Tersteegen, Gerhard - Briefe in Auswahl - Ohne eine beständige Verleugnung und ein fortwährendes Absterben unsrer selbst kann man im Christentum durchaus nicht fortschreiten.

Tersteegen, Gerhard - Briefe in Auswahl - Ohne eine beständige Verleugnung und ein fortwährendes Absterben unsrer selbst kann man im Christentum durchaus nicht fortschreiten.

In Jesu zärtlich geliebte Schwester!

O, dass doch die wenigen Tage des Lebens, die uns nach Gottes unerforschlicher Weisheit und Güte zu unsrer höchst notwendigen Heiligung noch vergönnt sind, nicht vergebens verstreichen mögen! Wer weiß wie nahe das Ende dieser Gnadenzeit vielleicht schon ist? Und doch haben wir den schmalen Weg der gründlichen Verleugnung kaum betreten; wann wird er doch zurückgelegt sein? Dieses muss nicht erst in der Ewigkeit, sondern hier schon in der Zeit durch die Gnade Gottes geschehen, ja notwendig geschehen, weil wir sonst das Angesicht Gottes nicht anschauen können. Ich kann es nicht kräftig genug ausdrücken, wie durchaus alles in uns absterben muss, nicht bloß die groben Sünden, sondern auch die verstecktesten Eigenheiten, wenn wir eine wahrhaftige Gemeinschaft mit Gott in unserm Herzensgrunde erlangen wollen. Schmiegen wir uns daher, liebe Freundin, willig in das zwar enge, aber doch sanfte Joch unsers Heilandes, durch die innigste und fortwährende Verleugnung all unsrer Lüste und Begierden, durch Zurückgezogenheit unsrer Sinne und Gedanken, durch eine wahrhaftige Unterwerfung unsres Eigenwillens unter Gott, aus Liebe zu dem so innig gegenwärtigen Gott bereitwillig und geduldig tragend alle Leiden, die uns von Stunde zu Stunde widerfahren werden. An diesem Wege der Verleugnung und Kreuzigung dürfen wir nicht vorbeigehen; die allergeringsten Dinge, die uns täglich in unserm häuslichen Leben und unter den Menschen begegnen, gehören mit dazu, und fördern uns oft weiter, als andre mehr in die Augen fallende. Ohne diese anhaltende Übung des Absterbens unsrer verdorbenen Lüste und Sinne, unsres Eigenwillens und all unsrer übrigen Eigenheiten lässt sich nichts im Christentume ausführen. Man findet sich nach Jahren als denselben Menschen wieder, der man vorher war, eben so unabgestorben, eben so fremd in Gott, ebenso unzufrieden mit sich selbst. Ach, dass uns dies die traurige Erfahrung hierin nur nicht zu oft lehrte! Möchten wir doch von nun an vorsichtiger verfahren, und uns nicht länger selbst im Wege stehen, sondern uns auf der Stelle, mit gebücktem Haupte und geschlossenen Augen mit Jesus in den Tod wagen! Wie herrlich würde dann das Leben Jesu in und an uns erscheinen! Ich wünsche Dir dazu viel guten Willen und göttliche Kraft von oben.

Ich bleibe

Dein
durch die Gnade verbundener Bruder.

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autoren/t/tersteegen/briefe_in_auswahl/tersteegen-briefe-32.txt · Zuletzt geändert: von aj
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