Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Je mehr die Gläubigen bei und in dem HErrn bleiben, der da ist das Haupt seines Leibes, desto fähiger sind sie, den Einfluss des Lebens und der Liebe sowohl von dem Haupte als von den andern Gliedern aufzunehmen und mitzuteilen.
Sehr geliebter Freund und Bruder!
Deinen lieben Brief habe ich zu rechter Zeit erhalten; es ist mir immer erfreulich, Nachricht von Deinem Wohlbefinden zu bekommen. Wir müssen ja Glieder eines göttlichen Leibes sein. Ach! dass wir einander doch als solche einigen wahren Nutzen und Segen erweisen und bringen könnten zur Stärkung und Förderung unsrer Seelen in dem HErrn, und zur Verherrlichung seiner Majestät in unserm Geiste! Soll dies geschehen, dann muss jedes Glied nach seinem Maß und seiner Lage innig bei dem Haupte bleiben, und ihm in Glauben und Liebe anhängen, auf dass unsre Gemeinschaft sei in dem Vater und seinem Sohne Jesus Christus. Suchen wir daher mit Innigkeit und vollem Willen bei und in dem HErrn zu bleiben, verschmähen wir außer Ihm jede Stütze, jedes Leben und lassen wir den ganzen Raum unsres Herzens in friedlicher Demut nur für Ihn offen, so gut wir können und vermögen, dann sind wir fähig, den Einfluss des Lebens und der Liebe sowohl unmittelbar von dem Haupte, als mittelbar von den übrigen Gliedern aufzunehmen, und wir werden dann immer weniger aus uns selbst schöpfen, was wir andern reichen. Es ist für die Erhaltung des Körpers notwendig, dass die Lebensgeister und das Blut unaufhörlich in Umlauf bleiben. Keinem Gliede gehört das Geringste davon zu; bliebe beides in einem Gliede verschlossen, so müsste es sterben; Empfangen und Wiedergeben aber erhält sein Leben. Ach! wie wenig wird heutzutage die herrliche Verbindung und Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi empfunden! bloß darum, weil man sich auf mehr, als auf eine Art, zu viel im äußern und zu wenig im innern geistigen Leben aufhält. Legte man sich mehr darauf, besser acht zu haben auf die tief verborgene Kraft der Liebe Gottes, die uns mit der größten Zärtlichkeit nach innen ruft, und uns zur Ertötung des eignen Lebens führen will, genügte man diesem Rufe mehr, welche Freiheit und welche Kraft würde nicht unser Geist allmählich erhalten, um nur durch den HErrn und vor dem HErrn zu leben, wie würde man immer mehr den großen und wahren Wert empfinden, der in der Gemeinschaft mit Gott und in der Gemeinschaft der Heiligen verborgen liegt! HErr, komme uns zu Hilfe!
Mein Vielgeliebter, Du bist alt, und ich bin schwach, wir haben alle beide Ursache, zu erwarten, dass wir bald diese fremde Welt verlassen. Nun, so lass uns dann durch die Gnade immer mehr wahre Fremdlinge in derselben werden; Lass uns fest und innig auf unsern Posten bleiben, dem HErrn nahe, und uns mit dem Geiste gleichsam verlieren in dem Ewigen, wo wir zu Hause sind; denn wahrlich, es ist uns heilsam, dem HErrn im Leben und Sterben nahe zu sein. Wir sind einander dann auch nahe im HErrn, bis dass wir für ewig eins werden in seiner Herrlichkeit. Er selbst bereite uns für dieses große Heil! Amen.
Ich empfehle mich zu diesem Zwecke Deinem Gebet und dem anderer lieben Freunde, die ich bei dieser Gelegenheit herzlich grüße, besonders Deine liebe Hausfrau und Deine lieben Kinder.
Dein
treu verbundener Freund und Bruder.
Mülheim, den 10. Dezember 1735.