Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Je näher man dem HErrn, unserm einzigen Ruhepunkte, kommt, desto einfältiger und einfacher wird man, da Gott die höchste und einzige Einheit ist.
Gott allein ist unsre Ruhe. In Ihm herzlich geliebter Bruder!
Ich fühle mich bewogen, mit dieser Gelegenheit auch einige Zeilen an Dich zu schreiben als Antwort auf Deinen mir so angenehmen Brief. Ich stimme ganz überein mit den Wahrheiten, die Du in demselben aussprichst, und mit der Stimmung Deines Gemüts, die sich darin zeigt. Der HErr sei gepriesen und verherrlicht für die innige und treue Leitung, die Er uns beweiset! Lass uns doch diesen guten Gott herzlich und rein lieben!
Gott ist die höchste und einzige Einheit. Darum brauchen wir uns nicht zu wundern, dass, wenn man sich ganz fahren lässt und sich Ihm ganz übergibt, man immer einfältiger und einfacher wird, je näher man Ihm, unserm einzigen Ruhepunkt, kommt. Alles Vielfache, Körperliche und Geistige wird dann beschwerlich; es muss alles abfallen, soll der Geist gehörigen Raum behalten; man kann nicht mehr wie früher denken und überlegen, oder mit der Vernunft tätig sein; man kann keine Regel und Vorschrift mehr in Acht nehmen, als nur die, alle Regeln zu vergessen; man kann nicht mehr so viel sprechen, weil man mit einem Wort große Dinge, ja alles zu sagen scheint; alle Religionsübungen schmelzen gleichsam in eine Übung zusammen, die alles umfasst, und in der man ohne Wiederholung oder Veränderung Stunden und Tage lang ausdauern kann; alles ist gut, alles ist neu, und so wie es in der Ewigkeit kein Gestern, kein Morgen, sondern nur immer ein Heute gibt, so vermag auch eine Seele, die Gott innig nahe gekommen ist, nicht mehr zurück und voraus zu denken. Es ist als ob man einen Augenblick erlebte, der ewig dauert; man kann sich und seine Angelegenheiten, sowohl körperliche als geistige, nicht mehr nach seiner eigenen Weisheit regieren, anordnen oder leiten, sondern man muss sich hingeben; mit einem Worte: man muss ein kleines Kindlein werden und bleiben. Ein Kind lebt nur dann eigentlich, wenn es sich ganz der Mutter überlässt; und das meint der Apostel, wenn er sagt: Ich lebe: doch nun nicht ich! denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes (Gal. 2,20). Glücklich derjenige, dessen Geist durch die innige Liebe und Gegenwart Gottes getroffen und angezogen, sich ganz ohne Widerstreben von dieser vereinigenden Kraft, so zu sagen, wegschleppen lässt! Er gleicht einem Bache, der, zum Ozean wallend, seinen gehörigen Fall erlangt hat; er fließt so sanft über den Sand dahin, dass man seinen Fluss kaum bemerkt; und doch strömt er unaufhaltsam durch seinen Trieb immer hinunter nach seinem Ziele. Zwar befeuchtet er wohl im Vorüberfließen hin und wieder eine dürre Weide, oder gibt einer Mühle ihren Gang, oder führt ein Schiffchen mit zum Besten anderer; aber die hinabtreibende Kraft behält immer die Oberhand! Seine Gewässer fließen bald wieder aus allen ihren Ableitungen und verschiedenen Armen zusammen, und sein Lauf geht unausgesetzt zum Ozean hin, in den er sich verlieren will; denn eine Seele, die nur einigermaßen tatsächlich die göttliche Einwirkung bis auf den Grund erfahren hat, weiß sicher und gewiss, dass sie ihr Element nur in Gott und im gänzlichen Hingeben an seine Wirkung finden kann. Will sie durch sich selbst tätig sein, will sie aus sich selbst Licht oder Unterscheidung durch den Verstand suchen, und dabei stehen bleiben, lässt sie sich nicht befriedigen durch das dunkle allgemeine Licht des Glaubens in ihrem Geist, - gleich verfällt sie in Zweifel und Unruhe und gerät in die Enge und fühlt, dass sie wieder aus sich selbst heraustreten muss, um wieder in ihr Element zu gelangen, was sie nur im bloßen Anhängen an Gott im Geiste finden kann. Ach! wie dürr und verwerflich wird dann alles andere, was man außer diesem Einen betrachtet, verrichtet oder empfängt! HErr! bleibe Du allein und ewig unser allgenugsamer Gegenstand! Amen.
Es ist wahr, Lieber, dass mein äußeres Leben und Handeln sehr verschieden von dem Deinigen ist, obgleich wir in dem Einen vereinigt sind; aber warte nur, ob nicht Dein Bächlein auch seinen Kahn zu tragen erhält; mir däucht, ich sehe es schon. Doch es wird in dem HErrn und dessen Wohlgefallen alles gut gehen; wir gehören nicht uns an, sondern dem HErrn, in dem wir uns in der gegenwärtigen Zeit nur innig still und friedlich erhalten müssen. Was mich betrifft, so gestehe ich, dass ich ganz anders leben würde, wenn ich die Wahl hätte; ich muss reden, schreiben, mit Menschen umgehen und möchte gern nach meinem Wunsche beinahe immer schweigen, mich verbergen und nur an Gott denken; doch ich darf nicht auf diesen Gegenstand kommen, wenn ich nicht verwirrt werden will. Am besten ist es, dass ich mich geduldig mit Gottes Vorsehung vereinige, und in diesem Leben arbeite, so gut ich kann und so gut es gehen will, ohne zurück oder vorwärts zu schauen, die Augen innig auf den HErrn und seinen Ruf haltend. Indessen wünsche ich darin täglich reiner und fester zu werden, und dazu, werter Bruder, komme mir Dein inniges Gebet zum HErrn zu Hilfe, darum bitte ich Dich herzlich. Friede sei mit und in Dir, lieber Bruder!
Dein
in dem HErrn verbundener Bruder.