Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl -Über den Lobgesang der Engel: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
In dem HErrn sehr herzlich geliebte Schwester!
Indem ich mich hinsetze, Dir einen Gruß zu schreiben, fällt mir dieser Lobgesang der Engel mit so viel Nachdruck auf das Gemüt, dass mein Herz und meine Hand dieses große Wort recht innig wiederholen mussten: Ehre sei Gott in der Höhe! Diejenigen, welche das Glück haben, diesen großen Gott durch innige Mitteilung nur etwas zu kennen, können wohl nichts anderes, als eine Übereinstimmung, eine Sympathie und einen vollkommenen Genuss in dem finden, was sie von Engeln oder guten Menschen über den ihnen so teuren, so geliebten Gegenstand sagen hören, und was ihr Geist selbst unaufhörlich spricht oder sagen will. Dieses durch die Anregung des HErrn in stiller und liebender Ehrfurcht zu sagen, ist ihre Seligkeit und wird es durch die ganze Ewigkeit hin sein. Die Anbetung, die Ehre, die Herrlichkeit ihres Gottes ist das Ziel ihrer Erschaffung, und darum auch der Atem, das Leben, die Lust und der Ruhm ihres Geistes; solches fühlen sie. Vor andern Göttern ihre Knie zu beugen, sich selbst und die Kreatur zu achten, zu lieben, auf sich selbst zurückzukehren, o wie elend, peinlich und höchst unwürdig finden sie solches! Alles, was in ihnen ist, muss nur allein diesem Gott zugewendet sein: das ist ihre Ruhe, ihr Glück, ihr Gefühl. Und sie selbst und alle Kreatur im Himmel und auf Erden sollten allein nur diesem Gott leben, Ihn anbeten und verherrlichen; das ist das Ziel ihrer höchsten Wünsche. Und muss eine so gestimmte Seele, wenn sie steht, dass ihrem Gott auf Erden leider noch so wenig von der Ehre gegeben wird, die Ihm so unendlich gebührt, sich wenigstens nicht innig freuen und darin mit einstimmen, dass Er eine Welt voll Engel und seliger Geister hat, die Ihm Nacht und Tag mit Wahrheit zurufen: Ehre sei Gott in der Höhe!
Mir dünkt, liebe Schwester, die Engel laden uns ein, um dieses große Wort mitzusingen in unserer Höhe, d. h. im Geiste oder dem erhabensten Teile von uns, erwartend, dass durch die Geburt Jesu Christi in uns es auch Friede auf unsrer Erde, d. h. in unserm niederen (sinnlichen) Teile werde; ja, dass durch diesen Einfluss und diese Verbreitung seines göttlichen Lebens der Einfalt Gott wiederum seine Lust bei uns Menschenkindern finden möge (Sprichw. 8,30.31), und wir unser Wohlgefallen an Ihm allein! Niemand ist gut, als Gott allein, darum hat Gott auch Wohlgefallen an sich selbst, d. h. an seinem Sohne (Matth. 3,17), und an jedem, in welchem das Leben seines Sohnes gefunden wird. Dieses Leben hat Er uns durch seine Menschwerdung gebracht, um es allen denen mitzuteilen, die an Ihn glauben. Und darum, wenn uns die Engel erwecken, um unsern Gott zu verherrlichen durch ihren Gesang, dann zeigt uns sicherlich das Kind Jesus durch seinen Stand und seine Gestalt in der Krippe, wie Gott in der Tat verherrlicht werden soll, nämlich durch unsre Vernichtung, Entblößung, Niedrigkeit (Phil. 2,7,8), Abhängigkeit, Einfalt, mit einem Worte: durch unser gänzliches Umwenden und Werden wie die Kindlein. „O Gottkind Jesus, erfülle dies in uns! Hast Du keinen Platz in der Herberge, so mache Dir Platz in unsern Herzen! Du hast alle Hoheit niedergelegt, die Dir gebührte und bist aus einem Könige der Engel ein Wurm geworden, um uns Würmer wieder zu Engeln zu machen, die, erleuchtet von oben, unsern Gott sollen kennen lernen, Ihn anbeten und Ehre geben in der Höhe. Lass dies mit vollem Maße und für ewig in uns geschehen! Aber soll sich diese Freude denn nicht endlich einmal über alle Völker ausbreiten? Soll es nicht einmal Friede werden auf Erden, wo innen und außen alles voller Verwirrung und Unruhe ist? Wirst Du nicht einmal wieder Lust haben bei den Menschenkindern, die jetzt im allgemeinen so entartet sind, dass man weder Dein Bild noch fast selbst die Menschlichkeit in ihnen erkennen kann? O, erleuchte uns und viele Tausende von Herzen mit der Klarheit des HErrn (Luk. 2,9), damit Deine Herrlichkeit erkannt werde, und alle Herzen einmal auf Erden das große Wort ausrufen mögen: Ehre sei Gott in der Höhe!“ Amen, Amen.
Ich grüße und umarme Dich im Geiste der Liebe Jesu, in der ich bleibe
Dein schwacher in Liebe verbundener Bruder.
Mülheim, den 29. Dezember 1747.