoffnung, ihr Vertrauen und ihre Liebe für immer in Ihm, dem wahren, einzigen, allgenügenden Gott, suchen. Derjenige, der auf diese Wege des HErrn zurückblickt, findet nichts als Wohlgefallen darin, und will gern auch für die Zukunft sich wie ein willenloses, blindes Kindlein körperlich und geistig der mütterlichen Hand seiner Vorsehung hingeben. Gewiss, Gott sorgt für uns; wir dürfen und wollen daher auch nicht in sein Amt greifen, aber wohl unsre Kinderpflicht treu in Acht nehmen. Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen (Sprichw. 23, 26). Amen, lieber Herr Gott!
Ich grüße und umarme Dich im Geiste der Liebe Jesu, in dem ich Dich innig dem HErrn empfehle, und bleibe Dein in Liebe verbundener schwacher Bruder.