Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl -An einen Freund, der über das Äußere des Gottesdienstes einige Zweifel hegte.

Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl -An einen Freund, der über das Äußere des Gottesdienstes einige Zweifel hegte.

Der Herr Jesus sage zu deiner Seele: Friede sei mit Dir! In Ihm vielgeliebter Freund und Bruder!

Ich kann nicht unterlassen, Deinen letzten Brief vom 16. November zu beantworten, weil mir die Ruhe und das Fortschreiten Deiner Seele nicht gleichgültig sind; aber da kein Mensch über das Gewissen eines andern herrschen soll, so erwarte von mir nichts anderes, als dass ich Dir einfach meine Gedanken über die Sache, welche Dir Anstoß verursacht, mitteile, indem Du sie insoweit annehmen und befolgen magst, als Dein Gemüt sich dadurch vor dem HErrn beruhigen kann.

Ich will, mein Lieber, den äußern Gottesdienst in nichts weder verachten noch verwerfen. Ich glaube selbst, dass einige Wohlmeinende darin zu weit gegangen sind. Das Äußere, mäßig und gehörig angewandt, ist vor dem HErrn angenehm und ersprießlich; doch ist dieses nicht an und für sich selbst Gott angenehm, sondern insofern es als ein Mittel in das Innere führt, oder als eine Frucht daraus entspringt. Welchen Nutzen stiftet ein Geist ohne Körper? Nur in dieser und in keiner andern Hinsicht konnte uns der Herr Jesus einige äußere Dienste anbefehlen, aber er wollte uns kein Gesetz von Feierlichkeiten geben, von deren Beobachtung oder Unterlassung die Ruhe unsres Gewissens abhängen sollte. Er tadelt es sehr, wenn ein Bruder den andern um etwas, das bloß äußerlich ist, beunruhigt oder betrübt; um so weniger also wird Er dies selbst tun wollen. Unsre Gerechtigkeit und Seelenruhe ist Jesus allein. Wir verrichten oder versäumen das Äußere, eins so wohl wie das andere muss dem HErrn geschehen mit einer kindlichen Freiheit, ohne im Tun uns beruhigen oder im Nichttun uns beunruhigen zu wollen; denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Wer darinnen Christo dient, ist Gott gefällig (Röm. 14,17.18); darum können wir ganz ruhig in unserm Gewissen sein. Dies vorausgesetzt, so merke auch noch darauf, mein Freund, dass man die befehlenden und verbietenden Gesetze der Schrift, d. h. was uns geboten und verboten wird, auf eine ganz verschiedene Art ansehen und erfüllen muss. Die Verbote sind bestimmt und ohne Ausnahme, aber die Gebote, insofern sie in äußern Handlungen bestehen, sind es nicht, weil man immer die Bedingung hinzufügen muss: ob man im Stande ist und die Gelegenheit hat, sie zu verrichten und gut zu verrichten. z. B. stehlen, Rache üben, verleumden usw. ist verboten; so etwas darf man nie tun. Fasten, Almosen geben, Gastfreiheit üben und dergleichen mehr sind Gebote, die man nicht immer erfüllen kann, bei deren Nichterfüllung aber man durchaus keiner Übertretung schuldig wird. Und von diesem Gesichtspunkt aus muss man alle äußern gottesdienstlichen Pflichten betrachten, deren Nichtbeobachtung eben so wenig, wenn nicht noch weniger unser Gewissen beschwert, als die Unterlassung verschiedener Tugenden, wenn wir keine Mittel oder Gelegenheit haben, um sie nach Gottes Willen und Absicht auszuüben.

Wäre ich nicht getauft, dann glaube ich, dass ich mich noch würde taufen lassen, aus Gehorsam und Ehrfurcht für das Gebot Jesu, nicht aber aus dem Glauben, als würde ich dadurch gerechtfertigt oder beruhigt in meinem Gewissen vor Gott.

Im Gegenteil ich würde mich vielleicht nicht taufen lassen von jemanden oder von solchen die mich in einem Stricke fangen wollten, als ob meine Seligkeit von der Erfüllung eines äußerlichen Gebotes abhinge; denn ich glaube, dass ich, mit Jesus vereinigt, eben so ruhig sterben würde, wenn ich auch keine Gelegenheit gefunden hätte, mich taufen zu lassen; aber wenn eine solche sich bietet, würde ich es aus angeführtem Grunde bereitwillig tun lassen, und mich freuen, auch auf eine öffentliche und feierliche Weise bezeugen zu können, dass ich dem HErrn angehöre.

Eben so denke ich auch über das Abendmahl und die Versammlungen der Frommen, d. h. ich bin geneigt, mich beider in christlicher Freiheit zu bedienen, wenn ich Gelegenheit finde, es zu tun und gut zu tun; aber da diese Dinge mit andern Menschen in Verbindung stehen, auch öfter wiederholt werden können, so kann man in diesen Sachen mehr Bedenken haben. So viel ich weiß, kann man sich heutzutage keiner Versammlung anschließen und das Abendmahl nach den üblichen Gebräuchen nehmen, ohne sich nicht zugleich nicht mit Frommen, - denn diese sind in allen Zusammenkünften selten - sondern mit einer ganzen Menge weltlich gesinnter Menschen zu vereinigen, was mich verhindern würde, den beabsichtigten Zweck zu erreichen, und Grund zur Befürchtung gebe, ob man nicht beruhigter sein würde, wenn man die Sache lieber unterließe, statt sie unzweckmäßig zu verrichten. Ich will hier nicht einmal das große Übel in Anschlag bringen, dass man sich durch dieses Anschließen an den gemischten Haufen einer besondern Versammlung, ohne dass man es oft weiß und will, in seinem Gemüt trennt und losreißt von der Liebe und Gemeinschaft so vieler Frommen, die nicht zu dieser Versammlung gehören, worin ich die traurige Erfahrung bei vielen gemacht habe, die zuvor ernstlich in der Liebe wandelten.

Ganz etwas anderes ist es aber, wenn jemand noch zu dieser oder jener Vereinigung gehört; ein solcher bleibe darin, so lange er noch Nahrung für seine Seele und Ruhe für sein Gewissen dabei findet. Gott ist an keinen Ort gebunden; er hat und hält die Seinigen überall.

Was nun das Abendmahl besonders betrifft, so ist dieses vom Herrn Jesus ganz einfach angeordnet zur heiligen Stärkung und Erquickung in seiner Liebe und in der Liebe untereinander. Er will sich uns und wir sollen uns einander mitteilen in jeder Hinsicht. Darum hielten die ersten Christen alles gemeinschaftlich. Sie aßen und tranken zusammen hier und da in den Häusern; nach dem Essen brach man das Brot in der Liebe, ohne irgend eine Vorschrift oder Feierlichkeit. Ich weiß nicht, ob noch irgendwo eine Gemeinde besteht, bei der es mit dieser uralten Einfachheit und Freiheit vor sich geht. Man macht jetzt ein Gebot, ein Zwang- und Zwistmahl daraus, da es doch nur ein Liebesmahl sein sollte. Ich tadle nicht alle Abänderungen, die darin gemacht worden sind; da die Zeiten und Menschen sich änderten, mussten auch viele Gebräuche verändert werden, was Gott auch oft billigt, wenn nur alles Äußerliche in der erforderlichen guten Stimmung des Herzens und zur Beförderung der Liebe und Gottseligkeit behandelt wird. Der Herr Jesus hat uns durch die Einsehung dieses Liebesmahls nicht ängstigen sondern erquicken wollen, ohne durch ein gesetzliches Joch unsre Gewissensruhe oder Geistesfreiheit zu stören; sonst müsste man ja das Fußwaschen, was doch keine christliche Gemeinschaft ausübt, weit strenger beobachten, weil es vom Herrn Jesus viel bestimmter vorgeschrieben worden ist, als das Abendmahl selbst. Der HErr hat nicht gesagt wie oft noch mit wie vielen man Versammlung und Abendmahl halten soll, auch nicht, welche Feierlichkeiten dabei zu beobachten sind. Wer verhindert uns also, mein Lieber, an einer Versammlung mit den Frommen? Zwei oder drei machen eine volle Versammlung aus, in deren Mitte zu zu sein der HErr versprochen hat. Du bist mit Deiner Frau einig, dem HErrn zu folgen und vor Ihm zu leben; ist denn nun Dein Haus keine Versammlung? Oft hast Du noch Gesellschaft von andern Freunden bei Dir, die, mit Dir vollkommen eins gesinnt, nach dem HErrn verlangen! Seid Ihr dann nicht eine Versammlung, wenn auch nicht immer viel darin gesprochen und gepredigt wird? Ich versichere Dir, dass ich viel lieber in Eurer Mitte zu sitzen wünsche, als auf irgend einem andern Platze unter Tausenden. Und wenn wir zwei oder drei, die nach dem HErrn eins sind, nun einmal auch zusammen äßen mit gutem Herzen und guter Absicht, um uns an die Liebe Jesu zu erinnern und uns aufzuwecken, Ihn und einander zu lieben, ja mit einer solchen Gesinnung uns ganz Jesu und ganz einander mitzuteilen bis auf das letzte Stückchen Brot, sollte das in Deinen Augen kein Abendmahl sein? Und was denkst Du, dass daran fehlen könnte? Ich wüsste nichts und kann auch nicht glauben, dass es dem HErrn minder behagen sollte, weil es in keiner großen Kirche mit ich weiß nicht welchen Feierlichkeiten begangen würde, obgleich ich diesem seinen Wert nicht abspreche. Was hindert Dich also, mein Freund, das Abendmahl zu genießen? Tue es nur recht oft, und ich will mich gern im Geiste mit Euch daran setzen.

Lass uns ferner, mein Lieber, nie vergessen: dass der Mensch durch des Gesetzes Werk nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum (Gal. 2,16; Phil. 3,9). Wir tun wohl, wenn wir die äußern Mittel als Mittel brauchen, und nach Zeit und Umständen die Pflichten des äußern Gottesdienstes ausüben, wenn wir nur dabei glauben: dass Der, der da solchen Gottesdienst verrichtet, dadurch nicht vollkommen gemacht werden kann nach dem Gewissen (Ebr. 9,9). Ja, selbst durch alle Treue am Gewissen, die doch sehr notwendig ist, wird niemand zu einer festen Gewissensruhe und zum Frieden mit Gott gelangen. Wenn eine Seele mit aller Treue ihr Möglichstes getan und erfahren hat, was im 7. Kap. des Briefes an die Römer geschrieben steht, dann ist das Ende: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen? Will sie von allen Gewissensqualen erlöst werden, dann muss sie nackt, arm und ohnmächtig sich selbst entsinken und in Jesus Christus eingehen durch den innigen Glauben und so ist Jesus Christus das Gesetz. So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste (Röm. 8,1). Und dieses ist der wahre Grund von und die wahre Einführung zu einem innern und wahrlich christlichen Leben.

Und eine Seele, die zu diesem innern Leben, zu diesem Leben nach dem Geiste berufen ist, und die Empfänglichkeit dazu in ihrem Grunde gefunden hat, die muss diesem Einen sehr treu bleiben, sich allein diesem innigen Rufe überlassen, ohne wieder zum Gesetz zurückkehren zu wollen; denn sie steht unter der Gnade und dem Gesetze von Jesus Christus. Eben so wenig soll sie sich der Leitung eines beunruhigten und zweifelnden Gewissens überlassen, um diesem, zumal durch irgend ein äußeres oder eigenes Werk zu genügen, da sie alle ihre Gerechtigkeit und Ruhe allein von dem innigen Glauben an und Bleiben in Jesus erwarten und erlangen muss. Ich bitte Dich, merke wohl auf: Wenn eine zur Innigkeit berufene Seele in Dunkelheit, Dürre oder Leiden gerät, oder etwas in Zerstreuung verfällt, dann fühlt sie wohl im allgemeinen, dass sie nicht an ihrem Plage ist; sie fühlt sich entfremdet, und es ist nicht so, wie es zu sein pflegte, und dieses macht sie oft sehr verlegen; nun glaubt sie einmal, es werde durch dieses, ein andermal wieder, es es werde durch jenes verursacht, obschon sie in nichts Sicherheit erlangt! denn wenn eine besondere Untreue stattfindet, ist nicht viel zu suchen und zu zweifeln; man muss sich dann nur demütigen und wieder umkehren. Die Seele nun, wenn sie auf sich selbst steht, verfällt wieder unter die Züchtigungen und Beunruhigungen ihres Gewissens; sie wirft sich mit ihrem Gemüt auf allerhand Veränderungen, Vornehmen und Handlungen: dann will sie sich durch diese, dann durch jene eigenen Übungen oder äußerlichen Dinge helfen, aber alles vergebens; will sie eine feste und sichere Ruhe ihres Gemüts wiederfinden, muss sie wieder in Jesus einsinken, der allein in ihr die Erfüllung des Gesetzes sein muss, welches auch geschieht, wenn die Seele nur mit etwas Geduld und mit stiller Erwartung vor dem HErrn ihr Leiden trägt; dann wird sie durch dieses stille Erwarten, durch das fachte Hinsinken und friedliche Leiden allgemach wieder auf ihren Platz kommen und Frieden finden mit Gott durch Jesus Christus, während viele, wenn sie dieses verfehlen, in der Irre umherlaufen und sich dadurch viele unnötige Qualen verursachen. So lass denn unsre vornehmste Sorge sein, dass wir durch den wahren Glauben in Jesus bleiben und in Ihm festwurzeln, auf dass Er unser Leben und unser Friede werde, dann werden wir auch, so in dem Geiste lebend, unfehlbar die Früchte des Geistes hervorbringen, wie sie aufgezählt sind Gal. 5, 22. Wider Solche ist das Gesetz nicht (Gal. 5,23).

Ich dachte nur wenige Zeilen als Antwort zu schreiben und es ist unerwartet so viel geworden, und doch vielleicht noch etwas undeutlich wegen meines schwachen Kopfes. Nimm es an in Liebe so wie es ist; angenehm soll es mir sein, wenn Du etwas Belehrendes oder Nützliches darin findest. Ich grüße Dich und Deine liebe Frau in der Liebe des HErrn, der Euch segnen möge. Ich bin durch die Gnade

Dein Dich liebender Freund und Bruder.

Mülheim, den 18. Dezember 1736.

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