Steinberger, Georg - Komm zum Kreuz!

Steinberger, Georg - Komm zum Kreuz!

Komm zum Kreuz mit Deinen Lasten,
Müder Pilger Du.
Bei dem Kreuze kannst Du rasten.
Da ist Ruh’.

Da stillt Er Dein heiß Verlangen,
Heilet Deinen Schmerz.
Frieden wirst Du da empfangen,
Müdes Herz.

Trost, Vergebung, ew’ges Leben
Fließt vom Kreuz Dir zu.
Bei dem Kreuz wird Dir gegeben
Himmelsruh’.

Zum Kreuz möchte ich Dich führen, lieber Leser, damit Du da Heilung für Deine Wunden, Ruhe für Dein Gewissen, Frieden für Deine Seele, Vergebung für Deine Sünden und Kraft zu einem neuen Leben finden möchtest. Unter dem Kreuz, und nur da, können der Heilige Gott und der Sünder einander begegnen; dort wird der Friedensbund geschlossen zwischen dem Sünder, dem seine Sünden – wie eine schwere Last – zu schwer geworden sind, und dem gnädigen und barmherzigen Gott. Dort legen sich die durchgrabenen Hände des Heilandes auf das wunde Herz des armen Sünders; dort reinigt Er das schuldbeladene Gewissen mit dem Blute der Versöhnung, so daß man es glauben lernt:

Sein Kreuz bedeckt meine Schuld,
Sein Blut macht hell mich und rein.

Komm, stelle Dich unter das Kreuz und sieh; höre, finde und empfange, was Deine Seele entlastet und Dein müdes Herz erquickt und aufrichtet. – Mein Wunsch ist erfüllt, und diese Zeilen haben ihren Zweck erreicht, wenn die Herrlichkeit des Kreuzes Christi so Dein Auge anzieht, Deine Seele erfüllt und Dein Herz gefangennimmt, daß Du wie Paulus hinfort nichts anderes mehr zu rühmen weißt als allein das Kreuz unseres Herrn Jesu Christi, und wie Zinzendorf nichts anderes mehr bewundern kannst als allein das geschlachtete Lamm.

Tritt unter das Kreuz nicht als kalter Beobachter wie das Volk, nicht als Feind wie die Pharisäer, nicht als Spötter wie der Schächer zur Linken, nicht wie die Kriegsknechte, die nur Kleidung suchen, sondern wie die Frauen, die sehen, wie ihr Herr stirbt. Steh und sieh auf zu dem Baum des Lebens und lebe! Denn der bloße Blick nach dem Kreuz ist lebensrettend, wie in 4. Mose 21 von der ehernen Schlange, dem Vorbild des Kreuzes, geschrieben steht: »Wer sie ansah, der blieb leben.« Und damit Du recht sehest, möchte ich Dir hier mit einigen Winken zu Hilfe kommen und Dir zuerst sagen:

1.

Unter dem Kreuze sehen wir Gottes
Vaterliebe zu uns in ihrem Höhepunkt

Gott hat uns drei Bücher gegeben, worin wir seine Liebe lesen können: Das Buch der Natur, unser eigenes Leben, zu dem uns jedes neue Jahr einen neuen Band hinzulegt, und das teure Bibelbuch. Wir finden Gottes Liebe auf jedem Schritt in der Natur; wir finden sie in unserem Leben überreichlich. Aber wir brauchen mehr als Schöpferliebe, mehr als fürsorgende und bewahrende Liebe. Wir tragen eine unsterbliche Seele in uns, die ein Hauch aus Gott ist, und die wir mit Sünden beladen und mit Ungerechtigkeit befleckt haben, eine Seele, die nach Freiheit, Frieden und Ruhe seufzt, und die auf all unsere Bemühungen, sie zu befriedigen, die stete Klage hat:

Gebt mir alles, und ich bleibe
Ohne Gott doch arm und leer.

Es gibt Leute, die sagen: »Wenn ich Gottesdienst tun will, gehe ich hinaus in Gottes Natur. Da ist der Wald mein Dom, das Rauschen in den Wipfeln der Bäume mein Gesang, und die singenden Vögel sind meine Prediger.« Haben diese Leute recht? Kann man in der Natur Gott finden? Ganz gewiß! In jedem hohen Baum und jedem kleinen Pflänzlein, in jedem Vöglein in der Luft und jedem kleinen Fischlein im Wasser, in jedem kleinen Steinlein am Wege tritt uns die Schöpferliebe Gottes entgegen. Aber kann die Natur die Seele befriedigen? Nein! Im Gegenteil! Die Harmonie in der Schöpfung läßt uns die Disharmonie in unserem Innern nur um so stärker fühlen, und es erwacht der Schrei nach Erlösung. Was unsere Seele befriedigt, ist allein die rettende, versöhnende und beseligende Liebe Gottes, geoffenbart und verbürgt mit dem Heiligen Buch, dessen Kristall der Spruch ist: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.« (Johannes 3, 16) Diese Liebe ist es, die unsere Seele sättigt und uns mit ihren Seilen wieder an Gott, unser Element, bindet. Früher fürchtete ich Gott immer als einen zürnenden Richter, der mich in seinem Zornesfeuer wie Stroh verzehren würde, wenn nicht Christus zwischen mir und Ihm Versöhnung tun würde, bis ich unter das Kreuz trat und dort sah und las: Gott hat also geliebt, daß Er seinen Sohn gab für die Welt – Gott war in Christus und versöhnte – Gott wirkt Wollen und Vollbringen zu unserer Rettung – Gott gab den Heiligen Geist als Tröster, Lehrer und Führer zu seiner Herrlichkeit – Gott erwählte in Christus vor Grundlegung der Welt uns zu seinen Kindern! So, sagte ich, das tat Gott? Schon vor Grundlegung der Welt beschäftigte Er sich mit mir, dachte darüber nach, wie Er mich glücklich und selig machen könnte? Schon vor Grundlegung der Welt hat Er seinen Sohn auserwählt als Lamm, das an meiner Statt Fluch und Strafe tragen sollte? Und als die Zeit erfüllt war, gab Er Ihn und warf auf Ihn meine Schuld und meine Sünde, verschloß in Gethsemane vor Ihm sein Ohr, verbarg auf Golgatha vor Ihm sein Angesicht, ließ aus Ihm den Allerverachtetsten machen, so verachtet, daß Er selbst seufzen mußte: »Ich bin ein Wurm und kein Mensch!«? Und das alles, um mich Wurm aus dem Kot der Sünde aufzuheben, damit der Feind mich nicht gar zertrete? Tat das Gott? Ja, das tat Gott! Ach, da erweiterte sich mein Herz! Denn:

Könnt’ ich hier noch fühllos sein,
O, so wär’ ich mehr als Stein!

Da trat an die Stelle der Furcht Liebe, an die Stelle des knechtischen Geistes der kindliche Geist; da lernte ich rufen: »Abba, Vater!« Ich kann die Heiden verstehen, die den Missionar, der ihnen diese Botschaft bringt, in einem Ton der Freude, aber auch des Schmerzes fragen: »Habt ihr dieses Evangelium schon lange?« Und auf das »Ja« des Missionars ihm sagen: »Warum habt ihr es uns so lange vorenthalten?« Ich kann mit jenem Mohammedaner fühlen, der, als er zum ersten Mal ein Neues Testament in seine Hände bekam und den Spruch Johannes 3, 16 las, ausrief: »Das ist es, was ich brauche! Das ist es, wonach ich mein Leben lang vergeblich gesucht habe! Dieser Gott ist mein, und ich bin Sein!« Und dieser Mann hat es mit der Tat bewiesen; denn er hat um dieses Evangeliums willen alles verlassen und ist jetzt Missionar, um diese Lebens und Liebesbotschaft: »Gott hat uns lieb« denen zu bringen, die noch sitzen in Finsternis und Schatten des Todes.

Teurer Leser, kennst Du Deinen Gott auch so? Kennst Du Ihn als den Gott der Liebe? Oder ist Dein Herz noch kalt gegen Ihn? O, ich bitte Dich, komm unter das Kreuz und sieh, wie Deinem Gott über Deiner Herzenshärtigkeit das Herz gebrochen ist! Sieh so lange hin, bis das Feuer seiner Liebe Dein Herz schmilzt. Der Glaube kommt durch Hören, aber die Liebe durch Betrachtung. Denn die Liebe zu Gott wird geboren aus der Liebe Gottes zu uns. Gott gibt seinen Sohn und offenbart dadurch seine Liebe und erzeugt so die unsere. O, daß seine Liebe so Dein Herz entzündete und Deinen Willen bestimmen könnte, daß Du mit dem Dichter rühmen müßtest:

Von Gott geliebt, fühl’ ich die Flamm’
Der heißen Gottesliebe glüh’n,
Von Ihm erwählt, noch eh’ die Zeit begann,
Erwählt’ ich wiederum auch Ihn.

Kürzlich las ich von einer Mutter, deren Tochter eine Stelle in einer Großstadt angenommen hatte, daß eines Tages der Mutter die Nachricht gebracht wurde: »Marie ist nicht mehr in ihrer Stelle; sie ist auf den Pfad der offenen Schande und des Lasters gezogen worden.« Sobald die Mutter dies vernahm, machte sie sich auf, um ihre Tochter aufzusuchen und heimzuführen. Doch das war ein schweres Unternehmen. Sie fand sie nicht, so sehr sie sich auch Mühe gab und fast Tag und Nacht umherirrte, das verlorene Kind zu suchen. Endlich mußte sie sich schweren Herzens entschließen, die Heimreise anzutreten. Aber da kam ihr plötzlich noch ein Gedanke. Sie ging zu einem Photographen und ließ sich ihr Bild machen, und sobald sie mehrere Abzüge derselben hatte, ging sie damit in die besuchtesten der verrufenen Wirtschaften und bat um die Erlaubnis, ihr Bild an die Wand hängen zu dürfen. Man gestattete ihr solches, und nunmehr reiste sie heim. – Nicht lange Zeit nach her kam die unglückliche Tochter mit einer ihrer traurigen Gefährtinnen in eine dieser Wirtschaften. Ihr Blick fiel auf das kleine Bild an der Wand. »Die sieht aus wie meine Mutter!«, rief sie erstaunt und prüfte die Züge genauer. Unter dem Bilde standen einige Worte. Ach, sie waren von der Mutter selbst geschrieben und hießen: »Marie, ich liebe Dich noch immer.« Das war zuviel! Das hatte sie nicht erwartet, viel mehr Verachtung und Haß. Der Gedanke, daß die Mutter hier gewesen sei, um die Verlorene in den Schlupfwinkeln der Sünde aufzusuchen und heimzuführen, überwältigte sie. Sie dachte nun zurück an ihre glückliche Kindheit, an ihrer Mutter Gebete, Lehren und Tränen. Sie seufzte: »Ach, wo bin ich hingekommen? Soll ich wieder heimkehren? Wie wird man mich zu Hause empfangen?« Doch die Worte »Marie, ich liebe Dich noch immer.« trugen den Sieg davon. Ihr Herz war gewonnen; sie machte sich los von ihren Genossinnen und kehrte heim.

Geliebter Leser, der Du nicht des Herrn Eigentum bist, rührt Dich nicht die Liebe dieser Mutter? Aber was ist sie im Vergleich zu der Liebe Gottes, geoffenbart in Jesus Christus, dem Gekreuzigten? Nur ein Fünklein von der Liebesglut, die auf Golgatha brennt. Dort hat auch Gott Dir sein Bildnis gegeben, über dem lesbar geschrieben steht: »Ich liebe Dich noch immer!« Sage, was müßte Dein Gericht sein, wenn Du solche Liebe gering achtest, diese Rettung verschmähst oder doch versäumst? Es gibt eine Frage, die man weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde beantworten kann; sie heißt: »Wie wollen wir entfliehen, so wir eine solche Rettung nicht achten?« (Hebräer 2, 3)

2.

Sehen wir unter dem Kreuze,
was Stellvertretung ist,

d.h. wie Christus an unserer Statt unsere Sünde und damit auch unsere Strafe trägt. Für unsere Schuld mußte eine Zahlung geleistet und für unsere Sünde eine Sühne gebracht werden, um der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes Genüge zu tun. Und wer wäre imstande gewesen, diese Sühne zu leisten, diese Schuld zu bezahlen? Kein anderer als Jesus, das »Lamm Gottes«, welches der ganzen Welt Sünde auf sich nahm. Er wurde der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der vor Gott die Sache unserer Seele führt. Er ist der Bürge, der seinen letzten Blutstropfen für uns einsetzte. In Hesekiel 22, 30.31 lesen wir: »Ich suchte unter ihnen, ob sich jemand zur Mauer machte und wider den Riß stünde vor mir wider dieses Land, daß ich es nicht verderbte. Aber ich fand keinen. Darum schüttete ich meinen Zorn aus über sie, und mit dem Feuer meines Grimmes machte ich ihrer ein Ende und gab ihnen also ihren Verdienst auf den Kopf, spricht der Herr JAHWE.« Für Israel fand sich kein Mann, der in den Riß getreten wäre und die Gerichtsfluten aufgehalten hätte, obwohl Gott danach suchte. Für uns hat sich gottlob ein Mann gefunden, nicht unter den Engeln, nicht unter den Menschen; denn kein Bruder vermag den anderen zu erlösen. Gott ging wohl auch die Reihen der Cherubim und Seraphim durch; Er sah sich wohl auch um unter den Starken und Mächtigen der Menschenkinder, ob einer imstande wäre, für das sündige Menschengeschlecht eine Sühne zu bringen und so Rettung zu schaffen. Aber dort fand sich keiner. Nur an einen konnte Gott noch denken, und das war sein einziger Sohn. Sein Blick fiel auf Ihn, und zu Ihm gewandt, mag Er gesprochen haben: »Mein Sohn, ich habe keinen gefunden, der den Kaufpreis bezahlen könnte für das verlorene, verschuldete Menschengeschlecht.« Sogleich war der Sohn bereit und sprach zum Vater: »Vater, deinen Willen tue ich gern (Psalm 40, 9); gib mir einen Leib (Hebräer 10, 5); laß mich Mensch werden, und ich will hingehen und dir das Verlorene wiederbringen.« Und der Sohn versprach nicht nur, sondern Er kam und nahm auf sich unsere Schuld und hat durch seinen Opfertod die große Kluft zwischen uns und unserem Gott überbrückt und hat Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.

Er trug unsere Sünden, die Gott auf Ihn legte.

Kürzlich las ich von einem Inder, dessen Gewissen durch den Geist Gottes aufgeweckt war und der nach Ruhe und Frieden suchte, sie aber nicht finden konnte. In seiner Gewissensnot fragte er hin und her, was man denn tun müsse, um zum Frieden zu kommen. Fast ausschließlich sagte man zu ihm: »Du mußt beten!« Und so betete er – aber er fand nicht Frieden. Weil er meinte, die Ursache, warum er nicht zum Frieden kommen könnte, sei die, daß er noch nicht lange und ernstlich genug gebetet und gerungen habe, ging er eines Tages in den Wald, um dort ernst und laut genug schreien zu können. Nachdem er sich müde gebetet hatte, suchte er sich ein Plätzchen unter einem Baum, um ein wenig zu ruhen. Bevor er sich niederlegte, hing er seinen Hut an einen abgebrochenen Ast. Während er nun so dalag und zum Baum hinaufschaute, einmal die Äste betrachtete, ein andermal auf seinen Hut blickte, durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke: »Wie mein Hut nicht zu gleicher Zeit an dem Aste und auf meinem Kopfe sein kann, so können auch meine Sünden nicht zu gleicher Zeit auf mir und auf Christus sein.« – »Aber wo sind sie nun?« fragte er sich. Ebenso schnell trat das Wort Jesaja 53, 5 in sein Bewußtsein: »Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn.« Da wurde es ihm auf einmal sonnenklar: »Wenn Gott meine Sünden auf den Sohn geworfen hat, dann ist der Platz, den Gott meinen Sünden gegeben hat, nicht mein Gewissen, sondern die Schultern Jesu.« Vor Freuden sprang er auf, eilte heim zu seiner Frau und rief ihr schon von ferne zu: »Frau, ich hab’s, ich habe Frieden gefunden! Sieh, Gott warf schon vor 1800 Jahren alle unsere Sünden auf seinen Sohn! Weißt du, Gott warf, Gott warf !« Nachdem er ihr den ganzen Hergang erzählt hatte, fiel er mit seiner Frau auf die Knie und betete: »Vater im Himmel, ich danke dir, daß du alle meine Sünden auf den Sohn geworfen hast. Und ich danke dir, du Lamm Gottes, daß du meine Sünden getragen hast, und daß ich nicht auch noch tragen muß, was du getragen hast.«

Er ging für uns ins Gericht.

Jesus ging hinein in die Tiefen des Zornes Gottes, der uns hätte treffen sollen. Er setzte sich den Flammen des Gerichts aus und ließ sich verzehren, damit wir für ewige Zeiten dem Gericht entnommen wären. In der Nähe von Buffalo, einer Hafenstadt Nordamerikas, steht ein Marmorkreuz, vor dem man oft einen gebeugten Greis mit tränenden Augen sitzen sah. Als man ihn fragte, warum er so gerne hier weile und das Kreuz anschaue, erzählte er folgende Geschichte:

»Vor vielen Jahren fuhr ich auf einem Schiffe namens „Schwalbe“ hierher. Eines Tages brach plötzlich Feuer aus auf dem Schiff. Einige Tonnen Teer, die dasselbe mit sich führte, gerieten in Brand. Eine große Verwirrung entstand unter uns Passagieren. Wir schrieen den Kapitän an: „Wie weit ist es noch nach Buffalo? Können wir noch gerettet werden?“ – „Es sind noch dreiviertel Stunden“, antwortete der Kapitän, „und wenn’s dem Steuermann möglich ist, seinen Platz am Steuerrad zu behaupten, so können wir alle gerettet werden.“ Der Steuermann setzte nun seine ganze Kraft ein, um möglichst allen Passagieren das Leben zu retten. Der besorgte Kapitän, welcher wußte, daß der Steuermann der Feuergefahr am meisten ausgesetzt war, rief nach einigen Minuten durch sein Sprachrohr: „John Maynard!“ (dies war nämlich der Name des Steuermanns). „Ja, ja, Herr!“ war die Antwort des Steuermanns. Nachdem wir wieder eine kurze Strecke gefahren waren, rief der Kapitän zum zweitenmal: „John Maynard!“ – „Ja, ja, Herr!“ war wieder die Antwort. Als aber der Kapitän zum drittenmal rief, erhielt er nur noch ein dumpfes leises „Ja, ja, Herr!“ zurück. Schon war die rechte Hand des treuen Steuermanns verbrannt, aber mit seiner linken hielt er noch fest am Steuerrad und steuerte, bis er uns glücklich ans Land gebracht hatte. Daselbst angelangt, sprangen wir in größter Eile aus dem Schiff. Und der treue Steuermann setzte noch seinen Fuß aufs Land. Aber in dem selben Moment fiel er zu Boden und war eine Leiche. Das Feuer hatte sein Werk an ihm getan. Aus Liebe und Dankbarkeit haben wir ihm dies Marmorkreuz errichtet mit dieser Inschrift:

Dem treuen Steuermann der „Schwalbe“
JOHN MAYNARD
von seinen dankbaren Passagieren gewidmet.
Er starb für uns!«

»Er starb für uns!« Ist das nicht auch die Inschrift des Kreuzes auf Golgatha? Ist Jesus nicht der Treue, der vor der Hitze der Anfechtung, vor dem Feuer der Trübsal und vor dem Schrecken des Gerichts nicht zurückwich? Er blieb wie jener Steuermann auf seinem Platz, bis Er uns hindurchgebracht hatte in den sicheren Hafen des Friedens. Was wäre aus jenen Schiffspassagieren geworden, hätte der treue Steuermann nicht die Flammen erduldet? Ihr Los wäre die Tiefe gewesen, ein furchtbares Verderben und Umkommen. Und o, was wäre unser Los gewesen, wenn Jesus durch seinen Tod das Gericht nicht von uns abgewandt hätte? Nichts anderes als tiefe Finsternis, ewige Qual und unauslöschliches Feuer. Willst Du nicht auch, wie der Greis, Dich von diesem Kreuz anziehen lassen? Willst Du nicht auch mit der Liebe und Dankbarkeit aufblicken zu diesem Kreuz auf Golgatha und es durch den Heiligen Geist tief in Deine Seele legen lassen: »Er starb für mich!«?

Er ging für uns in den Tod und gab uns so das Leben.

Seit dem Sündenfall ist Tod und ewiges Verderben unser Teil; es hat sich vor uns aufgetan ein gähnender Abgrund ewiger Finsternis. So gewiß wir Sünder sind, so gewiß sind wir dem Tod verfallen. Wir haben alle ein trauriges Besitztum mit in die Welt gebracht, das ist die Sünde und mit ihr – der Tod. Und dieses unser trauriges Erbe haben wir, durch unsere eigenen Übertretungen, zu einem ungeheuren Kapital aufgehäuft, haben hinter uns nichts als Tod und um uns nichts als Tod. Die Bibel sagt: »Wir sind tot in Sünden und Übertretungen.« Wer darum nicht von seinen Sünden erlöst ist, sinkt hinunter von Tod zu Tod; denn der Lohn der Sünde ist der Tod. – Kannst Du Dir vorstellen, lieber Leser, wie furchtbar es wäre, wenn wir sonst nichts wüßten und sonst nichts hätten als dies? Wenn wir den Lebensfürsten nicht kennen würden, der sein Leben in den Tod gab und uns so das Leben wiederbrachte? – In der Nähe von Cuxhaven ging vor Jahren ein Schiff unter. Sämtliche Insassen, mit Ausnahme zweier Matrosen, sanken in die Tiefe. Diese zwei hatten glücklicherweise ein Brett erreicht, auf dem sie sich zu retten gedachten. Aber gar bald merkten sie, daß das Brett zu leicht sei, sie beide zu tragen. Der ältere von ihnen, der ein Christ war, wandte sich zu dem anderen und sprach: »Kamerad, das Brett ist zu leicht! Sage, wer wartet zu Hause auf dich?« – »Ein Weib und fünf Kinder«, war die Antwort. »So nimm das Brett für dich und rette dich«, erwiderte der Alte, »ich habe daheim niemand mehr als zwei Söhne, die in den Wegen Gottes wandeln, und auch ich selbst bin durch meines Heilands Tod vom ewigen Tod errettet.« Mit diesen Worten überließ er das Brett dem Kameraden und sank in die Tiefe, während der andere glücklich ans Ufer gelangte und heimkam zu den Seinen. Und als die Seinen ihn umringten und fragten: »Wie war es möglich, daß du allein gerettet wurdest?«, sagte er tief bewegt: »Um des Opfers willen, das der Bruder für mich brachte.« Auch später, so oft man ihn um diese wunderbare Rettung befragte, war seine stete Antwort: »Um des Opfers willen, das der Bruder für mich brachte!« Nicht wahr, lieber Leser, wir bleiben tief bewegt stehen vor der edlen Tat dieses alten Mannes und fragen: »Ist das möglich?« Aber sehen wir nicht eine viel größere Liebe und eine viel größere Rettung unter dem Kreuz? Nicht ein Mensch stirbt für den anderen, sondern Gott, nicht ein Freund für den anderen, sondern Gottes Sohn für seine Feinde, Gottes Sohn für Dich. – Ein kleines Mädchen, das sehr krank in seinem Bett lag, ließ sich von ihrer Schwester ihr biblisches Geschichtsbuch geben. Sie wendete die Blätter um, bis sie zu dem Bild kam, das Jesus am Kreuz hängend darstellt. Nachdem sie es eine Weile liebevoll angeblickt hatte, hielt sie das Bild zum Vater empor und sagte: »Für dich, Vater!« Dann zeigte sie es auch der Mutter und sagte: »Für dich!« Zuletzt drückte sie es an ihr Herz und flüsterte: »Und für mich!« Und, lieber Leser, auch für Dich!

Er gab für uns sein Blut zum Lösegeld.

Wir lesen in Hebräer 9, daß Christus erschienen ist vor dem Angesicht Gottes mit seinem Blut und so für uns eine ewige Erlösung erfunden hat. – Zur Zeit Oliver Cromwells, eines englischen Staatsoberhauptes, wurde ein Mann wegen Rebellion zum Tod verurteilt und sollte am Galgen sterben. Als sein Weib diese Nachricht erfuhr, eilte sie zu Cromwell, fiel ihm zu den Füßen und bat ihn unter heißen Tränen, doch die Strafe aufzuheben. Aber der strenge Mann antwortete ihr: »Er ist ein Rebell gegen den Staat, und die Gerechtigkeit fordert seinen Tod. Morgen abend, wenn die Glocke läutet, kannst du kommen und sehen, wie dein Mann stirbt.« Tiefbewegt ging sie von dem Angesicht des strengen Richters fort und sann darüber nach, ob es nicht doch einen Ausweg gebe, ihren Mann vom Tode zu erretten. Da kam ihr der Gedanke: »Ich steige auf den Turm und halte den Glockenschlegel fest, denn«, sagte sie sich, »solange die Glocke nicht geläutet hat, muß mein Mann nicht sterben.« Sie stieg wirklich hinauf auf den Turm und faßte den Schlegel, so daß statt des Schlegels ihre Hand an die Glockenwand schlug. Nachdem die eine Hand blutig zerschlagen war, nahm sie die andere und hielt so lange den Schlag auf, bis der taubstumme Küster, in dem Gedanken, sein Werk verrichtet zu haben, endlich aufhörte. Mit ihren blutigen, zerschlagenen Händen ging nun das Weib zu Cromwell und sprach: »Mein Herr, die Glocke hat nicht geläutet, mein Mann muß nicht sterben! Siehe, ich habe mit meinen Händen die Schläge aufgehalten!« Und als sie ihm die blutigen Hände zeigte, trat eine Träne in das Auge Cromwells, und er sagte: »Ja, du hast deines Mannes Schuld gesühnt und sein Leben gerettet! Er ist frei!« Gerade das, mein Freund, ist die große Tat unseres teuren Erlösers. Für uns, die Empörer und Verbrecher, die zum ewigen Tod verurteilt waren, ist Er in den Riß getreten, hat mit seinem Blut unsere Schuld gesühnt und uns losgekauft vom ewigen Gericht. O, daß Du dies erkennen und verstehen und ein Todeslohn für seine Todesarbeit werden wolltest!

Aber nicht nur Gottes Vaterliebe und des Sohnes Hingabe sehe ich unter dem Kreuz, sondern auch

3.

Wie sündig die Sünde ist

Ich sehe unter dem Kreuz, wie unermeßlich der Sünde Schuld, wie furchtbar ihre Strafe, wie verabscheuungswürdig sie in den Augen Gottes sein muß, wenn ihre Sühnung den schmerzlichsten und schmählichsten Tod des heiligen Gottessohnes notwendig machte. Wir können ihre Macht in unserem und in dem Leben anderer täglich erfahren, und zwar nicht nur beim armen Trinker, den der Branntwein unter das Tier entwürdigt hat, nicht nur an den bleichen Gestalten, die ihre Lebenskraft durch Unkeuschheit und Ausschweifung vergeudet haben, deren Auge ohne Glanz, deren Gesichtsausdruck so fahl und gemein ist, sondern auch in den Palästen hinter den seidenen Vorhängen. Ich weiß von einer Dame, die von ihren Angehörigen in eine Anstalt für Nervenleidende gebracht wurde, weil man sie für irrsinnig hielt. Hier lag sie jahrelang auf dem Bett, ohne auch nur einen Augenblick Ruhe zu haben – weder für ihre Seele noch für ihren Leib. Eines Tages sagte sie zu der sie pflegenden Krankenschwester: »Ich bin nicht irrsinnig; ich sollte nicht einen Arzt, sondern einen Seelsorger haben, der meine Seele rettet. Sehen sie, ich bin ein Judas; ich habe meine Seele verkauft und umgebracht. Als ich ein Kind von 16 Jahren war, wußte ich ganz bestimmt, daß ich mich bekehren sollte, und ich fragte meinen Vater: „Vater, ist es wahr, was in der Bibel steht?“ Mein Vater antwortete: „Kind, laß dieses Buch beiseite; es macht die Leute nur verrückt“ und ich habe ihm gefolgt. Sehen sie, darum bin ich nun in diesem Hause, nicht weil ich Gottes Wort gelesen, sondern weil ich es verachtet habe. Nur mein Leib liegt auf diesem Bett; meine Seele wird von finsteren Geistern von einem Land zum anderen und von einem Stern vom anderen gejagt. O, bringen sie mir einen Seelsorger, der mir Ruhe schaffen kann für meine Seele!« An ihr ist das Wort schon hier wahr geworden: »Sie haben keine Ruhe Tag und Nacht« (Offenbarung 14, 11)

Aber nicht nur unter den ausgesprochenen Weltleuten, sondern auch vielfach unter solchen, die als gottesfürchtig gelten, können wir die Macht der Sünde sehen. Ich kannte einen Mann, der regelmäßig alle 14 Tage zur Kirche ging, aber auch regelmäßig jeden Abend in den »Ratskeller«. Da, am Bierglas, wurde er vom Schlag getroffen. Man trug ihn heim und legte ihn aufs Bett, wo er noch mehrere Tage im heftigen Todeskampf lag. Beständig schlug er mit der Hand, als ob er nach jemand schlagen wollte, und flehte bitterlich zu den Seinen: »Haltet mich, haltet mich, ich versinke in der Tiefe!« O, welch eine Macht übt die Sünde aus an den Menschenkindern! Wie oft habe ich schon gewünscht, daß Leute, die so wenig an die Macht der Sünde glauben und meinen, im letzten Augenblick ihres Lebens so schnell mit derselben fertig zu werden, einmal an dem Sterbebett eines solchen Unglücklichen stehen möchten, um zu sehen, wie die Sünde eine Last ist, die ihre Opfer hinunterzieht in ewige Nacht und ewige Qual!

Nicht nur aber sehen wir ihre Macht im täglichen Leben, sondern wir können auch ihre Schuld empfinden, wenn wir hinsichtlich ihrer die Gebote Gottes betrachten; denn es steht geschrieben: »Wer einen Buchstaben übertritt, ist das ganze Gesetz schuldig« (Jakobus 2, 10), und: »Verflucht ist jedermann, der nicht bleibt in alledem, was geschrieben steht im Buch des Gesetzes, daß er es tue« (Galater 3, 10). Wir können die Größe ihrer Schuld ermessen, wenn wir an die Strafe denken, die der gerechte Gott auf sie gelegt hat. Wenn Gott seine eigenen Geschöpfe in einen Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, werfen muß, wenn verlorene Seelen in bodenloser Tiefe und ewige Qual versinken müssen – »sie werden von dem Wein des Zornes Gottes trinken, der lauter eingeschenkt ist in seines Zornes Kelch, und werden mit Feuer und Schwefel gequält werden vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm, und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht« (Offenbarung 14, 10.11) – o welch entsetzlich Ding muß dann die Sünde sein! Aber wer wissen will, wie sündig die Sünde ist, nein, ich muß sagen, wer empfinden will, – denn wir können niemals die Tiefen der Sünde ergründen – der trete unter das Kreuz, der wende seinen Blick nach Gethsemane und Golgatha, der sehe hier einen Mann, der so mit Schmerzen ringt, daß sein ganzes Haupt, sein Haar und sein Gewand mit Blut benetzt ist. Die Sünde war es, die also auf Ihm lastet; die Sünde war es, die den Stärksten wie einen Wurm krümmen machte. Ja, wir müssen Christus sehen, wie sein Schweiß in großen Blutstropfen zur Erde fällt. Wir müssen Ihn anblicken, wie sein Rücken von den blutigen Geißeln zerrissen wird. Wir müssen Ihm folgen auf seinem Leidensweg durch Jerusalem. Wir müssen Ihn dahinsinken sehen unter der Last seines Kreuzes. Wir müssen Ihn betrachten, wie die Nägel durch seine Hände und durch seine Füße dringen, und wir Er mit den Qualen des Todes ringt. Wir müssen sehen, wie die Finsternis des Gottverlassenen seine Seele umlagert. Wir müssen jenen Schrei ausstoßen hören, bei dem die Erde bebte: »Eli, Eli, lama sabachthani!« Erst dann und nur dann werden wir imstande sein, zu empfinden, was Sünde ist. Hier und hier allein werden wir die Buße finden, die sonst nirgendwo zu finden ist, als unter dem Kreuz unter den Füßen des Meisters. Sinai zerschmettert das Herz, aber Golgatha zerschmilzt es.

Und wer so unter dem Kreuz gestanden hat, der kann von der Sünde nicht mehr reden als von einem Fehler, der jedem Menschen mehr oder weniger anhaftet. Folge dem Gekreuzigten von Gethsemane bis nach Golgatha und siehe und höre, was Menschen imstande sind zu tun an dem größten Wohltäter des Menschengeschlechts, und sage mir dann, ob Sünde ein entschuldbarer Fehler sei. Denn nirgends wird der Mensch in seiner Sündenhäßlichkeit so offenbar und tritt seine Empörung gegen Gott so klar zutage, als gerade hier. Nicht genug, daß die Verlorenen ihren Retter von sich gestoßen und an das Kreuz geheftet haben, nein, sie spotten auch noch seiner Leiden, seines Durstes, seines Gebets, ja sogar seiner Gottheit. Hast Du schon gehört, daß man solches jemals dem ruchlosesten Mörder tat, der auf dem Schafott starb? Und doch tat man es dem, der aus Liebe zu den Verlorenen von dem Himmel auf die Erde stieg, dem, der nur Gutes tat, und in dessen Mund kein Betrug erfunden wurde. Und nicht die schlechten Juden, wie mir einmal jemand sagte, taten dies, nein, sondern wie der Dichter klagt:

»Ich, ich und meine Sünden«,

oder wie jener Alte sagte: »Wenn ich Christus gekreuzigt sehe, so fällt mir ein, daß meine Sünden Ihn getötet haben. Ich sehe nicht mehr Pilatus, sondern mich selbst an des Pilatus Stelle, wie ich Christus um der Ehre vor Menschen willen verkaufe. Ich höre nicht das Geschrei der Juden, sondern ich höre meine eigenen Sünden rufen: „Kreuzige Ihn, kreuzige Ihn!“ Ich sehe keine Nägel von Eisen, sondern meine Missetaten, wie sie Ihn ans Kreuz nageln. Ich sehe keinen Speer, sondern meinen Unglauben, der seine Seite verwundet; denn ihr, meine Sünden, meine grausamen Sünden, habt Ihn am meisten gemartert. Jede meiner Sünden wurde ein Nagel zu diesem Kreuz und mein Unglaube der Speer, der Ihn durchbohrt hat.« Es gibt Leute, die – wenn man sie auffordert, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren – einen verwundert anschauen. Sie können gar nicht verstehen, wie man dazu kommen kann, eine solche Aufforderung an sie zu stellen, sind sie sich doch gar nichts Schlechtem bewußt. O, es handelt sich hier gar nicht um Deine Vergangenheit, nicht wie viel oder wie wenig Sünde Du getan hast! Die Apostel redeten auch nicht von der Vergangenheit, sondern sagten einfach: »Den habt ihr gekreuzigt, ihr seid schuldig am Tod des Herrn.« (Apostelgeschichte 2, 23) Und bist nicht auch Du schuldig? Ist diese Schuld nicht groß genug? O komm unter das Kreuz und sieh, was Du verbrochen hast, damit Dir Gott Buße (= Umkehr) gebe zum Leben.

Neben diesem sehe ich unter dem Kreuz auch

4.

Die Größe der Gnade

Ist das Kreuz, das in der Erde, auf der Erde, über der Erde aufgerichtet ist, nicht ein Bild davon, wie allumfassend die Versöhnung durch das Kreuz geworden ist (Kolosser 1, 20; 1. Petrus 1, 18.19)? Wollen uns die ausgebreiteten Arme nicht sagen, daß der Gekreuzigte alle, alle umfassen will? Auch Dich! Will nicht das geneigte Haupt dem zagenden Sünder die Zuneigung des Gekreuzigten kundtun? Und das brechende, blutende Herz, ruft es nicht jedem, der kalt vorübereilen will, zu: »Für Dich verblutet!«? Denn wir lesen in der Schrift, daß Christi Blut redet, und daß es besser redet als Abels Blut (Hebräer 12, 24). Abels Blut schrie gen Himmel um Rache; von dem Blut Christi aber sagt der Dichter:

Da Christi Blut beständig schreit:
Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!

Abels Blut trieb Kain unstet und flüchtig auf der Erde umher; aber Christi Blut ruft den gottflüchtigen und ruchlosen Sünder wieder zu rück zum Herzen Gottes.

O preist seiner Liebe Macht, rühmet sein Blut!

Ja, die Größe der Gnade sehen wir unter dem Kreuz. Wir sehen Maria Magdalena stehen unter dem Kreuz. Wer war sie? Sie war das Weib, von dem Jesus sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Sie war eine siebenfache Sünderin; aber es war Platz für sie unter dem Kreuz. Ich sehe, daß unter dem Kreuz Platz ist für siebenfache Sünder. Du sprichst vielleicht in Deinem Zagen: »Unendlich ist meine Schuld« – aber auch unendlich ist die Gnade. Du seufzt: »Unendlich sind meine Vergehungen« – aber auch unermeßlich ist das Verdienst Christi, welches sie alle bedeckt. Und wenn auch Deine Sünden höher wären als der Himmel – Christus ist höher als der Himmel, und wenn sie tiefer wären als die Hölle – Christi Versöhnungswerk reicht noch tiefer hinab; denn schon Hiob sagt darüber in Kapitel 11, Vers 8: »Es ist tiefer als die Hölle«. Ich predigte einmal an einem Ort über dieses Wort. Da war eine Person in jener Versammlung, die viele Jahre unter den furchtbarsten Gewissensqualen litt und die Tag und Nacht keine Ruhe und keinen Frieden finden konnte. Als aber in jener Stunde der Geist Gottes ihr dies Wort ins Herz legen konnte, ach, da wichen ihre Zweifel und ihre Unruhe wie der Nebel von der Sonne. Sie verließ als eine, die Frieden gefunden hatte, als eine, die sich an Ihm aufgerichtet hatte, jenen Saal. In ihrer Freude wußte sie lange nichts anderes mehr als das eine: »Es ist tiefer als die Hölle.« Und wenn hie und da der Feind versucht, ihr die Last wieder aufzulegen, so eilt sie unter das Kreuz und schaut auf zu Ihm und sagt mit kindlichem, dankbarem Herzen: »Es ist tiefer als die Hölle.«

Unter dem Kreuz wird niemand weggestoßen. Wir hören den zum Kreuzestod verurteilten Schächer flehen: »Herr, gedenke mein, wenn du in dein Reich kommst!« Und der Gekreuzigte denkt augenblicklich sein und versichert ihm: »Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.« Und Jesus ist gestern und heute derselbe (Hebräer 13, 8). Ein Bote des Evangeliums erzählt: »Vor einigen Jahren wurde ich ins Krankenhaus gerufen zu einem kranken Mann, der sich in seinem Bett wie ein Rasender hin und her warf und, während sich seine Finger in den Kalkputz der Wand einkrallten, in einem Ton, der mir durch Mark und Bein fuhr, schrie: „Ich gehe verloren, ewig verloren!“ – Nachdem ich den Kranken einen Augenblick stillschweigend betrachtet hatte, beugte ich mich über ihn und erkundigte mich freundlich nach seinem Befinden. „Es geht mir nicht gut, mein Herr“, antwortete er, „Ich bin sehr krank.“ – „Und wie steht es mit ihnen in Bezug auf die Ewigkeit?“ fragte ich weiter. Als ich das Wort Ewigkeit aussprach, war es, als ob ein scharfer Pfeil sein Herz durchbohrt hätte, und mit einem durchdringenden Schrei rief er: „Ewigkeit! – Ewigkeit! – o dieses schreckliche Wort – ich gehe verloren!“ Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte ich zu ihm: „Wenn das wahr ist, mein Freund, daß sie ein verlorener Sünder sind, so hat Gott mich zu ihnen gesandt, um ihnen eine frohe Botschaft zu bringen, um ihnen in seinem Namen zu sagen, daß Er, so wahr Er lebt, keinen Gefallen hat an ihrem Tod, sondern daß Er sie liebgehabt hat, daß Er seinen eingeborenen Sohn für sie dahingab, um sie vor dem ewigen Verderben zu erretten.“ Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als er seine großen Augen verzweifelt auf mich richtete und in höchster Seelenangst keuchend ausrief: „Für mich? Gott sollte mich liebhaben? Er sollte mich erretten wollen? Niemals, niemals! Es ist unmöglich, nein, für mich gibt es keine Gnade! Sie kennen mich nicht; ich habe zwei Frauen zu Tode gequält, – ich habe…“ Leser, meine Feder sträubt sich, das schreckliche Bekenntnis niederzuschreiben, welches jetzt von seinen Lippen floß. Niemals, nein, niemals habe ich ähnliches vernommen. Es war mir, als hörte ich die hoffnungslosen, verzweifelten Selbstanklagen eines für ewig Verdammten. – Ich besuchte ihn von nun an öfter und verkündigte ihm die frohe Botschaft von der rettenden Liebe Gottes. An einem Freitagabend, nachdem ich klar erkannte, daß seine Tage hienieden gezählt seien, sprach ich sehr ernst mit ihm über sein herannahendes Ende und fragte unter anderem: „Glauben sie jetzt, daß der Herr ihnen alle Sünden vergeben hat?“ Einen Augenblick schwieg er. Dann aber schluchzte er unter einem Strom von Tränen: „Vergeben hat? Vergeben hat? Ach, ich kann es beinahe nicht glauben! Meine Sündenschuld ist zu groß und schwer!“ Ich nahm meine Bibel zur Hand und las: „Kommt und laßt uns miteinander rechten, spricht der HERR, wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden“ (Jesaja 1, 18). Und das Neue Testament aufschlagend, fuhr ich fort: „Die Gesunden bedürfen nicht des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße“ (Lukas 5, 31.32). „Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lukas 19, 10). Nachdem ich dann noch gebetet hatte, verließ ich ihn. Am folgenden Montag besuchte ich ihn wieder. Und dieser Tag war ein Tag unaussprechlicher Freude. Der Jubel einer erretteten und durch Jesus erlösten Seele tönte mir schon entgegen, als ich die Tür zu dem Krankenzimmer öffnete. Nie in meinem Leben bin ich Zeuge eines solchen Schauspiels gewesen. Der Gegensatz zwischen diesem und meinem ersten Besuch war wie der Gegensatz zwischen Himmel und Hölle. Nie habe ich einen Sünder seinen Heiland so preisen und erheben hören wie an diesem Tag. Er ergriff meine beiden Hände und bedeckte sie mit unzähligen Küssen, während die Tränen der Freude unaufhaltsam die Wangen herabströmten. Dann pries er wieder aufs neue mit den zärtlichsten Worten den teuren Heiland als seinen Erretter und Erlöser, und so ging er hinüber in die Räume ewiger Ruhe und ungestörten Friedens.«

Unter dem Kreuz sehen wir, daß, wo die Sünde überströmend geworden, die Gnade noch überschwenglicher ist (Römer 5, 20). Ein Missionar predigte einst über die sühnende und reinigende Kraft des Blutes Christi. Nachdem die Predigt zu Ende war, trat aus den Reihen der Zuhörer ein Mann zu ihm, der ihn mit ängstlichen Augen ansah und mit zitternder Stimme sagte: »Massa, darf ich dich etwas fragen?« Und auf das freundliche »Ja« des Missionars sprach er mit halberstickter Stimme, während er die Augen niederschlug: »Reicht Jesu Blut auch hin, eine Mordtat zu sühnen?« Durch die Antwort des Missionars sichtlich erleichtert, aber doch noch nicht befriedigt, fuhr er fort zu fragen: »Reicht Jesu Blut auch hin, zwei Mordtaten zu sühnen?« – »Auch zwei Mordtaten sühnt Jesu Blut«, antwortete der Missionar. »Ach«, sprach der Arme weiter, »entschuldige, noch einmal muß ich dich fragen: Reicht Jesu Blut auch hin, drei Mordtaten zu sühnen?« Nachdem der Missionar einige Minuten schweigend vor sich hin geschaut hatte, sagte er mit innerer Bewegung: »Auch für drei Mordtaten reicht Jesu Blut hin.« Der Heide, von der Antwort des Missionars tief ergriffen, fuhr nach einigen Augenblicken fort: »Verzeihe Massa, ich muß noch einmal reden: Reicht Jesu Blut auch hin, zwanzig Mordtaten zu sühnen?« Nunmehr wurde es dem Missionar sehr schwer, ihm zu antworten. Doch, gestützt auf Gottes Wort, konnte er ihm sagen, daß Jesu Blut auch imstande sei, zwanzig Mordtaten zu sühnen. Unter einem Strom von Tränen bekannte er nun dem Missionar, daß er zwanzig unschuldige Menschen hingemordet habe, daß er zwanzig Mordtaten auf dem Gewissen habe. Nach kurzem Schweigen fragte er noch einmal: »Darf ich denn wirklich auf Vergebung und Frieden hoffen? Darf ich denn gewiß von heute an meiner Schuld los sein? Gern will ich mich dem Gericht stellen und den Lohn für meine Taten empfangen, wenn ich nur Ruhe finde für mein Gewissen.« Nachdem der Missionar ihm noch einmal versichert hatte, daß Jesu Blut völlig hinreiche, seine Schuld zu sühnen, daß ja auch der Schächer, der den Kreuzestod verdient habe, mit Jesus ins Paradies gegangen sei, konnte er dies fassen und glauben und fand Frieden in Jesu Blut. Mit glücklichem Herzen ging er nun hin und lieferte sich dem Gericht aus und bekannte seine Schuld. Er wurde zum Tode verurteilt; aber er starb mit vollem Vertrauen auf die sühnende Macht des Blutes Jesu.

Das am Kreuz vergossene Blut, und das allein reicht hin, dem Gewissen Ruhe und der Seele Frieden und dem Herzen Trost zu geben. Ein katholischer Priester erzählt: »Ich hatte einst als Gefängnisgeistlicher die Aufgabe, einen Mörder auf seinen Gang zum Schafott vorzubereiten. Aber das war für mich nicht leicht. Denn als der Mann sein Todesurteil vernommen hatte, brach er zusammen. Eine furchtbare Seelenangst bemächtigte sich seiner. Ich suchte ihn zu trösten und aufzurichten und der Vergebung zu vergewissern, indem ich ihm alle die durch die Kirche mir zur Verfügung stehenden Gnadenmittel zuteil werden ließ. Aber alles war vergeblich. Er konnte keinen Trost und keine Hoffnung fassen und hatte auf alle meine Bemühungen nur immer die Frage: „Haben sie nicht noch etwas anderes?“ Ich hatte in Wahrheit nichts anderes und kam dadurch in große innere Not. Es schien, als ob sich die Seelenangst und Trostlosigkeit des Verurteilten auch auf mich legen wollte. In dieser Not schrie ich zu Gott um einen Ausweg und um ein Mittel, das dem Trostlosen helfen möchte. Als ich nun eines Tages über die Straße ging, sah ich im Straßenkot ein zerrissenes Blättchen, auf dem die Aufschrift zu lesen war: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“ Wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke: Das ist das „Etwas“, was mein Pflegling im Gefängnis sucht. Ich hob das Blatt auf, eilte damit ins Gefängnis und sagte ihm: „Hier habe ich noch etwas!“ Und während ich ihm diesen Spruch vorlas, rief er mit bewegter Stimme: „Das ist es! Das ist es!“ Ich durfte ihm von nun an nichts anderes mehr sagen als diesen Vers. Und als wir auf dem Weg zum Schafott waren, bat er mich, ihm nichts anderes zu sagen als diese Worte: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“«

Wer bist Du, lieber Leser? Bist Du eine von den beladenen, zagenden Seelen? Ich bitte Dich, komm unter das Kreuz und sieh auf zu dem blutigen Mann! Sieh, wie Er sterbend seine Hände ausbreitet nach Dir! Sieh, wie Ihm sein Herz bricht um Dich! O ich zweifle nicht daran, wenn Du so unter dem Kreuz stehst, wenn Du Ihn so betrachtest, daß in Dir der Glaube und das felsenfeste Vertrauen aufgeht wie die alle Nebel verscheuchende Sonne, und Du mit voller Glaubenszuversicht ausrufst: »O, ich kann auf Ihn vertrauen. Er ist meines vollen Vertrauens wert! Ja, wenn ich hundert Seelen hätte, ich könnte mit allen auf ihn trauen. Denn solch ein Heiland kann selig machen aufs völligste, die durch Ihn zu Gott kommen« (Hebräer 7, 25).

Noch eins sehe ich unter dem Kreuz, nämlich

5.

Wie furchtbar es ist, im Angesicht
des Kreuzes in seinen Sünden
zu beharren und verlorenzugehen

wie der eine Schächer. Beide hatten vielleicht miteinander geraubt und gemordet. Beide kamen miteinander ins Gefängnis. Beide wurden miteinander verurteilt zum Kreuzestod. Beide kamen auch miteinander ans Kreuz. Beiden war hier das Heil gleich nahe. – Da war kein Unterschied! Aber welch ein Unterschied nun! Angesichts des Gekreuzigten tut der eine Buße und sucht eilend Rettung und findet sie, während der andere nicht bereit zur Buße ist und in seiner Verstockung lästert und in seinen Sünden verharrt und so verlorengeht. Kein Unterschied im Leben! Aber welch ein Unterschied im Sterben: Der eine gerettet, der andere verloren! Der eine geht ins Paradies, der andere in die Hölle! Der eine steigt mit Christus auf zu seinem Vater, um mit den Cherubim und Seraphim den dreimal Heiligen anzubeten und Ihm Lob darzubringen und mit den Seligen das Lamm und sein Blut zu rühmen; der andere steigt hinab zu dem Fürsten der Finsternis und des Todes, zu dem Menschenmörder, wo er mit Heulen und Zähneknirschen und höllischem Spott empfangen wird, und wo er mit den Feigen und Ungläubigen und mit Greuel Befleckten und Mördern und Hurern und Zauberern und Götzendienern und allen Lügnern seinen Teil hat im Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt (Offenbarung 21, 8). O welch ein Unterschied!

Man erzählt, daß auf dem Kirchhof in Venedig zwei Grabsteine nebeneinander stehen, die in Form und Aufschrift einander ganz ähnlich sind, sich aber doch durch einen Buchstaben in der Aufschrift unterscheiden. Auf dem einen steht geschrieben: »Vergeben!« Hier ruht die Hülle einer Seele, die mit der Gewißheit in jene Welt gegangen ist, und die mit der frohen Hoffnung auferstehen wird: »Vergeben!« Auf dem anderen Stein ist dasselbe, nur um einen Buchstaben verlängerte Wort zu lesen: »Vergebens!« Hier wartet der Leib eines Menschen der Auferstehung entgegen, der mit dem Schrei der Verzweiflung diese Erde verlassen hat, und mit dem Schrei am Jüngsten Tag auferstehen wird: »Vergebens!« Tausende, ja Millionen sehen wir in unserer Christenheit leben und sterben, über deren Leben und Sterben die furchtbaren Worte geschrieben stehen: »Vergebens, vergebens!«

Teurer Leser, was steht über Deiner Vergangenheit geschrieben und was kann man Dir einmal auf den Grabstein schreiben: Vergeben? Oder: Vergebens? Vergebens, daß Jesus für Dich starb – vergebens, daß Dich Gott so manchmal warnte, strafte, segnete und Dich mit Liebe und Zucht durch seinen Vaterzug zum Kreuz ziehen wollte – vergebens, daß Dir Gott eine betende Mutter, eine betende Frau gegeben hat, die ohne Unterlaß um Deine Bekehrung flehte? O was für eine Hölle muß der haben, der alle diese Gaben verachtet, der den Sohn Gottes mit Füßen getreten, der das Blut Jesu unrein geachtet, durch welches er erkauft ist, der den Geist der Gnade geschmäht, und der sich durch ein betendes Herz hindurch einen Weg in die Hölle bahnte! Wahrlich, er versinkt in die tiefsten Tiefen! Es gibt Grade in der Qual der Hölle; aber der höchste Grad wird für den aufbewahrt, sagt ein Gottesmann, der über die Gebete seiner Mutter in die Verdammnis springt.

Man hat mir schon oft gesagt: »Warum gehen sie nicht zu den Heiden, um dort zu missionieren?« Meine Antwort ist gewöhnlich die: »Wenn ihr mir sagen könnt, daß ein unbekehrter Heide schlimmer dran ist, als ein unbekehrter Christ, der im Angesicht des Kreuzes sündigt und verlorengeht, dann gehe ich augenblicklich zu den Heiden.«

Willst Du im Angesicht des Kreuzes in Deinen Sünden beharren und verlorengehen? Wäre es nicht besser, Du stürbest wie ein Verbrecher im Kerker oder wie ein Tier im Graben, als daß Du in Deinen Sünden stirbst? Denn Deine Sünden werden nicht, wie die Schulden eines Verbrechers, mit dem Tod ausgetilgt, nein, sie gehen mit Dir vor das Gericht, um dort Deine Ankläger zu werden; sie gehen sogar mit Dir zur Hölle, um dort Deine Peiniger zu sein. Willst Du nicht Erbarmen mit Dir haben? Würde es Dir nicht das Herz zerreißen, wenn Du eine Menge armer Geschöpfe sich abmühen und abarbeiten sähest, um Holz zu ihrem eigenen Scheiterhaufen zusammenzuschleppen? Das aber ist der Arbeit der Knechte der Sünde. Sie tragen Holz zusammen zu dem Feuer, das sie verzehren soll, und gießen Öl in die Flammen, die sie brennen sollen. – Willst Du ein Feuerbrand für die Hölle werden? Vermagst Du bei der ewigen Glut zu wohnen, wo Du wie ein glühendes Eisen im Ofen sein wirst, wo Dein Leib und Deine Seele von den brennenden Racheflammen Gottes ergriffen werden wie Eisen im heißen Schmelzofen? Wie wird Dir sein, wenn Du fühlen mußt, was Du jetzt liesest?

Darum, was verziehst Du, zu dem zu kommen, der Deine Seele zu erretten vermag von den Tiefen der Hölle? Was hält Dich zurück vom Glauben an den Gekreuzigten? Was zögerst Du mit Deiner Hingabe an den Herrn, der Dich mit Blut erkauft hat? Treffe heute, treffe jetzt Deine Entscheidung! An dem Kreuz kommt man nicht vorüber, ohne sich zu entscheiden, weil jeder schuldig ist am Tod des Gekreuzigten. Du wartest mit Deiner Entscheidung, aber wisse: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Kürzlich fragte ich einen jungen Mann, der jahrelang das Wort vom Kreuz gehört hat: »Haben sie Vergebung der Sünden?« Er sagte mir: »Ich kann nicht glauben.« Ich sagte ihm: »Sie müssen die Wahrheit sagen. „Ich kann nicht glauben“ ist eine Lüge; denn kein Mensch kann einen Tag existieren, ohne zu glauben. Man kann nicht essen ohne Glauben, nicht auf der Eisenbahn fahren ohne Glauben, keinen Brief an einen entfernten Freund schreiben ohne Glauben. Wenn sie die Wahrheit reden wollen, müssen sie sagen: „Ich kann Gott nicht glauben. Ich kann allen glauben, nur Gott nicht.“« Er sah nun ein, wie schändlich es sei, allen zu glauben, nur Gott nicht; aber zu gleicher Zeit hatte er ein neues Wort und sagte: »Ich kann mich nicht entschließen.« – »So«, sagte ich, »Sie können sich nicht für Gott entschließen? Denken sie sich, ein Mensch hätte sich so schwer an ihnen verschuldet, daß er, falls sie ihn zur Anzeige bringen würden, viele Jahre ins Gefängnis müßte. Aber weil sie sein Unglück nicht wollten, gingen sie hin, ihm zu sagen: „Freund, hier ist meine Hand, ich will dir alles vergeben“; der Schuldige aber würde beide Hände in seiner Tasche lassen und sagen: „Ich kann mich nicht entschließen“. Was würden sie von diesem Mann denken? Sehen sie, dieser Mann sind sie. Gott steht vor ihnen und bietet ihnen seine Hand zur Versöhnung an, aber sie sagen: „Ich kann mich nicht entschließen.“« – Leser, bist Du einer von denen, die Gott nicht glauben und die sich nicht für Gott entschließen können, die an der ausgestreckten Versöhnungshand kalt vorübergehen?

Andere sagen: »Ich könnte mich wohl für Gott entschließen, wenn ich genug Glauben hätte.« So kam einmal ein Jüngling zu mir und sagte: »Ich wollte mich auch gern bekehren, aber ich habe so einen schwachen Glauben.« Ich antwortete ihm: »Lieber Jüngling, glaube mit dem Glauben, den du hast, wenn er auch noch schwach ist. Man kann ja auch mit einer zitternden Hand eine goldene Gabe empfangen.« Er streckte seine schwache, zitternde Glaubenshand aus und empfing aus Jesu Hand die Vergebung der Sünden. Es kam bei ihm nicht auf den großen Glauben an, sondern auf den großen Heiland.

Noch andere sagen: »O ich wollte gern meine Sünden loswerden, wenn ich nur wüßte, wie ich es machen sollte.« Ich fragte einen katholischen jungen Mann, ob er auch Sünden habe. »Ja«, war seine Antwort. Ich fragte weiter: »Was machen sie denn mit ihren Sünden?« Schnell war seine Antwort: »Ich bringe sie dem Priester.« Weiter fragte ich: »Was macht denn der Priester damit?« – »Der bittet sie ab«, war seine Antwort. »Ja«, sagte ich, »kann der das?«, worauf er sogleich erwiderte: »Wir haben zwei Priester in unserem Dorf.« Ich fragte ihn noch einmal: »Glauben sie denn, daß diese zwei Priester ihre Sünden abbitten können?« – »Fest konnte ich es noch nie glauben«, war seine Entgegnung. »Ach«, sagte ich, »ich will ihnen aus der Bibel sagen, wie sie ihre Sünden loswerden können. Wir lesen in Jesaja 53, daß Gott unser aller Sünden auf seinen Sohn geworfen hat, und zwar schon vor 1900 Jahren am Kreuz. Machen sie jetzt mit ihren Sünden, was Gott damit gemacht hat. Nicht die Hände der Priester, sondern die Schultern Jesu sind der Platz, den Gott unseren Sünden gegeben hat. Nicht der Priester, sondern Gott kann Sünde vergeben. In Kolosser 2 lesen wir, daß Gott uns die Vergebung der Sünden anbietet als Geschenk, und ein Geschenk kann man nur umsonst annehmen und wird unser eigen, sobald wir „Danke“ gesagt haben.«

Oder bist Du einer von denen, welchen der Gekreuzigte eine Torheit ist? Bist Du einer von denen, die nicht unter dem Kreuz, sondern über dem Kreuz stehen? O laß nur die Stunde kommen, wo alles real und wahr vor Deine Seele tritt, die Stunde, wo Du den großen Schritt aus der Zeit in die Ewigkeit machen mußt, die Stunde, wo Dir alles unter den Händen zerrinnt und wo Deine Liebsten von Dir fliehen und Du allein übrigbleibst! Was ist dann Dein Halt? Was bleibt Dir, wenn Du den Glauben an den Gekreuzigten nicht hast? Ein vom Schlafpulver des Unglaubens betäubtes Gewissen, das im Angesicht des Todes seine Rechte nur um so geltender macht, eine traurige Hoffnungslosigkeit und finstere Verzweiflung im Angesicht der Ewigkeit. Ohne Christus, der für unsere Sünden starb – und nachdem Er gestorben, wieder auferstanden ist –, hat der Glaube keinen Halt, das Gewissen keine Ruhe, die Hoffnung keine Fernsicht, und der Mensch kennt weder sich noch Gott. Ist Trost, ist Kraft, ist Gewißheit, ist Wahrheit in solcher Religion? Nein! Und wie arm, unsicher und unwissend solche Leute sind, denen das Kreuz eine Torheit ist, beweist folgender Fall, der ein Beispiel von Tausenden ist. Der bekannte Dr. Fletcher wurde einst an das Sterbebett eines Ungläubigen gerufen. Fletcher fragte: »Nun sagen sie mir doch, was sie von Jesus Christus halten?« – »Ei«, erwiderte er, »ich glaube ja, daß solch ein Mann gelebt hat, und ich halte ihn auch für einen sehr guten und wahrhaftigen Menschen; das ist aber auch alles.« – »Dann glauben sie also, daß Jesus Christus ein wahrhaft guter Mensch war. Nun, meinen sie denn, daß ein guter Mensch andere betrügen möchte, oder daß ein wahrheitsliebender Mensch eine Sprache führen möchte, durch die andere irregeleitet werden, und zwar gerade in den allerwichtigsten Lebensfragen?« – »Das natürlich nicht«, erwiderte der Ungläubige. Da sagte Dr. Fletcher: »Ja, wenn er also ein guter Mensch war, wie sie zugeben, wie stimmt denn das damit, daß Er sagte: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10, 30)? Und als die Juden Steine aufhoben, um ihn zu töten, da widerrief Er es dennoch nicht, sondern behauptete auch ferner seine Gottheit. Schon zuvor sagte Er: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben“ (Johannes 10, 27.28). Könnte ein Mensch oder auch ein Engel, ja der höchste Engel, so reden?« – »Halten sie ein!« rief der sterbende Mann mit erregter Stimme, »halten sie ein; so habe ich es noch nie betrachtet. Es geht mir ein ganz neues Licht auf; sagen sie nichts weiter! Ich muß erst einmal darüber nachdenken.« Dann hielt er seine Hand in die Höhe, als fürchtete er, selbst ein Hauch könnte ihm das neue Licht, das in seiner finsteren Seele dämmerte, wieder verdunkeln; sein Gesicht hellte sich auf und zeigte einen unbeschreiblichen Ausdruck, halb Erstaunen, halb Freude. Scharf waren seine Augen auf Dr. Fletcher gerichtet, und nach einer kurzen Pause, während ihm große Tränen seine Augen füllten, rief er: »Herr Fletcher, sie sind ein Bote der Gnade Gottes, Er hat sie zu mir geschickt, damit meine Seele gerettet würde! Ja, Christus ist Gott, und Er starb für Sünder, ja, auch für mich!«

O Tag des Heils, o neues Leben!
Es müsse mir, vergeß’ ich dein,
Die Zung’ an meinem Gaumen kleben,
Mein müsse selbst vergessen sein!
Mir ist Erbarmung widerfahren!
Gern will ich, was die Wonne spricht,
In stillem Herzen still bewahren;
Nur Ihm verstumm, o Seele, nicht!

Lobsinge, preis, o meine Seele,
Rühm Ihn und bete dankvoll an!
Vergiß es nicht, mein Herz, erzähle,
Was Gottes Gnad’ an dir getan!
Verloren war ich, tief verloren,
Kalt war ich, tot, ach tot für Ihn;
Nun hat Er selbst mich neugeboren,
Nun soll Ihm meine Liebe glüh’n!

O Stunde, da mit off ’nen Armen
Mein Retter mir entgegenkam!
O Stunde, da mich sein Erbarmen
In seine Liebesarme nahm!
Da hat die Tröstung seines Mundes
Mich bis in jene Welt entzückt
Und mir ein Siegel ew’gen Bundes
Ins Herz und Leben eingedrückt.

Und tränk’ ich auch in vollen Zügen
Der Erde Lust, des Lebens Glück:
Es kann der Seele nicht genügen;
Mir blieb ein leeres Herz zurück.
Was wär’ ich ohne deinen Frieden?
Nichts g’nügt dem Herzen, nichts hienieden
Und dort im Himmel nichts als du.

An dich soll sich mein Glaube halten
Im Sturm der Welt, im Sonnenschein,
Und bis die Lippen mir erkalten,
Sollst du mein Lied, mein Alles sein.
Und bin ich dann dem Staub enthoben,
Mit aller Himmel Lobgetön
Will ich dich ewig, ewig loben
Und deines Kreuzes Ruhm erhöh’n.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/s/steinberger/steinberger-komm_zum_kreuz.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain