Taube, Emil Heinrich - Psalm 128.
War der Inhalt des 127. Psalms die Grundwahrheit: „An Gottes Segen ist Alles gelegen!“ so weist der 128. Psalm auf die Grundbedingung zur Erlangung dieses Segens, auf die Furcht Gottes hin. Der vorliegende Psalm bildet also zu dem vorangehenden 127. Psalm, welcher die göttliche Gnade als das Faktum von oben her gegenüber dem fixierten menschlichen Eigenwirken darstellt, das notwendige Gegenstück, indem er das berechtigte und pflichtmäßige Verhalten des Menschen, seinen Schrankenlauf innerhalb der göttlichen Gnadenordnung akzentuiert. Alles, was dort dem eigenmächtigen menschlichen Bauen und Arbeiten versagt werden musste, wird hier dem gottesfürchtigen Manne im Lichte des reichsten göttlichen Segens wieder zugesprochen - eitel Wohlergehen im Amt, Haus und Herzen, das liebliche Los einer gottgesegneten Familie! Luther nennt den Psalm „ein schönes Brautkleid des heiligen Geistes, gestellt für alle gottesfürchtigen, frommen Eheleute.“ Der strophischen Abteilung nach zerfällt das Lied in zwei Vierzeiler und einen Siebenzeiler. Andere teilen in 1, 2, 1, 2 Verse und betonen die Anrede in den je zwei Versen.
V. 1. Ein Wallfahrtslied. Wohl jedem, der den Herrn fürchtet, der auf Seinen Wegen geht. V. 2. Die Arbeit deiner Hände, ja du wirst sie essen; wohl dir, du hast es gut. V. 3. Dein Weib ist ein fruchtbarer Weinstock im Innern deines Hauses, deine Kinder wie Setzlinge von Oliven rings um deinen Tisch. V. 4. Siehe, also wird gesegnet der Mann, der den Herrn fürchtet. V. 5. Es segne dich der Herr aus Zion, und schaue das Glück Jerusalems alle Tage deines Lebens. V. 6. Und schaue deiner Kinder Kinder. Friede über Israel.
Wenn der vorige Psalm mit kühnem Volldruck den Schwerpunkt auf die göttliche Gnadengabe legt und Gottes freie Macht zu segnen in dem Worte zuspitzt: „Er gibt Seinem Lieblinge im Schlafe“ (127, 2), so stellt sich dieser ewigen Wahrheit, damit sie recht verstanden und selbst von dem leisesten Schein willkürlicher Parteilichkeit frei bleibe, schon mit den ersten Worten dieses Psalms die andre Wahrheit zur Seite: Jeder kann Gottes Gnadengabe haben, Jeder kann Gottes Liebling werden, der den Herrn fürchtet. „Die Furcht des Herrn“ ist einer jener zentralen Grundbegriffe des Alten Testaments, in welchem das gesamte Verhalten und zwar das Wohlverhalten des Menschen Gott gegenüber zusammengefasst ist. Ganz dem Charakter beider Testamente entsprechend, drückt dies das Alte Testament mit „Gottesfurcht“, das Neue Testament mit „Gottseligkeit“ aus, und ebenso ist es dem beiderseitigen Charakter gemäß, dass sich die darauf ruhende Verheißung im Alten Testament überwiegend auf das Gebiet der Diesseitigkeit beschränkt, im Neuen Testament besonders auf das des zukünftigen Lebens erstreckt, ohne dass jenes ganz außer Sicht bleibt. (Vergl. 1. Tim. 4, 8.)
Das Maß der Offenbarung Gottes von sich selbst bestimmt die Stellung der Menschen zu Ihm im Alten und Neuen Bunde; schlägt in ersterem die unverletzliche Majestät und Heiligkeit vor, wiewohl schon temperiert durch liebliche Strahlen der Gnade und Wahrheit des Herrn, so bezeichnet die Furcht Gottes einen Herzensstand, in welchem sich heilige Scheu mit kindlicher Ehrerbietung, Achtsamkeit auf Gottes Gebote und Wege mit aufrichtigem Gehorsam gegen alle Seinen Willen paart. Ein gottesfürchtiger Mensch hat nicht bloß Gott vor Augen und im Herzen, sondern wandelt auch vor Ihm in Seinen Wegen, wie das V. 1 ausdrücklich bezeugt. Der Wandel in Gottes Wegen aber schließt die fortgehende Verleugnung der eignen Wege, und alles Eigenwirkens in sich, denn der Gottesfürchtige will dem Herrn nie die Ehre Seines Namens an sich schuldig bleiben. Wer so den Herrn fürchtet, dem gibt Er sich zu lieben, den wählt Er zum Freunde, den umfäht Seine Gnade und Gunst, dem fällt das Los aufs Liebliche. Davon zeugt nun das Lied im Bereiche des Hauslebens; die Gottesfurcht ist die Wurzel jeglichen Gedeihens. Zunächst in Betreff des Berufslebens: „die Arbeit deiner Hände, ja du wirst sie essen; wohl dir, du hast es gut.“ (V. 2.) Man achte zuerst darauf, dass nunmehr die Rede in eine Anrede an den gottesfürchtigen Mann übergeht; das will anzeigen, dass ihm alles das, was nun folgt, als eine Segensgabe von oben zugeteilt und in den Schoß geworfen wird vorab der Arbeitssegen. Sagte der 127. Psalm, dass die auf sich selbst gestellte, ohne Gott und Gebet getane Arbeit es gar nicht tue, ob man auch frühe aufstehe und bis in die Nacht sitzen bleibe, so stellt dieser Psalm die Arbeit des Gottesfürchtigen als eine die Bürgschaft des Gedeihens in sich tragende, als eine gottgesegnete hin. Ist jene ein verdrießlich Tagelöhnern, so ist dieses ein heiteres, fröhliches Schaffen und Wirken mit süßer Genüge; legt jene ihren Verdienst in einen löchrichten Beutel (Hagg. 1,6), so legt diese ihn in Gottes segnende Hand; schöpft jene aus einer Hagars-Flasche, die bald leer war (1. Mos. 21, 15), so schöpft diese aus dem Brünnlein Gottes, das Wassers die Fülle hat. (Ps. 65, 10.) Kurz für den, der den Herrn fürchtet, wandelt sich das Fluchlos der Arbeit allüberall in ein Segenslos, das die Überschrift trägt: „wohl dir, du hast es gut.“ Darunter zählt vor Allem der Segen des Familienlebens; denn die Krone und Würze des Berufssegens ist für den Hausvater die Rückkehr in den Liebeskreis derer, für die er sich's so gern sauer werden lässt. Da ist es nun ein gar liebliches Bild, welches der Heilige Geist von Weib und Kindern in einem gottesfürchtigen Hausleben entwirft: „dein Weib ist ein fruchtbarer Weinstock im Innern deines Hauses, deine Kinder wie die Setzlinge von Oliven rings um deinen Tisch.“ (V. 3.) Weinstock und Ölbaum, nach Gehalt und Gestalt die edelsten Gewächse im Gottesgarten des Schöpfungshaushalts, sind hier als Symbole reichhaltiger Fruchtbarkeit und üppigen Segens herbeigezogen. Das fromme liebe Weib ist verglichen dem Weinstock, welch' ein vielseitiges, sprechendes Bild! Zart und weich, wie sein Holz, ist des Weibes Art und Natur; bieg und schmiegsam bedarf dieses, wie jenes, eines starken Haltes, an dem es empor- und herumrankt. Denke dabei an die Ribbe, aus der es geschaffen, und an ihren köstlichen Amtsnamen: „Gehilfin, die um ihn sei!“ (1. Mos. 2, 18. 21. 22.) Aber das Köstlichste am Weinstock sind ja die süßen Trauben, die dieses schwache Reis hervorbringt, und das Köstlichste am Weibe ist dies, dass sie das Herzblatt im Hause ist, weil sie das Herzblut hingibt für die Ihrigen, nicht nur buchstäblich als fröhliche Kindermutter, sondern mit eben so viel Wahrheit in ihrer reichen Opferliebe, in ihrer rastlosen Muttertreue bis in den Tod. Den Trauben des Weinstocks ist an edler Kost und süßem Labsal nichts zu vergleichen im Naturleben wohl aber im Geistesleben eines holdseligen Weibes, Gatten- und Mutterliebe! Die Worte: „im Innern deines Hauses“ sind ein schöner Fingerzeig auf die Sphäre ihrer Wirksamkeit, auf eines echten Weibes liebsten Platz, auf des ganzen Hauses Lust- und Freudenborn. Jene Ehefrau, die auf ihren Ring die Worte stechen ließ:“Bene parere, parere, parare det mihi Deus“ („Wohl zu gebären, zu gehorchen, hauszuhalten, das gebe mir Gott“) war ein solches Weib. Die Kinder eines solchen Hauses aber vergleicht der heilige Geist mit „Setzlingen von Oliven“, also nicht nur mit Ölzweigen am Baume, sondern mit Absenkern, die bereits ein selbstständiges Leben und Wachstum haben und doch die ganze Art und Natur des Stamm-Baumes wiederspiegeln. Wenn schon der Ölbaum an und für sich mit seinem kostbaren Holze und immergrünen, auf der Kehrseite silberfarbigen Laube ein erquickendes Bild der Schönheit und Lebensfülle ist, welch' ein lachendes Bild der jugendlichen Lebensfrische tritt uns dann in den jungen Ölbäumchen entgegen, denen die Kinder in einem frommen Hause verglichen werden! Hoffnungsreich aufquellend im Segen Gottes entfalten sie sich zu der Eltern Lust und Freude im behäbigsten Gedeihen. Sehr bezeichnend werden sie hier vom heiligen Geiste als um den Tisch herum“ sitzend vorgeführt, um nicht nur ihre reiche Zahl, sondern ihren muntern segensreichen Appetit, ihre frische Lebenslust anzudeuten. Jener arme Schuhflicker verstand das Geheimnis des göttlichen Segens, als ihm zu vielen Kindern noch eins geboren wurde und er sein betrübtes Weib mit den Worten tröstete: „Lat et sin; gift God dat Häseken, gift he of dat Gräseken!“ ebenso wie Luther treffend sagt: „Wir alten Narren essen mit den Kindern, nicht sie mit uns!“ Auf dieses liebliche Bild des Familienlebens weist der heilige Geist, um Sein eigenes Wohlgefallen daran zu bezeugen und die Menschenkinder zu diesem Kleinod der irdischen Wallfahrt hinzulocken, noch einmal mit dem herzweckenden: „Siehe“ hin! „Siehe, also wird gesegnet der Mann, der den Herrn fürchtet.“ (V. 4.) Er will damit ausdrücken: Dieses wonnereiche Hausglück ist kein leerer Traum, sondern volle, bare Wirklichkeit; wer den Herrn fürchtet, dem wird es gewiss und wahrhaftig zu Teil. Und zum Zeichen, dass es so sei, wird der Gottesfürchtige in V. 5 und 7 geradezu aufgefordert unter innigen Segenswünschen, das selige Los zu ergreifen, das Gottes Liebe ihm bescheren will. Es ist das: „Komm und siehe!“ des Neuen Testaments. In Zion hat Israel die Brunnenkammer alles göttlichen Segens, also auch dieses Segens, und der einzelne Israelit partizipiert ebenso wahrhaftig an dem Gesamtwohl Jerusalems, als er mit dem seinigen dazu beiträgt. Von der Kinderstube aus wird die Welt regiert, wie auch das Reich Gottes gebaut. Wenn sich aber dieser vollwichtige Segen hier unter dem Schirmdach des Alten Bundes noch innerhalb des diesseitigen Lebens bewegt, so sieht man doch schon an dem letzten Ausläufer des göttlichen Segens, der sich auf die ganze Lebenslänge, ja auf das geschaute Wohl der Kindesfinder erstreckt, wie der Geist für die Segensweite die Zeltpflöcke immer weiter stecken muss und den Saum der Ewigkeit so nahe berührt. Der da heißt schauen das Glück Jerusalems, der verheißt auch damit ahnungsreich: „Du wirst noch Größeres denn das sehen!“ Dem Warten des Gerechten ist unter beiden Testamenten ein weites, hohes Ziel gesteckt, aber es wird da leicht gemacht, wo es zur Zeit schon gilt: „Wohl dir, du hast es gut“ und das schönste Segensgeläut ertönt: Friede über Israel!“